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Gefährliche Fixierung

NSU-Prozeß: Die Bundesanwaltschaft bekräftigt ihre Linie, keine Hinweise auf unbekannte Mittäter sehen zu wollen. Dazu passt der Medienrummel um Beate Zschäpe

Von Claudia Wangerin, München *

Massenmedien wie Bild kreierten Schlagzeilen wie »Der Teufel hat sich schick gemacht«, um das Äußere der Hauptbeschuldigten Beate Zschäpe am ersten Verhandlungstag im Münchner Prozeß um die Mord- und Anschlagsserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) zu würdigen. Für inhaltlich am Verfahren Interessierte bekräftigte die Bundesanwaltschaft am Montag abend ihre bisherige Linie.

Die terroristische Vereinigung NSU bestand demnach nur aus drei Personen und ist seit dem Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im November 2011 aufgelöst. Als einzige Überlebende gilt folglich Beate Zschäpe – die Frau mit dem Hosenanzug und der beinahe lässigen Körperhaltung, deren Anwälte am Samstag vor dem Verhandlungsbeginn einen Befangenheitsantrag an das Oberlandesgericht München gefaxt hatten. »Selbstbewußt« wirkte sie auf Oberstaatsanwältin Anette Greger, die sich mit der Strukturermittlung in Sachen NSU befaßt. »Das entspricht unserer Einschätzung und der Beweislage, wie wir ihre Rolle in der Vereinigung bewertet haben«, sagte Greger bei einer Pressekonferenz im Gerichtsgebäude. So sieht es auch Bundesanwalt Herbert Diemer. Laut Anklageschrift war Zschäpe mindestens gleichberechtigt an der Planung von zehn Morden, zwei Sprengstoffanschlägen und mehreren Raubüberfällen beteiligt. Diemer betonte am Montag auf Nachfrage, der NSU sei eine kleine, abgeschottete Gemeinschaft mit einem kleinen Kreis von Unterstützern gewesen. Es gebe keine Hinweise auf eine Verstrickung staatlicher Stellen in die Straftaten – und auch keine Anhaltspunkte für eine Beteiligung ortskundiger Dritter oder anderer Gruppen.

Das sehen sowohl Mitglieder der NSU-Untersuchungsausschüsse in Thüringen, Sachsen, Bayern und dem Bund als auch Anwälte der Nebenklage im Münchner Prozeß völlig anders. Es sei »kaum vorstellbar, daß die Morde in Nürnberg und München ohne Unterstützung von dort ansässigen Personen ausgeführt werden konnten, von denen die Ziele vorher ausgespäht wurden«, sagte etwa die Vertreterin der Grünen im bayerischen Untersuchungsausschuß, Susanna Tausendfreund, Anfang des Jahres dieser Zeitung. Neuere Erkenntnisse haben das eher bestätigt als widerlegt. Der polizeiliche Ermittler Werner Störzer sagte kurz darauf als Zeuge vor dem Ausschuß, beim Nürnberger Mord an dem Änderungsschneider Abdurrahim Özüdogru im Jahr 2001 sei der abgelegene Tatort von außen kaum als Schneiderei erkennbar gewesen, in der jemand gearbeitet habe. So etwas müsse man vorher ausspionieren und Tips von »irgendwelchen Insidern« bekommen.

Edith Lunnebach, Anwältin einer aus dem Iran stammenden Familie, deren Tochter bei einem Sprengstoffanschlag auf ihr Lebensmittelgeschäft schwer verletzt wurde, sagte im Gespräch mit dieser Zeitung, das Geschäft in einer kleinen Nebenstraße in Köln sei von außen gar nicht als Betrieb erkennbar gewesen, in dem Menschen mit Migrationshintergrund arbeiteten. Drei Neonazis mit Wohnsitz in Chemnitz oder Zwickau könnten dieses Anschlagsziel kaum ausgewählt haben. Die Familie wolle wissen, wer aus ihrer Umgebung die Attentäter auf sie aufmerksam gemacht habe.

Seit März ist bekannt, daß dem Untersuchungsausschuß des Bundestags eine interne Liste der Sicherheitsbehörden zuging, die 129 Personen zum »engeren und weiteren Umfeld« des NSU zählt. Darunter auch ein V-Mann des früheren hessischen Verfassungsschützers Andreas Temme, der 2006 beim Kasseler Mord an Halit Yozgat in dessen Internetcafé nachweislich am Tatort war.

Die Fixierung der Massenmedien auf Beate Zschäpe wollen auch die Anwälte der Familie des 2005 in München ermordeten Theordoros Boulgarides nicht unterstützten. Rechtsanwalt Yavuz Narin betonte am Dienstag gegenüber dieser Zeitung, es gebe mit Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger Gerlach und Carsten Schultze bereits in diesem Prozeß noch vier weitere Angeklagte. Aber auch die Rolle staatlicher Akteure müsse weiter untersucht werden. Seine Mandanten seien nicht im Übermaß an Zschäpe interessiert. Der Prozeß wird am 14. Mai fortgesetzt.

* Aus: junge Welt, Mittwoch, 8. Mai 2013


Kritik an erstem Prozesstag

John bemängelt Umgang mit Nebenklägern **

Am Tag nach dem Auftakt des Prozesses gegen Beate Zschäpe und vier Mitangeklagte vor dem Oberlandesgericht in München hat der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Kenan Kolat, am Dienstag ein Register für muslimfeindliche Straftaten gefordert. »Wir haben es in Deutschland immer noch nicht geschafft, muslimfeindliche Straftaten zu registrieren im Gegensatz etwa zu antisemitischen«, sagte Kolat der Nachrichtenagentur AFP vor dem Treffen der Deutschen Islam Konferenz in Berlin.

Vor dem Hintergrund des NSU-Prozesses sagte Kolat, Muslimfeindlichkeit sei »kein neues Problem, kein neues Phänomen«. »Wir haben es in Deutschland mit sogenannter gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu tun. Diese betrifft nicht nur die Muslime, sie betrifft auch Homosexuelle, Juden, Frauen, Sinti und Roma, sozial Schwächere oder Obdachlose«. Muslimfeindlichkeit äußere sich darin, dass Muslime »als minderwertige Menschen angesehen« und »stigmatisiert« würden und dass »Islam mit Terrorismus gleichsetzt« werde.

»Vergraulprogramm«

Nach der Vertagung des Verfahrens auf nächste Woche wegen zweier Befangenheitsanträge der Verteidigung gegen den Vorsitzenden Richter Manfred Götzl sagte Barbara Jahn, die Ombudsfrau für die Hinterbliebenen der NSU-Opfer am Dienstag im Inforadio des RBB: »Das war ein schlechter Auftakt und man könnte auch sagen, indirekt ein ›Vergraulprogramm‹ gegen die vielen Nebenkläger.« John forderte eine Begleitung für die Angehörigen, die als Nebenkläger auftreten. »Die Opfer und die Nebenkläger werden in diesem Prozess nicht in ihrer Rolle gesehen und in ihren Schwierigkeiten gewürdigt«, erklärte sie. »Das ist etwas, das das Gericht gar nicht verstehen kann, weil es darauf nicht vorbereitet ist.«

John kritisierte zudem, dass Götzl kein Wort an die Nebenkläger gerichtet habe, das die Vertagung auf kommende Woche erklärt hätte. Die Angehörigen hätten sämtliche Anstrengungen unternommen, um beim Prozess anwesend zu sein.

Auch das Auftreten der Hauptangeklagten stieß auf Kritik. Die türkische Zeitung »Hürriyet« schrieb, der Verhandlungssaal sei zur Bühne für eine »Show« Zschäpes geworden. In der Zeitung »Habertürk« hieß es, die »Nazi-Braut« Zschäpe habe sich in »Hitler-Pose« gezeigt. Die Zeitung »Sabah« vermerkte, dass Zschäpe im Gerichtssaal Kaugummi gekaut und mit ihren Anwälten gescherzt habe. Die Angehörigen der acht türkischen Mordopfer des NSU hätten den Auftritt teilweise zitternd verfolgt. In der Zeitung »Yeni Safak« war von einer »Frechheit« der Angeklagten die Rede. nd

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 8. Mai 2013


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