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Wechselnde Fronten

Im NSU-Prozeß können sich Nebenklage und Verteidigung nicht immer widersprechen, wenn es um das Verhältnis staatlicher Akteure zum Neonaziterror geht

Von Claudia Wangerin, München *

Es geht hier um eine rassistische Mordserie, zwei Sprengstoffanschläge mit über 20 Verletzten und mehrere Mordversuche. Das läßt die Atmosphäre im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München nicht immer erahnen. »Kindergarten«, wurde in der zweiten Verhandlungswoche im Prozeß gegen eine mutmaßliche Mitbegründerin des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) und vier mutmaßliche Terrorhelfer auf der Pressetribüne geraunt. »Ungehörig« fand Bundesanwalt Herbert Diemer das Verhalten von Rechtsanwalt Wolfgang Heer. Die Wortgefechte zwischen Heer, der mit seinen Kollegen Wolfgang Stahl und Anja Sturm die Hauptangeklagte Beate Zschäpe verteidigt, und dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl haben für zahlreiche Verzögerungen gesorgt. Heer will häufig das erste Wort haben, Götzl hat immer das letzte. Der Richter will erst hören, worum es geht, bevor er jemandem das Wort erteilt. Darf sich zuerst eine Nebenklagevertreterin äußern, sagt Heer Sätze wie: »Ich beanstande, daß Sie der Kollegin Lunne­bach das Wort erteilen.« Seine Reaktion auf Lachen im Saal: »Der Vorsitzende möge sämtliche Verfahrensbeteiligte zur Sachlichkeit anhalten«. Heers Kollege Stahl zog sogar einmal aus Protest die Robe aus. Das Gericht schmetterte mehrere Anträge der Verteidiger ab – auch einen, in dem es um die Reihenfolge der Worterteilung ging. Wer wann reden darf, bestimmt – situationsbedingt – der Richter. Daraufhin verlief der vierte Prozeßtag am vergangenen Donnerstag deutlich ruhiger.

»Partielle Identität«

Heer, Stahl und Sturm – soweit bekannt, bürgerliche Demokraten – hatten zudem eine Aussetzung des Verfahrens beantragt, hilfsweise aber zumindest eine Unterbrechung für drei Wochen. Sie benötigen Zeit, um Akten der Landesstaatsanwaltschaften und Protokolle der Untersuchungsausschüsse zum Neonaziterror in Thüringen, Sachsen, Bayern und dem Bund einzusehen – auch solche von nichtöffentlichen Sitzungen, in denen Geheimdienstmitarbeiter vernommen wurden. Kopien sollten ihnen überstellt werden, die Kenntnis dieser Mitschriften sei für die Verteidigung unabdingbar. Es gebe eine »partielle Identität« der Untersuchungsgegenstände des Strafverfahrens und der Ausschüsse, argumentierte Stahl. Bundesanwalt Diemer bewertet das grundlegend anders: Die Dokumente seien für die »Schuld- und Straffrage« in diesem Prozeß unerheblich. Weil der Bundesanwalt dem Gericht nicht alle Akten zur Verfügung gestellt habe, beantragten Zschäpes Verteidiger seine Ablösung – wegen Mangel an Objektivität. Eine Ablehnung aus diesem Grund, erklärte Diemer am Donnerstag abend, sei vom Gesetz einfach nicht vorgesehen.

Manche der über 50 Nebenklagevertreter äußern Verständnis für das Anliegen der Verteidiger, die Protokolle einzusehen. Rechtsanwalt Yavuz Narin, der Angehörige des 2005 in München erschossenen Theodoros Boulgarides vertritt, schloß sich dem Antrag sogar in Teilen an – mit der Maßgabe, daß für das Aktenstudium keine Aussetzung, sondern allenfalls eine Unterbrechung für drei Wochen gefordert werde. Der Prozeß soll ohnehin erst am 4. Juni fortsetzt werden.

Kein homogener Block

Während die Mitangeklagten Ralf Wohlleben und André Eminger nach wie vor als überzeugte Neonazis gelten und im Prozeß vorerst schweigen wollen, sind Holger Gerlach und Carsten Schultze aussagebereit. Sie sitzen auf der Anklagebank, befinden sich aber in Zeugenschutzprogrammen.

Beate Zschäpe schweigt ebenfalls. Heer, Stahl und Sturm wollen den Vorwurf zurückweisen, ihre Mandantin habe mit den inzwischen toten Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gemeinschaftlich die Morde und Anschläge geplant.

Wohllebens Anwälte Nicole Schneiders und Olaf Klemke beklagen sich einerseits bitter über den Vorwurf, selber rechtsextrem zu sein, sprechen aber auch von einer »Vorverurteilung« der Szene. Zwar würde jeder Strafverteidiger auf das Wort »mutmaßlich« pochen, wenn sein Mandant in den Medien als »Terrorhelfer« bezeichnet wird – aber nach Lesart von Schneiders und Klemke ist es sogar noch verfrüht, die angeklagten Straftaten als »rassistische Verbrechen« zu bezeichnen. Im November 2011 – über zehn Jahre nach Beginn der Mordserie an neun Männern türkischer, kurdischer und griechischer Herkunft – wurde die gesuchte Ceska-Pistole im Brandschutt der Wohnung der untergetauchten Neonazis gefunden. Im Bekennervideo tauchte das Kürzel NSU nicht zum ersten Mal auf, sondern bereits 2002 im Szenemagazin Der Weiße Wolf: »Vielen Dank an den NSU, es hat Früchte getragen.« Frau Schneiders findet es trotzdem nicht fair, daß Neonazis beschuldigt werden. Sie will die »Auffindesituation« der Waffe klären, bevor Angehörige der Opfer finanziell »entschädigt« werden.

Wink mit dem Zaunpfahl

In einem Rundumschlag am dritten Prozeßtag forderte Schneiders, die Wohlleben noch aus früheren Tagen im NPD-Kreisvorstand Jena kennt, zunächst eine Aussetzung des Verfahrens wegen Unvollständigkeit der Akten. Unter anderem fehle Material über den Aufenthalt von Beate Zschäpe im Jenaer Polizeirevier am 8. November 2011. Es werde »gemunkelt«, daß Zschäpe dort von Beamten des Verfassungsschutzes aufgesucht worden sei, nachdem sie sich gestellt habe. Direkt im Anschluß beantragte Schneiders die Einstellung des Verfahrens gegen Wohlleben. Wegen der »Vorverurteilung«, aber auch wegen geheimdienstlicher Verstrickungen in die Straftaten sei ein fairer Prozeß nicht mehr möglich. Dabei bezog sie sich unter anderem auf den Untersuchungsausschuß des Bundestags, der »immer neue erschreckende Details« zutage fördere. Letzterem kann die Nebenklage kaum widersprechen. Wohlleben ist allerdings wegen Beihilfe zum mehrfachen Mord angeklagt. Geheimdienstliche Verwicklungen seien kein Einstellungsgrund, so Gül Pinar, Anwältin der Familie des NSU-Opfers Süleyman Tasköprü. »Fakt ist aber, daß wir alle wissen, daß es diese Verwicklungen gegeben hat.« Edith Lunnebach, deren Mandantin durch einen NSU-Sprengsatz schwer verletzt wurde, warf die Frage auf, warum Wohlleben denn nicht aussagen wolle, wenn die mögliche Rolle der Geheimdienste Teil seiner Verteidigungsstrategie sei. Ein Wink mit dem Zaunpfahl: An »einen Wohlleben« auf einer Liste mit Klarnamen von V-Leuten des Verfassungsschutzes hatte sich im Untersuchungsausschuß ein Bundesanwalt erinnert, der 2003 mit dem ersten NPD-Verbotsantrag befaßt war.

* junge Welt, Dienstag, 21. Mai 2013


Eine Harte Probe

Emotionen und Rechte im NSU-Verfahren

Von Claudia Wangerin **


Der Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) stellt Linke, Humanisten und Antifaschisten auf eine harte Probe: Da werden Angehörige der Opfer – die schon Jahre warten mußten, bis sie selbst nicht mehr verdächtigt wurden, »Milieustraftaten« oder Eifersuchtsmorde begangen zu haben –, zunächst mit wortreichen Anträgen der Verteidigung konfrontiert. Mit Verzögerungen, die es ihnen erschweren, bei wichtigen Vernehmungen dabei zu sein. Da greift ein Richter Götzl so durch, wie er es dem Vernehmen nach seine Art ist, auch wenn keine Neonazis vor Gericht stehen und weniger menschenverachtende Taten angeklagt sind. Es ist nicht anzunehmen, daß die Basta-Politik des Law-and-Order-Mannes in diesem Fall nur mit Empathie für die Opferfamilien zu tun hat. Wer sich in sie hineinversetzt, findet es trotzdem spontan nur gerecht, wenn Götzl nach einer kurzen Unterbrechung sagt: »Dann ergeht nach geheimer Beratung folgender Beschluß: Die Anordnung, Rechtsanwalt Heer das Wort nicht zu erteilen, wird bestätigt.«

Mehrere Anträge der Verteidigung wurden mit knappen Begründungen abgeschmettert – nicht alle dieser Anträge waren unverschämt oder unbegründet. So wurde etwa der Antrag, die Hauptverhandlung aufzuzeichnen, um den genauen Wortlaut zu dokumentieren, auch von erfahrenen Anwälten der Nebenklage unterstützt. Bisher wird in Prozessen wie diesen laut Gesetz nur ein Ergebnisprotokoll mit Zusammenfassungen der Aussagen geführt. So kann es am Ende passieren, daß über den Wortlaut wichtiger Aussagen gestritten wird. Bundesanwalt Herbert Diemer meinte dagegen, die Wahrheitsfindung wäre durch eine Aufzeichnung beeinträchtigt, weil diese die Unbefangenheit der Zeugen gefährde. Hat er automatisch Recht, nur weil die Antragsteller mutmaßliche Neonaziterroristen verteidigen?

Emotionen stehen hier oft im Widerspruch zur eigenen demokratischen Haltung zu den Strafverteidigerrechten, die nicht davon abhängen dürfen, wieviel bereits vor der Beweisaufnahme gegen ihre Mandanten spricht. Wer im Fall der NSU-Mordserie will, daß eines Tages alle Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, muß es womöglich sogar ertragen, wenn die Verteidiger von Neonazis geltend machen, daß die Schuld ihrer Mandanten sich durch Tatbeiträge von Dritten verringert.

** junge Welt, Dienstag, 21. Mai 2013


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