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Fiktive Dunkelmänner

Zeugenaussagen sind oft unpräzise. Doch Vernehmungen zum NSU-Mord an einem Münchner Händler lassen Verdacht auf manipulierte Protokolle aufkommen

Von Sebastian Carlens, München *

Das menschliche Gedächtnis ist eine rätselhafte Sache: Die Erinnerung an zeitliche Abläufe, auch an optische oder akustische Eindrücke ändert sich, je länger ein Ereignis zurückliegt. Die Wahrnehmung ist, gerade in Streßsituationen, höchst subjektiv – vor Gericht ist das bekannt, Zeugenaussagen gelten deshalb als schwacher Beweis. Vor dem Münchner Oberlandesgericht (OLG), das die Taten des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) verhandelt, sagten am Mittwoch Zeugen zu einem Mord aus, der mittlerweile zwölf Jahre zurückliegt: Ende August 2001 wurde Habil Kilic, ein Münchner Lebensmittelhändler, in seinem Geschäft in der Bad Schachener Straße erschossen. Zwischen den Aussagen, die die Polizei damals aufnahm, und den Auskünften der Zeugen vor Gericht klaffen teilweise erhebliche Widersprüche.

Doch nicht immer ist die menschliche Psyche Schuld, manchmal kann es auch an Schlampigkeit oder gar an Vorsatz liegen. Eine Anwohnerin, die im August 2001 zwei Männer mit Fahrrädern vor ihrem Fenster diskutieren und dann in Richtung von Kilics Geschäft fahren sah, hatte laut Polizeiprotokoll von 2001 nur Stunden nach ihrer Beobachtung erzählt, beide Männer seien möglicherweise »türkischer Abstammung« gewesen. Eine zweite Vernehmung aus dem Jahr 2005 verzeichnete »Westeuropäer«, am Mittwoch vor Gericht war sich die Frau nun absolut sicher, »Osteuropäer« gesehen zu haben. Das damalige Protokoll sei nicht richtig: »Das habe ich nie gesagt, das kann nicht sein.« Schließlich sei sie als Leiterin in einer Gebäudereinigung tätig gewesen, und da habe man viele Osteuropäer beschäftigt: »Die Hautfarbe, die ist etwas dunkler gewesen, und die hohen Wangenknochen«. Die von ihr beobachteten Männer hätten »nicht so ausgesehen, wie wir uns deutsche Menschen vorstellen«. Auch mit den Pressebildern der mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hätten die Radfahrer keinerlei Ähnlichkeit gehabt: »Das waren die nie, das auf den Bildern, das kann nicht sein.«

Hat die Polizei nachgeholfen und die »türkische Abstammung« selbst ins Protokoll eingefügt, um die Aussage an ein bestehendes Vorurteil, einen vorformulierten Verdacht anzupassen? Oder ist das Gedächtnis der mittlerweile 67jährigen Zeugin nach all den Jahren lückenhaft geworden? Für letzteres sprechen etliche weitere Unklarheiten in ihrer Aussage: So soll sie der Polizei im Jahr 2001 gesagt haben, sie habe nie in Kilics Geschäft eingekauft. Vor Gericht meinte die Frau nun, sie sei dort regelmäßig Kundin gewesen. Auch an ein Headset, das ihr laut Protokoll der damaligen Aussage bei einem der Radfahrer aufgefallen sein will, konnte sie sich nicht mehr erinnern: »Das habe ich nicht gesagt, ich kenne so etwas nicht.« Die Polizei ermittelte in der sogenannten Ceska-Mordserie mit Feuereifer und bevorzugt gegen türkische Migranten, ohne den geringsten Beweis. Wäre der Mord an Habil Kilic aufgeklärt worden, hätten etliche weitere Taten wohl verhindert werden können. Nicht zuletzt deshalb wiegt der Verdacht manipulierter Polizeiprotokolle so schwer.

Habil Kilic, der gemeinsam mit seiner Frau den Laden betrieb und nebenbei noch auf dem Großmarkt Gemüse verkaufte, hatte sich mit Fleiß und Ausdauer ein bescheidenes Auskommen erarbeitet. Der Laden lief gut, seit Frau Kilic eine kalte Theke im Laden betrieb. Am 29. August 2001 fand eine Passantin, die mit ihrem Sohn dort einkaufen wollte, den sterbenden Ladenbesitzer hinter dem Tresen, in einer riesigen Blutlache. Habil Kilic lebte noch, aber ihm konnte nicht mehr geholfen werden. Ihr achtjähriger Sohn habe »hundertprozentig« nichts von der Tat mitbekommen und auch den Sterbenden nicht gesehen, so die Zeugin am Mittwoch vor Gericht. Doch laut Vernehmungsprotokoll von 2001 habe der Anblick des blutüberströmten Mannes ihren Sohn traumatisiert. Sie sei mit ihm beim Kinderarzt gewesen, weil er von einem »blutigen Gesicht träume«, soll die Zeugin damals den Beamten gesagt haben. Auch ein Postbote, der Habil Kilic erste Hilfe leisten wollte, bestätigte die Anwesenheit des Kindes in seiner Aussage vor dem OLG. Heute bestreitet die Zeugin vehement, daß ihr Sohn etwas mitbekommen habe. Auch das ist eine Eigenschaft menschlichen Erinnerns: Traumatische Erfahrungen auszublenden. Um weiterleben zu können.

* Aus: junge Welt, Donnerstag, 1. August 2013


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