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Schnaps ist Schnaps und Politik ist Politik

Warum so viele Opfer von Neonazi-Gewalt in der offiziellen Polizeistatistik bisher nicht berücksichtigt werden

Von Marcus Meier *

Wie viele Todesopfer rechter Gewalt sind seit 1990 zu beklagen? 63, heißt es offiziell. Kritiker sprechen von 184. Vier Fälle in Westfalen lassen erahnen, warum die Dunkelziffer so hoch sein könnte.

Sven M. findet keinen Platz in den üblichen Opferkategorien. Er war weder Jude noch Linker noch Punk noch schwul noch aktiver Demokrat noch dunkelhäutig noch Immigrant noch Obdachloser – gehörte also keiner jener Gruppen an, die zu den bevorzugten Zielen rechter Gewalttäter zählen. Ganz im Gegenteil: Sven M. soll selbst von brauner Gesinnung gewesen sein und Kontakte in die Szene unterhalten haben. Doch auch der mutmaßliche Neonazi könnte das sein, was Kritiker »Tote ohne Anerkennung« nennen: Naziopfer, die in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik nicht also solche geführt werden. Zumindest bisher nicht.

Am 11. Mai 2010, einem Freitag, dem traditionell alkoholgeschwängerten »Vatertag«, betrat der 27-Jährige eine private Kneipe in Hemer in Westfalen, die der Lokalpresse als »illegaler Trinkklub« galt, während Cura, ein Fonds, der die Opfer rechter Gewalt unterstützt, ihn als »Neonazi-Hinterhofklub« einschätzte. Sven M. wollte wissen, wer ihn ein paar Wochen zuvor (offenbar wegen einer Flasche Schnaps) brutal zusammengeschlagen hatte.

Mit seinem Begehren stieß Sven M. allerdings auf wenig Gegenliebe: Der 47-jährige Klub-Präsident Alexander U. zückte ein Jagdmesser und schlitzte die Kehle des unerwünschten Gastes auf. Bis zur Wirbelsäule. Zusammen mit vier Komplizen zerrte er den Schwerverletzten zunächst in ein Treppenhaus. Vermutlich dort verblutete Sven M. Dann verbrachten die Kameraden die Leiche in ein Waldgebiet. Doch sie fuhren ihren Opel in einem Feld fest, riefen ein Taxi.

Ein Tatbeteiligter verplapperte sich und verschickte zudem eine verräterische SMS. Ein schneller Ermittlungserfolg für Kommissar Zufall, so schien es. Schon am Montag, drei Tage nach der Tat, ging die Staatsanwaltschaft an die Öffentlichkeit und verkündete, sie glaube, »ein annäherndes Bild gewonnen zu haben«.

Mag die Kneipe auch mit Hakenkreuzfahnen geschmückt, mögen die Klubmitglieder häufig gemeinsam zu Nazievents gefahren sein: Schnaps ist Schnaps und Politik ist Politik – dieses Bild sollte sich verfestigen.

»Wir vermögen eine ernsthafte politische Gesinnung nicht zu erkennen«, ließ die Staatsschutzabteilung der Polizei wissen. Für die Tat habe ein politisches Motiv keine Rolle gespielt, sagte die Staatsanwaltschaft bald darauf. Das Gericht folgte dieser Annahme.

Alexander U. wurde zu einer Haftstrafe von 14 Jahren und sechs Monaten verurteilt, wegen Totschlags und illegalen Waffenbesitzes. Der glatzköpfige »Präsident«, vorbestraft wegen diverser brutaler Gewaltdelikte, bei denen er immer wieder Messer verwendete, nahm das Urteil äußerlich gelassen zur Kenntnis. Sein Opfer hinterlässt ein kleines Kind und eine verzweifelte Witwe.

Wird der Fall Sven M. jetzt wieder aufgerollt? Zählt er zu jenen Hunderten Fällen, die erneut überprüft werden, weil sie, so der Behördenjargon, zumindest Anhaltspunkte »für eine mögliche politische rechte Tatmotivation« liefern?

»Warum das?« – Oberstaatsanwalt Dr. Gerhard Pauli, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Hagen, zeigt sich ernsthaft verwundert über die nd-Nachfrage. »Der Fall ist abgeschlossen, das Umfeld aufgeklärt, der Täter verurteilt. Wir haben von uns aus keine Veranlassung, weiter zu ermitteln.«

Der Fonds Cura hingegen führt Sven M. als »Todesopfer rechter Gewalt«. Er ist die Nummer 179 in einer ausdrücklich nicht vollständigen Liste, die im Jahr 1990 beginnt. Ein szene-interner Mord falle völlig aus dem Erfassungssystem der Polizei, heißt es auf der Webseite des Opferfonds.

Die Behörden würden verkennen, »dass internen Streitereien oftmals durchaus ein politisches Motiv zugrunde« liege. Auch sollte nach Ansicht des Vereins der ideologische Kontext des Alexander U. nicht ignoriert werden. Sinke dadurch doch »die Hemmschwelle zur exzessiven Gewalt an einem Menschen«, so der Opferfonds, der von Prominenten wie Bundestagspräsident Norbert Lammert unterstützt wird.

Behördenintern heißen die 184 Fälle, die von Cura und anderen Verbänden gesammelt wurden, schlicht »die Opferliste«. Auch die 120 bisher staatlicherseits nicht »anerkannten« Fälle auf dieser Liste werden nun auf politische Tätermotivation abgeklopft. Darunter jener von Sven M.

Hinzu kommen 746 ungeklärte Delikte mit insgesamt 849 Opfern, die auf etwaige rechtsextreme und rassistische Hintergründe abgecheckt werden. Denn das Bundeskriminalamt hatte zusammen mit den Landespolizeibehörden alle vollendeten und versuchten Tötungsdelikte überprüft, bei denen bisher kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Und war bei mehr als jedem fünften Fall stutzig geworden.

Im Gegensatz zu den ermittelnden Beamten, denen es allerdings auch nicht leicht gemacht wird. Denn was zur Hölle ist »politisch motivierte Kriminalität«? Darunter fallen zunächst »Staatsschutzdelikte« wie Volksverhetzung, Propagandadelikte, Hochverrat, Bildung einer terroristischen Vereinigung.

Da dürfte den Polizeibeamten vor Ort die Einordnung noch leicht fallen. Aber auch andere Straftaten wie Mord und Körperverletzung können unter die Definition fallen. Dabei müssen die Beamten allerdings die gesamten Umstände der Tat und die Einstellung der Täter würdigen.

Richtet sich die Tat gegen die »freiheitlich-demokratische Grundordnung« oder soll sie demokratische Prozesse beeinflussen? Wird ein Mensch wegen seiner politischen Einstellung, wegen seiner Religion, Behinderung als Opfer herausgepickt? So in etwa lassen sich die offiziellen, bürokratisch formulierten und keineswegs trennscharfen Kriterien zusammenfassen.

»Im Gegensatz zur Allgemeinkriminalität bedrohen politisch motivierte Straftaten vor allem die demokratischen Grundlagen unseres Gemeinwesens und die Achtung der im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechte«, weiß das Bundesinnenministerium. Kurzum: Es bleibt Interpretationsspielraum. Sogar sehr viel Interpretationsspielraum.

Die Polizisten Thomas Goretzky, Yvonne Hachtkemper und Matthias Larisch von Woitowitz waren Mitte 30, als sie am 14. Juni 2000 in Dortmund respektive Waltrop ohne Vorwarnung erschossen wurden. Ausgangspunkt war eine simple Fahrzeugkontrolle, bei der der Fahrer unvermittelt das Feuer eröffnete. Der Täter, ein Mann namens Michael Berger, sollte sich nach dem Dreifachmord selbst richten.

Mit der brutalen Tat avancierte der BMW-Fahrer für manchen zum Helden. »3:1 für Deutschland« war in Druckwerken zu lesen, die die aus der Fußball-Hooligan-Szene hervorgegangene »Kameradschaft Dortmund« in Umlauf brachte. »Berger war ein Freund von uns«, prahlten die Stiefelfaschisten auf Flugblättern und Aufklebern.

»3:1 für Deutschland« – die Toten, drei Polizisten, ein Nazifreund, wurden seinerzeit gegeneinander aufgerechnet wie die Tore in einem Fußballspiel. Drei zu eins ist dann ein klarer Sieg. Berger blieb seitdem ein Märtyrer der militanten Rechten. »Zum 10. Todestag: Berger war ein Freund von uns!«, tönten die Braunen noch 2010.

In Bergers Wohnung hatte die Polizei Waffen gefunden, darunter eine Handgranate, zudem die Mitgliedsausweise zweier ultrarechter Parteien. Doch der brutale Dreifachmord wurde lange nicht als rechtsextreme Straftat eingestuft. Schließlich lagen keine Anhaltspunkte vor für eine politische Tatmotivation im Sinne der Polizeistatistik. Hinweise auf Szeneverstrickungen Bergers ließen sich aus Polizeisicht nicht verifizieren. Und außerdem war der Täter tot. Das Verfahren galt als abgeschlossen.

Bis zum November 2011 setzte die Akte über den Polizistenmord allmählich Staub an. Dann wurden plötzlich Schlagzeilen wie »Polizei prüft Bezug der Terrorzelle zum Polizistenmord in Dortmund« gedruckt. Stand Berger mit dem NSU in Kontakt? Das will NRW-Innenminister Ralf Jäger nunmehr aufgeklärt sehen. Möglicherweise würde eine NSU-Verstrickung tatsächlich endlich helfen zu erklären, warum Berger scheinbar ohne Grund auf die Polizisten schoss. Von konkreten Ergebnissen wird bisher indes nichts berichtet.

Doch auch der dreifache Polizistenmord wird nun neu überprüft, noch einmal, ließe sich sarkastisch sagen. Auch die toten Polizisten Goretzky, Hachtkemper und Larisch von Woitowitz stehen schließlich auf »der Opferliste« von Cura und Co. Aber warum erweckt »die Opferliste« nach all den Jahren überhaupt das Interesse der Behörden?

Diese Fälle würden bearbeitet, »um der gegenwärtigen politischen Diskussion Rechnung zu tragen«, betont ein Involvierter gegenüber »nd«.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. Dezember 2013


Auftrag: »Kriegen Sie nichts raus«

Hat Thüringer Polizeichef die Fahndung nach den drei NSU-Terroristen behindert?

Von René Heilig **


Thüringens LKA-Präsident Werner Jakstadt soll im Jahr 2003 die Fahndung nach dem NSU-Terrortrio – Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe – behindert haben. So behauptete es jedenfalls ein Beamter des Erfurter Landeskriminalamts, der anonym bleiben will, im ARD-Magazin »Report Mainz«.

Jakstat war damals ständiger Vertreter des LKA-Präsidenten und der Vorwurf ist bekannt – und bislang unbewiesen. Auch die Hintergründe sind ausgeleuchtet. Ein Zeuge hatte am 6. Juni 2003 bei der Polizei ausgesagt, Uwe Böhnhardt im August oder September 2002 an einer Ampelkreuzung in Jena getroffen und dann mit ihm zusammen in die Innenstadt gefahren zu sein. Man habe sich unterhalten und Böhnhardt – einer der drei seit Ende 2011 als mehrfache Mörder beschuldigten NSU-Rechtsterroristen – habe erzählt, das 1998 untergetauchte Trio halte sich in der Schweiz auf. Ein anderes Mitglied der rechtsextremen Szene, so der Zeuge, habe ihm berichtet, dass das Trio drei bis vier Mal im Jahr in Jena sei.

Die Geschichte ist ebenso aktenkundig wie Berichte, dass der gleichfalls als Mörder beschuldigte Uwe Mundlos immer wieder durch Jena gefahren sei und gleichfalls erzählt habe, dass er in der Schweiz lebe.

Nicht nur in diesen Fällen ist seltsam, dass Fahnder – wenn die Schweiz als möglicher Unterschlupf des Trios genannt wird – wie gelähmt erscheinen. Diese Ermittlungsrichtung wird ohne solide Nachforschung als unglaubwürdig abgetan. Statt dessen forscht man geschäftig sogar in Kiew nach, obwohl die Hinweise dorthin mehr als nur vage sind.

Am 18. September 2003, keine drei Wochen nach der Schweiz-Aussage des Zeugen, wurde die Fahndung nach den Neonazis offiziell eingestellt. Grund: Der in den Haftbefehlen gegen das Trio von 1998 aufgeführte Bombenbau war nach fünf Jahren verjährt. Zumindest in Sachen Böhnhardt war das eine falsche Entscheidung der Staatsanwaltschaft. Man hätte den Neonazi noch vier weitere Jahre suchen können, denn er war wenige Monate vor dem Untertauchen wegen Volksverhetzung zu zwei Jahren und drei Monaten Jugendgefängnis verurteilt worden. Die Haftstrafe trat er nie an – erst am 13. Dezember 2007 wäre sie verjährt.

Hat der heutige LKA-Präsident wirklich angewiesen, dem Zeugenhinweis nicht nachzugehen? »Der Auftrag hat gelautet: Fahrt mal raus, damit keiner sagen kann, wir hätten gar nichts gemacht. Also haben wir den Zeugen befragt. Aber wir sollten nichts ermitteln.« Der Kronzeuge der ARD wird noch deutlicher: »Es wurde explizit gesagt: Kriegen Sie da nichts raus.«

Das allerdings wäre in jeder Weise ein »dicker Hund« und der Thüringer LKA-Chefkriminalist müsste mit einer Gefängnisstrafe wegen Falschaussage rechnen. Erst am vergangenen Donnerstag hatte er nämlich vor dem Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss erklärt, die Ermittlungen jederzeit »bestmöglich« unterstützt zu haben. Da steht nun Aussage gegen Aussage.

** Aus: neues deutschland, Mittwoch, 11. Dezember 2013


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