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Ein "einstellungsreifes" Verfahren

NSU-Prozeß: Zeuge André Kapke soll Beschuldigtenstatus verlieren. Aussageverweigerung möglich

Von Claudia Wangerin *

Der Name André Kapke fällt häufig im Zusammenhang mit dem von Ralf Wohlleben, der zur Zeit im Münchner Prozeß um die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht steht. Kapke soll dort am morgigen Mittwoch als Zeuge vernommen werden. »Unbegreiflich« nennt es Nebenklageanwältin Gül Pinar, daß er nicht auf der Anklagebank sitzt. Mit Wohlleben und dem mutmaßlichen NSU-Kerntrio verband den heute 38jährigen mehr als eine private Freundschaft. Von Kapke und Wohlleben wurde der Mitangeklagte Carsten S. nach eigener Aussage Ende der 1990er Jahre als Kurier und Helfer für die drei untergetauchten Neonazis Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe ausgesucht. Kapke und Wohlleben sollen dem damals gerade erst volljährigen Carsten S. gesagt haben, sie selbst würden überwacht. Die beiden älteren Kameraden waren nach Aussage einer früheren Mitstreiterin »die krankesten Hirne« und hätten »einen fertiggemacht«. »Wenn man mal einen Döner gegessen hat, mußte man zehn Liegestütze machen und wurde dabei ausgepeitscht«, heißt es in dem Vernehmungsprotokoll. Laut Carsten S. besprach aber nur Wohlleben mit ihm die Beschaffung einer scharfen Waffe.

Im August 1998 – rund sieben Monate nach dem Untertauchen des Trios – wurde Kapke 23 Jahre alt. Gesinnungsfreunde hatten für ihn eine »Geburtstagszeitung« erstellt, die später bei einer Durchsuchung gefunden wurde. Das Machwerk enthält nicht nur »lustige« Artikel über die Umfunktionierung der KZ-Gedenkstätte Buchenwald in eine Gastankstelle oder vermeintliche Heldentaten seines Freundes Wohlleben, sondern auch Lobhudeleien über die drei Untergetauchten. Zudem findet sich in der »Zeitung« eine »Todesliste«, auf der auch der Name Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, auftaucht.

Nebenklageanwalt Peer Stolle hat Mitte Oktober beantragt, die »Geburtstagspost« vor dem Oberlandesgericht München verlesen zu lassen – zum Beweis der These, daß mehr als drei Personen im »Thüringer Heimatschutz« bereit waren, »sich zur Durchsetzung ihrer ideologischen Ziele terroristischer Mittel bis hin zum Mord zu bedienen«. Laut Anklageschrift hatte der NSU nur drei Mitglieder. Beate Zschäpe gilt nach dem Tod von Mundlos und Böhnhardt im November 2011 als einzige Überlebende der terroristischen Vereinigung. Die übrigen vier Angeklagten im NSU-Prozeß waren demnach Helfer oder Unterstützer.

Zu den bisher nicht angeklagten Beschuldigten zählt André Kapke, über den es in Teilen der rechten Szene das Gerücht gibt, er arbeite für den Verfassungsschutz. Oberstaatsanwalt Jochen Weingarten bezeichnete das Ermittlungsverfahren gegen ihn vergangene Woche als »einstellungsreif«. Warum es noch nicht eingestellt wurde, ließ Weingarten offen. Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft (BAW) versicherte am Montag gegenüber junge Welt, daß ein einstellungsreifes, aber noch laufendes Ermittlungsverfahren keine Einladung zur Aussageverweigerung nach Paragraph 55 sei. Demnach können Zeugen die Aussage verweigern, wenn sie sich durch wahrheitsgemäße Angaben selbst belasten könnten. Auch ein eingestelltes Verfahren könne jederzeit wiederaufgenommen werden, so der BAW-Sprecher. Im Fall Kapkes habe sich aber eine »unverdächtige« Erklärung für den Funkzellentreffer ergeben, der zur Einleitung des Verfahrens geführt habe. Am 4. November 2011 war sein Handy in einer Funkzelle unweit des Wohnmobils in Eisenach eingeloggt, in dem Mundlos und Böhnhardt nach einem Banküberfall Selbstmord begangen haben sollen. Kapkes Unterstützungshandlungen um die Jahrtausendwende seien dagegen verjährt, sofern keine Beihilfe zum Mord nachgewiesen werden könne. Heute soll die Mutter von Uwe Böhnhardt als Zeugin aussagen

* Aus: junge Welt, Dienstag, 19. November 2013


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