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Bitte keine Entschädigung

Angehörige von NSU-Opfern ergreifen bei Trauerfeier das Wort

Von Aert van Riel *

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Angehörige der Opfer der Neonazi-Mordserie um Verzeihung dafür gebeten, dass sie selbst jahrelang von den Ermittlern verdächtigt wurden. Die notwenigen Konsequenzen daraus will sie jedoch nicht ziehen.

Es ist eine Trauerfeier voll tiefer Symbolik. Das Licht der Kronleuchter im Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt ist gedimmt, auf der Bühne brennen zwölf Kerzen - zehn zum Gedenken an die Opfer der NSU-Mordserie, eine für die »bekannten und unbekannten Opfer rechter Gewalt« und eine weitere für die gemeinsame Hoffnung und Zuversicht in eine gute Zukunft. Im Hintergrund spielt das Orchester ein Violinenstück von Johann Sebastian Bach.

Stichwort: Rechter Terror

Fast 13 Jahre lang konnte die Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" mordend und raubend quer durch Deutschland ziehen, ohne dass ihr die Ermittlungsbehörden auf die Spur gekommen waren.

Erst als die Mitglieder Uwe M. und Uwe B. nach einem Banküberfall in Eisenach in einem Wohnmobil Selbstmord begingen, ihre Komplizin Beate Z. die gemeinsame Wohnung in Zwickau in die Luft jagte und sich dann der Polizei stellte, fügten sich die Puzzleteilchen vieler ungelöster Verbrechen plötzlich zu einem größeren Bild zusammen: Die Morde an acht türkischen und einem griechischen Kleingewerbetreibenden haben einen rassistischen Hintergrund und gehen sämtlichst auf das Konto der Gruppe.

Die ist auch verantwortlich für die tödlichen Schüsse auf eine Polizistin in Heilbronn sowie ein Nagelbombenattentat in einem mehrheitlich von MigrantInnen bewohnten Kölner Viertel. Ihre Beteiligung an weiteren Taten wird derzeit geprüft. Eigentlich undenkbar ist, dass die Gruppe so lange ohne breitere Unterstützung durch das rechtsextreme Milieu im Verborgenen operieren konnte.

Erste Festnahmen mutmaßlicher Helfer haben schon stattgefunden. Und zudem stellt sich die Frage: Inwieweit war der Verfasssungschutz mit seinen Fühlern in dier Nazi-Szene über das Treiben der Gruppe informiert? (taz, 24.02.2012)



Als die Musik verstummt, tritt Bundeskanzlerin Angela Merkel an das Rednerpult. Eigentlich hatte Christian Wulff die Hauptrede halten sollen. Doch weil er seit einigen Tagen nicht mehr Bundespräsident ist, wird er von Merkel vertreten. Sie ist, wie alle Anwesenden, ganz in Schwarz gekleidet. Wie von einer Kanzel spricht die Pastorentochter zu ihren rund 1200 Zuhörern. »Ich bitte um Verzeihung«, sagt Merkel in Richtung der Angehörigen der Todesopfer. »Verzeihung dafür, dass sie teils jahrelang unter falschen Verdächtigungen der Sicherheitsbehörden leiden mussten.« Etwas, was nie wieder gut gemacht werden kann.

Die Bundeskanzlerin verspricht Aufklärung, gerechte Strafen für die Täter und Hintermänner sowie »alles dafür zu tun, dass sich so etwas niemals wiederholen kann«. Dafür müssten die Sicherheitsbehörden gestärkt werden. Auch die Rolle der Zivilgesellschaft im Kampf gegen den alltäglichen Rassismus hebt Merkel hervor.

Dass dieser auch unter ihren Parteikollegen in der Union weit verbreitet ist, sagt sie nicht. Möglichkeiten, mit gutem Beispiel gegen Alltagsrassismus in der Politik voranzugehen, hat sie in den vergangenen Jahren jedenfalls viele verpasst. So durfte etwa der heutige Interims-Bundespräsident Horst Seehofer im vergangenen Jahr ankündigen, er werde sich »bis zur letzten Patrone« gegen eine Zuwanderung in die Sozialsysteme sträuben, ohne dafür in der Union an den Pranger gestellt zu werden.

Kein zusätzliches Geld vom Staat haben will Ismail Yozgat. Bei seiner Rede auf Türkisch stockt seine Stimme, als er erzählt, wie sein Sohn Halit in seinen Armen am 6. April 2006 starb, nachdem ihn in einem Kasseler Internetcafé die tödlichen Schüsse trafen. Dafür war Ismail Yozgat vor kurzem von der Bundesregierung materielle Entschädigung angeboten worden. Stattdessen wünscht er sich aber, »dass die Mörder gefasst, dass die Helfershelfer und die Hintermänner aufgedeckt werden«. Zum Gedenken an seinen Sohn will Yozgat, dass die Holländische Straße, in der Halit geboren und ermordet wurde, nach ihm benannt wird. Sein dritter Wunsch ist, dass im Namen der zehn Toten, im Angedenken an sie ein Preis ausgelobt wird. »Wir möchten gerne eine Stiftung gründen und sämtliche Einnahmen spenden für Menschen, die krebskrank sind«, erklärt Yozgat.

Das erste Opfer der Mordserie war Enver Simsek. Der Blumenhändler aus Nürnberg wurde am 9. September 2000 auf offener Straße niedergeschossen. Er starb zwei Tage später im Krankenhaus. Seine Tochter Semiya war damals 14 Jahre alt. Bei der Trauerfeier beschuldigt sie auch die Ermittler. »Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein«, klagt Semiya Simsek. Man habe ihren getöteten Vater des Drogenhandels und anderer Straftaten verdächtigt. Auch Gamze Kubasiks Vater wurde am 4. April 2006 in seinem Kiosk in Dortmund erschossen. Sie hofft auf eine Zukunft, die »von mehr Zusammenhalt geprägt ist«.

Oppositionspolitiker haben die Trauerfeier mit gemischten Gefühlen aufgenommen. Der integrationspolitische Sprecher der Grünen, Memet Kilic, spricht gegenüber »nd« von einer »insgesamt bewegenden Veranstaltung«. »Gut gefallen hat mir, dass die Bundeskanzlerin angesprochen hat, dass Rassismus nicht mit Gewalttaten, sondern mit denjenigen beginnt, die Vorurteile schüren. Dabei habe ich an Thilo Sarrazin gedacht. Auch an Joachim Gauck, der ihn verteidigt hatte«, sagt Kilic. Allerdings habe er aufgrund seiner Erfahrungen im Innenausschuss des Bundestages nicht den Eindruck, dass derzeit alles dafür getan werde, die Neonazi-Morde aufzuklären. Auf einige Fragen zu V-Leuten habe er keine Antwort erhalten. »Der beste Schutz für potenzielle Opfer ist, sie in ihren Rechten zu stärken. Aber das hat Merkel nicht angesprochen. Wir brauchen die doppelte Staatsbürgerschaft, das kommunale Wahlrecht für Nicht-EU-Bürger und eine Vereinfachung der Familienzusammenführung«, fordert Kilic.

Auch Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau kritisiert Teile der Rede von Merkel. Sie hätte bei der bewegenden Trauerfeier deutlich sagen müssen, dass seit 1990 in der Bundesrepublik mehr als 150 Menschen von Neonazis ermordet wurden, sagt die LINKE-Politikerin. »Die Bundesregierung weigert sich bis heute, die Opferzahl nach oben zu korrigieren.« Mit der Anerkennung der zehn NSU-Opfer hat sie ihre Statistik der Todesopfer rechtsextremer Gewalt auf 58 erhöht. Nötig sei eine gesamtgesellschaftliche Strategie gegen Rechtsextremismus, erklärt Pau. Dabei müssten unter anderem Projekte gefördert und die Zivilcourage von Linken gegen Rechts nicht weiter kriminalisiert werden.

* Aus: neues deutschland, 24. Februar 2012


DOKUMENTIERT:


Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei der Gedenkveranstaltung für die Opfer rechtsextremistischer Gewalt

Sehr geehrter Herr Bundesratspräsident,
sehr geehrter Herr Bundestagspräsident,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
Exzellenzen,
sehr geehrte Damen und Herren,
ganz besonders aber: liebe Familien, die Sie einen Angehörigen verloren haben oder selbst einen Anschlag erleben mussten,

ich danke Ihnen, dass Sie heute zu dieser Gedenkveranstaltung gekommen sind.

Auf dem Podest links neben mir brennen Kerzen. Es sind Kerzen für Menschen – für Menschen, deren Leben ausgelöscht wurde, ausgelöscht durch kaltblütigen Mord.

Enver Şimşek. Er wurde 38 Jahre alt und hatte sich, seiner Frau und seinen beiden Kindern in Nürnberg den Traum vom eigenen Blumenhandel erfüllt.

Abdurrahim Özüdoğru. Er half häufiger in einer Änderungsschneiderei in Nürnberg aus. Dort trafen ihn die tödlichen Schüsse. Er wurde 49 Jahre alt und hinterlässt eine Tochter.

Süleyman Taşköprü. Er betrieb in Hamburg einen Gemüsemarkt. Als er im Alter von 31 Jahren starb, war seine Tochter gerade einmal drei Jahre alt.

Habil Kılıç. Wenige Monate vor seinem gewaltsamen Tod im Alter von 38 Jahren hatte er in München zusammen mit seiner Frau ein Lebensmittelgeschäft eröffnet. Die beiden haben eine Tochter.

Mehmet Turgut. Der 25-Jährige war gerade aus Anatolien nach Rostock gekommen. Hoffnungen und Träume begleiteten ihn. Er hatte keine Chance, sie zu verwirklichen.

İsmail Yaşar. Vor allem die Schulkinder der Nürnberger Nachbarschaft kamen häufig und gerne zum Imbiss des Familienvaters. Er wurde 50 Jahre alt und hinterlässt drei Kinder.

TheodorosBoulgarides. Der 41-jährige Vater von zwei Kindern lebte in München und glaubte als Geschäftsmann an seine Zukunft in Deutschland.

Mehmet Kubaşik. Er war mit seiner Frau nach Deutschland gekommen, hatte mit ihr in Dortmund einen Kiosk eröffnet und sich so eine Existenz aufgebaut – für seine Tochter und die beiden jüngeren Söhne. Er wurde 39 Jahre alt.

Halit Yozgat. Der 21-Jährige betrieb in seiner Heimatstadt Kassel ein Internetcafé – bis die Mörder sein junges Leben auslöschten.

Michèle Kiesewetter. Die Polizistin zog für ihre Polizeiausbildung von Thüringen nach Baden-Württemberg. Sie war gerade einmal 22 Jahre alt, als sie in Heilbronn in ihrem Dienstwagen ermordet wurde. Ihr neben ihr sitzender Kollege überlebte die Schüsse der Täter schwer verletzt.

Zehn brennende Kerzen – zehn ausgelöschte Leben. Ihrer gedenken wir heute. Zehn Kerzen – sie stehen für eine Mordserie in Deutschland von 2000 bis 2006, deren Täter bis 2011 und damit also über mehr als zehn Jahre unentdeckt blieben – mitten unter uns; beispiellos für unser Land.

Bevor wir die alles überragenden Fragen „Wie konnte das geschehen?“, „Warum sind wir nicht früher aufmerksam geworden?“, „Warum konnten wir das nicht verhindern?“ beantworten, bitte ich darum, dass wir schweigen. Schweigen, so wie heute um 12 Uhr Beschäftigte im ganzen Land schweigen werden. Gewerkschaften und Arbeitgeber haben das vereinbart.

(Schweigen)

Ich danke Ihnen.

Mit diesem Schweigen ehren wir die Opfer der Mordserie einer Terrorgruppe, die ihren Kern seit Ende der 90er Jahre in Thüringen hatte und die sich den Namen „Nationalsozialistischer Untergrund“ gab. Wir ehren die Opfer dieser Terrorgruppe; und wir erinnern gleichzeitig auch an die Opfer weiterer schrecklicher Taten. Denken wir an die Sprengstoff-Anschläge in Köln am 19. Januar 2001 und am 9. Juni 2004. Dabei wurden viele Menschen verletzt. Einige von ihnen sind heute unter uns. Dafür danke ich ihnen. Viele von ihnen haben äußerliche Narben davongetragen. Wie sehr die seelischen Wunden schmerzen, das können wir nur ahnen.

Manchmal rütteln uns Berichte über skrupellose rechtsextremistische Gewalttäter auf. Für einige Tage bestimmen sie die Schlagzeilen der Nachrichten. Manchmal bleibt auch der Name einer Stadt als Tatort im Gedächtnis. Doch oft genug nehmen wir solche Vorfälle eher nur als Randnotiz wahr. Wir vergessen zu schnell – viel zu schnell. Wir verdrängen, was mitten unter uns geschieht; vielleicht, weil wir zu beschäftigt sind mit anderem; vielleicht auch, weil wir uns ohnmächtig fühlen gegenüber dem, was um uns geschieht.

Oder auch aus Gleichgültigkeit? Gleichgültigkeit – sie hat eine schleichende, aber verheerende Wirkung. Sie treibt Risse mitten durch unsere Gesellschaft. Gleichgültigkeit hinterlässt auch die Opfer ohne Namen, ohne Gesicht, ohne Geschichte.

Deshalb setzen wir hier ein Zeichen. Mit einer elften Kerze auf dem Podest. Sie haben wir entzündet für alle bekannten wie unbekannten Opfer rechtsextremistischer Gewalt. Auch ihnen ist diese Gedenkveranstaltung gewidmet. Zu jedem dieser Menschen gehören eine Familie, Freunde und Bekannte. Ihr Leid, ihre Sorgen sind kaum zu ermessen.

Die Menschenverachtung der rechtsextremistischen Mörder ist letztlich unbegreiflich. Und doch müssen wir versuchen zu ergründen, wie und durch wen sie so geworden sind, wie sie geworden sind. Wir müssen alles tun, damit nicht auch andere junge Männer und Frauen zu solcher Menschenverachtung heranwachsen. Das sind wir den Opfern, das sind wir ihren Angehörigen, das sind wir uns allen schuldig.

Viele Hinterbliebene sind heute unter uns. Ich weiß, wie schwer ihnen das gefallen ist. Sie haben mir vorhin von ihrem großen Schmerz erzählt. Sie haben mir erzählt, wie allein gelassen sie sich gefühlt haben. Umso dankbarer bin ich, dass wir heute gemeinsam hier sein können. Ich danke auch den Angehörigen, die nachher ebenfalls das Wort an uns richten werden: Herrn Ismail Yozgat, Semiya Şimşek und Gamze Kubaşik.

Die meisten von ihnen blieben allein in ihrer Not. Denn die Hintergründe der Taten lagen im Dunkeln – viel zu lange. Das ist die bittere Wahrheit. Nur wenige hierzulande hielten es für möglich, dass rechtsextremistische Terroristen hinter den Morden stehen könnten, nachdem bislang für typisch gehaltene Verhaltensmuster von Terroristen, wie zum Beispiel Bekennerschreiben, nicht vorlagen. Das führte stattdessen zur Suche nach Spuren im Mafia- und Drogenmilieu oder gar im Familienkreis der Opfer. Einige Angehörige standen jahrelang selbst zu Unrecht unter Verdacht. Das ist besonders beklemmend. Dafür bitte ich sie um Verzeihung.

Nicht nur vergingen Jahre, ohne zumindest Fortschritte bei der Aufklärung der Taten zu erzielen. Nein, diese Jahre müssen für Sie, liebe Angehörige, ein nicht enden wollender Albtraum gewesen sein. In einem der Gespräche, die Altbundespräsident Wulff mit Hinterbliebenen geführt hat, fiel der Satz – ich zitiere: „Wir wollten einfach nur wie normale Menschen behandelt werden.“ Wie normale Menschen – diese drei Worte zeigen ihre ganze Verzweiflung. Wie schlimm muss es sein, über Jahre falschen Verdächtigungen ausgesetzt zu sein, statt trauern zu können?! Welche Qual ist es, wenn Nachbarn und Freunde sich abwenden, wenn sogar nächste Angehörige zweifeln?! Und wie wird man fertig mit der Skepsis, ob die Sicherheitsbehörden wirklich alles Menschenmögliche tun, um den Mord an dem Nächsten aufzuklären?!

Liebe Hinterbliebene, niemand kann Ihnen den Ehemann, den Vater, den Sohn oder die Tochter zurückbringen. Niemand kann die Jahre der Trauer und der Verlassenheit auslöschen. Niemand kann den Schmerz, den Zorn und die Zweifel ungeschehen machen. Aber wir alle können Ihnen heute zeigen: Sie stehen nicht länger allein mit Ihrer Trauer. Wir fühlen mit Ihnen. Wir trauern mit Ihnen.

Als Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verspreche ich Ihnen: Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Daran arbeiten alle zuständigen Behörden in Bund und Ländern mit Hochdruck. Das ist wichtig genug, es würde aber noch nicht reichen. Denn es geht auch darum, alles in den Möglichkeiten unseres Rechtsstaates Stehende zu tun, damit sich so etwas nie wiederholen kann.

Inzwischen wurde eine Bund-Länder-Kommission zur Aufarbeitung des Rechtsterrorismus eingerichtet. Zudem haben im Landtag von Thüringen und im Deutschen Bundestag Untersuchungsausschüsse ihre Arbeit aufgenommen. Erste Weichen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Verfassungsschutz und Polizei sowie zwischen den Landes- und Bundesbehörden sind gestellt.

Wir tun dies, weil wir nicht hinnehmen, dass Menschen Hass, Verachtung und Gewalt ausgesetzt werden. Wir tun dies, weil wir entschieden gegen jene vorgehen, die andere wegen ihrer Herkunft, Hautfarbe, Religion verfolgen. Überall dort, wo an den Grundfesten der Menschlichkeit gerüttelt wird, ist Toleranz fehl am Platz. Toleranz richtete sich selbst zugrunde, wenn sie sich nicht vor Intoleranz schützte.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ – So beginnt unser Grundgesetz. Das war die Antwort auf zwölf Jahre Nationalsozialismus in Deutschland, auf unsägliche Menschenverachtung und Barbarei, auf den Zivilisationsbruch durch die Shoah. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ – Das ist das Fundament des Zusammenlebens in unserem Land, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland.

Wann immer Menschen in unserem Land ausgegrenzt, bedroht, verfolgt werden, verletzt das die Fundamente dieser freiheitlich-demokratischen Grundordnung, verletzt es die Werte unseres Grundgesetzes. Deshalb waren die Morde der Thüringer Terrorzelle auch ein Anschlag auf unser Land. Sie sind eine Schande für unser Land.

Zu meiner Arbeit als Bundeskanzlerin gehört es, dass ich mir Videos von Tätern, zum Beispiel bei Geiselnahmen, gelegentlich persönlich anschaue. Ich habe mir auch das Video angeschaut, das jetzt im Zuge der Ermittlungen gegen die Thüringer Terrorzelle entdeckt wurde. Es ist mit Elementen der bekannten Zeichentrickfilmserie mit dem rosaroten Panther gestaltet worden. In diesem Video prahlen seine Macher mit den Morden und verhöhnen die Opfer. Etwas Menschenverachtenderes, Perfideres, Infameres – sofern es solche Steigerungsformen überhaupt gibt – habe ich in meiner Arbeit noch nicht gesehen.

Ich habe mich gefragt: Wie kommen Menschen dazu, so etwas zu denken und zu tun? Wer oder was prägt extremistische Täter? Wie kann es sein, dass solche Täter immer wieder Helfershelfer und Anhänger finden? Wie schützen wir Menschen vor Anfeindung und Bedrohung am besten?

Wir müssen uns eingestehen, dass wir dabei zum Teil scheitern. Wir müssen uns eingestehen, dass manchmal gerade dort, wo die Arbeitslosigkeit hoch und die Abwanderung stark ist, oft auch die vertrauten Strukturen der Jugendarbeit verloren gehen, das Freizeitangebot schwindet – und die Feinde unserer Demokratie das zu nutzen wissen. Es ist ein schlimmer Zustand erreicht, wenn Neonazis junge Menschen mit Kameradschaftsabenden einfangen können, weil niemand sonst sich um diese Jugendlichen kümmert. Es darf uns nicht ruhen lassen, wenn eine verfassungsfeindliche und rechtsextremistische Partei junge Familien mit Spielen und Festen ködern kann, weil andere das nicht bieten.

Der Staat ist hier mit seiner ganzen Kraft gefordert. Doch mit staatlichen Mitteln allein lassen sich Hass und Gewalt kaum besiegen. Die Sicherheitsbehörden benötigen Partner: Bürgerinnen und Bürger, die nicht wegsehen, sondern hinsehen – eine starke Zivilgesellschaft. Diese lässt sich nicht verordnen. Sie beruht darauf, dass sich jeder mitverantwortlich für das Ganze fühlt, dass jeder seinen persönlichen Beitrag zu einem friedlichen Zusammenleben leistet. Zivilgesellschaft wächst in den Familien. Bereits in frühen Jahren erlernen Kinder die Grundlagen eines verantwortungsbewussten Miteinanders. Sie wächst in Freundes- und Bekanntenkreisen. Sie wächst in Schulen, Vereinen und im beruflichen Umfeld.

Ich sehe auch viele ermutigende Zeichen, viele Menschen, die sich für ein friedliches Miteinander engagieren – zum Beispiel in Dresden, wo vor wenigen Tagen Tausende Bürgerinnen und Bürger des Jahrestages der Bombardierung der Stadt gedachten und sich dabei die Hände reichten. Mit dieser Geste boten sie den Neonazis Einhalt, die dieses Gedenken missbrauchen wollten. Tagtäglich setzen zahlreiche kleine und größere Initiativen in unserem Land Zeichen gegen Hass und Gewalt. Ins Leben gerufen wurden sie von couragierten, mutigen Menschen. Einige von ihnen sitzen hier unter uns. Ich danke Ihnen stellvertretend für viele andere in unserem Land. Ich danke den Stiftungen, den Medien, den Lehrern und Geistlichen, den Unternehmern, den Vertretern von Verbänden und Vereinen, die alle mit ihren Möglichkeiten für ein gedeihliches Miteinander werben und gegen Hass und Gewalt eintreten.

Der Kampf gegen Vorurteile, Verachtung und Ausgrenzung muss täglich geführt werden – in Elternhäusern, in der Nachbarschaft, in Schulen, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, in religiösen Gemeinden, in Betrieben. Überall sollten wir ein feines Gehör und Gespür für die kleinen Bemerkungen, die hingeworfenen Sätze entwickeln. So manche Bemerkung nimmt man schnell mal auf die leichte Schulter – nach dem Motto: Der oder die meint das doch nicht so ernst.

Doch Intoleranz und Rassismus äußern sich keineswegs erst in Gewalt. Gefährlich sind nicht nur Extremisten. Gefährlich sind auch diejenigen, die Vorurteile schüren, die ein Klima der Verachtung erzeugen. Wie wichtig sind daher Sensibilität und ein waches Bewusstsein dafür, wann Ausgrenzung, wann Abwertung beginnt. Gleichgültigkeit und Unachtsamkeit stehen oft am Anfang eines Prozesses der schleichenden Verrohung des Geistes. Aus Worten können Taten werden.

Der irische Denker Edmund Burke hat einmal gesagt – ich zitiere: „Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun.“ Ja, Demokratie lebt vom Hinsehen, vom Mitmachen. Sie lebt davon, dass wir alle für sie einstehen, Tag für Tag und jeder an seinem Platz. Demokratie zu leben mutet uns zu, Verantwortung zu übernehmen für ein Zusammenleben in Freiheit – und damit für ein Leben in Vielfalt. Gelingt dies, kann Vielfalt ihren Reichtum zum Besten aller entfalten.

Deutschland hat diese Erfahrung in seiner Geschichte immer wieder gemacht. Denn es ist auch eine Geschichte der Auswanderung und der Zuwanderung. So wurden Brücken in alle Welt geschlagen. Seinen Wohlstand verdankt Deutschland zu einem guten Teil seiner Weltoffenheit und seiner Neugier auf andere. Wir leben hierzulande von Verschiedenheit, von den unterschiedlichsten Lebenswegen. Deutschland – das sind wir alle; wir alle, die in diesem Land leben; woher auch immer wir kommen, wie wir aussehen, woran wir glauben, ob wir stark oder schwach sind, gesund oder krank, mit oder ohne Behinderung, alt oder jung.

Wir sind ein Land, eine Gesellschaft. Auch die, die zu uns aus vielen Ländern dieser Welt kommen, sind nicht einfach die Zuwanderer. Auch sie sind vielfältig und unterschiedlich. Wir alle gemeinsam prägen das Gesicht Deutschlands, unsere Identität in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts – getragen von unserem Grundgesetz und seinen Werten, unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, formuliert in unserer Sprache. Gemeinsam verteidigen wir alle, die wir uns zu diesen Werten bekennen, die in unserer Verfassung zu Beginn festgeschriebene unantastbare Würde des Menschen.

Das ist die Botschaft der zwölften Kerze auf dem Podest. Sie ist das Symbol unserer gemeinsamen Hoffnung und Zuversicht für eine gute Zukunft. Lassen Sie uns alle gemeinsam, jeder an seinem Platz und nach seinen Möglichkeiten, für diese Hoffnung und diese Zuversicht leben – zum Wohle unseres Landes und seiner Menschen.

Quelle: Website der Bundesregierung; http://www.bundesregierung.de


Die Rede von Ismail Yozgat

„Bismillahi r-rahmani r-ahimi. Im Namen Gottes, des Allerbarmers, des Barmherzigen: Guten Tag an alle. Lieber Präsident, liebe Bundeskanzlerin, liebe Gäste, ich grüße Sie alle in Respekt. Ich bin der, der am 6. April 2006 im Internetcafé den mit einer Kugel im Kopf sterbenden 21-jährigen Halit Yozgat in seinen Armen hielt – ich bin sein Vater, Ismail Yozgat.

Zuallererst möchte ich mit meinem ganzen Herzen, das bislang viel getragen hat und noch tragen muss, von hier aus Bundespräsident Wulff unsere Grüße und Verehrung übermitteln. Voller Bewunderung erinnern wir uns an seine Gastfreundschaft. Ich danke ihm. Dank auch an diejenigen, die die heutige Zeremonie gestaltet haben. Ich möchte all jenen Menschen aus Kassel-Baunatal und Umgebung für ihre Mühe danken, die darin bestand, dass sie mir bis heute ein Weiterleben ermöglicht haben.

Drei Briefe mit Absender Frau Professor Barbara John erreichten mich. Es ging um die Begräbniskosten und ob wir 10.000 Euro bekommen möchten. Wir als Familie Yozgat möchten das alles nicht haben. Jedoch bitten wir um drei Dinge: Dass die Mörder und ihre Helfer gefangen werden. Mein Vertrauen in die deutsche Justiz war immer vorhanden, von nun an, so hoffe ich, wird es vollkommen sein, Insallah, so Gott will.

Zweitens: Mein Sohn Halit Yozgat ist in der Holländer Straße 82 zur Welt gekommen und in der Holländer Straße unten im Ladenlokal erschossen worden und gestorben. Wir als Familie möchten die Holländer Straße gerne in Halit-Straße benennen lassen. Wir bitten um Mithilfe.

Drittens: Wir möchten, dass im Namen der zehn Verstorbenen eine Stiftung für Krebskranke gegründet wird und alle Preise und Hilfen dorthin geleitet werden.

Nochmals: Allen Organisatoren dieses Tages danke ich herzlich.“

Quelle: Frankfurter Rundschau, 24. Februar 2012 [Andere Versionen der deutschen Übersetzung waren fehlerhaft.]


Nichts kann beruhigen

Semiya Simsek sprach auf der Gedenkfeier für die Opfer der Nazi-Terroristen

Hörst du das? Die Glöckchen. Das sind die Schäfchen, die jetzt aus den Bergen runter ins Tal kommen. Das tun sie immer in der Nacht. Mein Papa erzählte gerne von sich und von seinen Träumen. Ich liebte es, ihm zuzuhören. Er saß in dieser warmen Sommernacht in unserem Garten in der Türkei und aß Kirschen. Ich setzte mich zu ihm und fragte ihn: Kannst du nicht schlafen? Doch, Semiya, sagte er, ich möchte etwas hören. Und so lauschten wir zusammen dem Klang der Glöckchen der Schafe. Ich spürte, wie glücklich mein Vater in diesem Moment war.

Ein Jahr später war mein Vater tot. Am 9. September 2000 wurde auf meinen Vater Enver Simsek geschossen. Er starb zwei Tage später im Krankenhaus. Der erste Mord. Wir sollten keinen weiteren gemeinsamen Sommer mehr haben. Von einem Tag auf den anderen änderte sich für uns alles, für mich alles. Das alte Leben gab es nicht mehr. Mein Vater war tot. Er wurde nur 38 Jahre alt. Ich finde keine Worte dafür, wie unendlich traurig wir waren. Doch in Ruhe Abschied nehmen und trauern, das konnten wir nicht.

Die Familien, für die ich hier heute spreche, wissen, wovon ich rede. Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein. Immer lag da die Last über unserem Leben, dass vielleicht doch irgendwer aus meiner Familie, aus unserer Familie verantwortlich sein könnte für den Tod meines Vaters. Und auch den anderen Verdacht gab es noch: Mein Vater ein Krimineller, ein Drogenhändler. Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittlungen genommen zu werden? Und können Sie erahnen, (wie) es sich für mich als Kind angefühlt hat, sowohl meinen toten Vater als auch (meine) schon ohnehin betroffene Mutter unter Verdacht zu sehen?

Dass all diese Vorwürfe aus der Luft gegriffen waren und völlig haltlos waren, das wissen wir heute. Mein Vater wurde von Neonazis ermordet. Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen? Das Gegenteil ist der Fall. In diesem Land geboren, aufgewachsen und fest verwurzelt, habe ich mir über Integration noch nie Gedanken gemacht. Heute stehe ich hier, trauere nicht nur um meinen Vater und quäle mich auch mit der Frage: Bin ich in Deutschland zu Hause?

Ja klar bin ich das. Aber wie soll ich mir dessen noch gewiss sein, wenn es Menschen gibt, die mich hier nicht haben wollen? Und die zu Mördern werden, nur weil meine Eltern aus einem fremden Land stammen? Soll ich gehen? Nein, das kann keine Lösung sein. Oder soll ich mich damit trösten, dass wahrscheinlich nur einzelne zu solchen Taten bereit sind? Auch das kann keine Lösung sein.

In unserem Land, in meinem Land muss sich jeder frei entfalten können. Unabhängig von Nationalität, Migrationshintergrund, Hautfarbe, Religion, Behinderung, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Lasst uns nicht die Augen verschließen und so tun, als hätten wir dieses Ziel schon erreicht. Meine Damen und Herren, die Politik, die Justiz, jeder einzelne von uns ist gefordert.

Ich habe meinen Vater verloren, wir haben unsere Familienangehörigen verloren. Lasst uns verhindern, dass das auch anderen Familien passiert. Wir alle gemeinsam zusammen, nur das kann die Lösung sein.

Quelle: verschiedene Tageszeitungen, 24. Februar 2012


Gamze Kubasik:

"...Ja, nur das kann die Lösung sein. Der türkische Dichter Nazim Hikmet hat ein Gedicht geschrieben. Es drückte aus, wie wir alle empfinden und wie wir gemeinsam leben wollen. Nazim Hikmet benutzte das Bild des Waldes und der Bäume. So wollen wir auch leben auf der Suche nach Einheit in der Vielfalt.

Zum Anschluss dieser Gedenkfeier werden wir die Kerze der Hoffnung hinaustragen. Sie steht für die Hoffnung auf eine Zukunft, die von mehr Zusammenhalt geprägt ist. Das Gesicht heißt "Leben": Leben wie ein Baum, einzeln und frei und brüderlich wie ein Wald. Das ist unsere Sehnsucht."

Quelle: Süddeutsche Zeitung, 24.02. 2012


Sevim Dagdelen: Gedenken heißt Ursachen bekämpfen und Gauck nicht wählen

Erklärung der migrationspolitischen Sprecherin der Fraktion Die Linke im Bundestag, Sevim Dagdelen, vom 23. Februar 2012:

"Die heutige Gedenkveranstaltung für die Opfer des Nazi-Terrors in Deutschland entbindet die deutsche Regierung keineswegs von ihrer Mitverantwortung für die mindestens 140 Menschen, die aufgrund der Versäumnisse deutscher Behörden in den vergangenen 20 Jahren ermordet wurden. Es gehört mittlerweile zu einer bedenklichen Tradition in Deutschland, dass der Opfer des deutschen Rassismus in ritualisierter Form gedacht wird, ohne Konsequenzen für das eigene Versagen und die Mitschuld zu ziehen. Deutschland braucht keine Heuchelei, sondern muss die gesellschaftlichen und institutionellen Kontinuitäten des Rassismus und seine Ursachen hinterfragen und wirklich ernsthaft bekämpfen“, erklärt die migrationspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, Sevim Dagdelen, anlässlich des Staatsaktes zum Gedenken an die Opfer des rassistischen Terrors in Deutschland. Dagdelen weiter:

„Es ist ein Skandal, dass ein Drittel dieser Toten in den offiziellen Statistiken nicht auftauchen und vermutlich ohne die mutige Arbeit engagierter Antifaschistinnen und Antifaschisten, die in ihren Aktivitäten vom deutschen Behörden kriminalisiert werden, nie ans Tageslicht gekommen wären. Das heutige Gedenken ist auch eine Gelegenheit für all jene, die die gesellschaftlichen Hintergründe des Rassismus nicht aufdecken und sich von ihrer Mitschuld reinwaschen wollen. Wer aufrichtig gegen Rassismus kämpfen will, der kann nicht zugleich, so wie es die Union, SPD, FDP und Grünen getan haben, jemanden wie Joachim Gauck zum Bundespräsidenten nominieren. Gauck hat den rassistischen und diskriminierenden Thesen des Thilo Sarrazin Mut bescheinigt und sich noch letzten November gegen eine solche Gedenkveranstaltung gewandt. Dass er heute dennoch daran teilnimmt lässt die Frage offen, ob dies nicht lediglich aus opportunistischen Gründen geschah.

Wie aufrichtig ist dieses Gedenken, wenn der Bundespräsidentenkandidat der Regierungs- und zwei sogenannter Oppositionsparteien die westpolnische Grenze als "Unrecht" definiert und damit gefährlich nah an Positionen der NPD gelangt? Wer aufrichtig und ehrlich gegen Rassismus kämpfen will, muss Verantwortung übernehmen, völlige Aufklärung der Morde gewährleisten und das Unrecht "wiedergutmachen".

Die Heuchelei und Vertuschung der Rolle der Polizei und der Geheimdienste, unter deren Obhut sich neonazistische Strukturen entfalten konnten muss beendet werden. Faschistische Parteien wie die NPD müssen verboten werden und die V-Leute daher abgezogen werden."

Quelle: Website von Sevim Dagdelen; http://www.sevimdagdelen.de

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