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Streitfrage: Gehört Hitlers "Mein Kampf" verboten?

Es debattieren im "neuen deutschland": Gunnar Decker und Hans Coppi


Adolf Hitlers »Mein Kampf« soll ab Monatsende in kommentierter Form am Zeitungskiosk ausliegen. Der Reihe »Zeitungszeugen«, die Blätter aus der Zeit des Nationalsozialismus veröffentlicht, wird in drei Ausgaben eine Broschüre beiliegen, die das Buch in Auszügen dokumentiert. Geplant ist eine Auflage von 100 000 Exemplare. Wird der Beileger ein Verkaufsschlager, seien weitere Ausgaben mit kommentierten Auszügen möglich, heißt es von Verlagsseite.

»Mein Kampf« ist eine Mischung aus Hitlers Lebensgeschichte, antisemitischem Pamphlet und nationalsozialistischer Propaganda. Das Bayerische Finanzministerium besitzt die Urheberrechte an dem Buch. Es hat bereits angekündigt, juristische Schritte gegen die Veröffentlichung zu prüfen.



Lauter geistige Kurzschlüsse

Von Gunnar Decker *

Auf der Berlinale 2010 wurde Oskar Roehlers »Jud Süß - Film ohne Gewissen« gezeigt, ein schwacher Film über die Entstehung von Veit Harlans »Jud Süß«. Den Gegenstand von Roehlers Film, Harlans »Jud Süß«, habe ich bis heute nur in Ausschnitten sehen können, er ist nach wie vor verboten. Glaubt irgendeiner, man sähe diesen Film und werde daran zum Antisemiten? Das scheint mir absurd.

Warum sind Hitlers »Mein Kampf« und Alfred Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« heute nicht Schulstoff? Ist die Entstehung der nationalsozialistischen Rassenideologie kein Thema, das zur staatsbürgerlichen Bildung gehört? Wir sind umgeben von fragwürdigen Dokumenten aus zweiter Hand, fast täglich läuft auf irgendeinem Kanal etwas über Hitler und die Frauen oder Hitler und die Hunde. Aber »Mein Kampf«, diese Urzelle des Antisemitismus, der mitten im 20. Jahrhundert zur herrschenden Staatsdoktrin des Massenmords führte, sollen wir nicht lesen dürfen? Ist dieser Text so gefährlich, muss man ihn fürchten? Auf einer CD aus dem Eulenspiegelverlag von 1996 liest Ekkehard Schall aus »Mein Kampf« - da hört man anderes: einen größenwahnsinnigen Spießer.

Verbote machen eine Sache immer erst interessant, die Original-NS-Dokumente aber sind keine magischen Texte, sie werden es - in bestimmten Kreisen - erst, indem man sie mit dem Tabu belegt. Verklärung lässt sich allein dadurch verhindern, dass man Lektüre ermöglicht. Alfred Rosenberg etwa mit seinem »Mythus des 20. Jahrhunderts« von 1930, über 700 Seiten dick, ist überaus ermüdend. An der Oberfläche eine Attacke gegen die offizielle Kirchengeschichte (!), wird im Hintergrund das »arische Volk« und sein »Führer« zum Messias. Wie Rosenberg Hitler in den Himmel hebt, das klingt auf verworrene Weise pathologisch. Es gab nach dem Erscheinen eine heftige Debatte unter Theologen über Rosenbergs obskures Machwerk und die Frage, was überhaupt ein Mythos sei, der Autor kam darin äußerst schlecht weg - 1933 wurde die Diskussion gewaltsam beendet.

Diffuse Kapitalismuskritik gibt es bei Hitler und Rosenberg reichlich, das Unglück der Herrschaft des Finanzkapitals wird immer wieder beschworen. Aber das Kapital - Rothschild ist hierbei der suggestivste Name - steht als jüdische Erfindung und Teil einer Weltverschwörung vor uns. Der Kapitalismus wird rassisch erklärt. Dieser Mechanismus der Verwandlung von Ressentiments (Sozialneid!) in mörderische Ideologie transparent zu machen, scheint mir - heute mehr denn je - die Pflicht einer aufklärenden Kultur.

Und wer ist denn vor allem dagegen, dass die NS-Quellentexte endlich vom Nimbus ihrer Gefährlichkeit befreit werden? Das Bayerische Finanzministerium! Es beharrt auf seinem Urheberrecht (!) an Hitlers »Mein Kampf« bis 2015. Dass eine derartige angemaßte Vormundschaftlichkeit sich auch noch bürokratisch rückversichert, ist fatal. »Mein Kampf« und auch der »Mythus des 20. Jahrhunderts« sind schlechte Bücher, weil sie aus lauter geistigen Kurzschlüssen bestehen. Umberto Eco beschrieb dieses Muster wie folgt: Das Land mit dem Flughafen, auf dem mir ein Koffer gestohlen wurde, wird von lauter Dieben bewohnt.

Antiquarisch konnte ich mir ein Exemplar von Rosenbergs »Mythus des 20. Jahrhunderts« unter der Versicherung kaufen, dass ich es für wissenschaftliche Zwecke benötige. Nein, es scheint mir heute kein gefährliches Buch mehr zu sein und dass es überhaupt je intensiv gelesen wurde, daran zweifle ich, denn in meinem Exemplar sind die Seiten nur zu einem kleinen Teil aufgeschnitten. Da lese ich auf Seite 552: »Nicht im Wohnungsbau in der Großstadt, nach dem noch immer so viel gerufen wird, liegt eine Rettung - dieser fördert vielmehr den Untergang - sondern in der Aufhebung der liberalen volkszerstörenden Freizügigkeit. Die genehmigungslose Einwanderung in Städte über hunderttausend Einwohner müsste in Zukunft unbedingt aufgehoben werden.« Ich denke, dies sollte heute ruhig jeder lesen. Aufhebung der Freizügigkeit als Programm! Der Kleinstadtbewohner und Schollenbewirtschafter als Ideal, der Blockwart als allgegenwärtiger Kontrolleur und Denunziant im Auftrag herrschender Engstirnigkeit. Will jemand in solch einer Gesellschaft leben?

Ad fontis! Zu den Quellen!, ist inmitten einer massenmedialen Flut von NS-Dokumentationen, einschließlich von Goebbels Tagebüchern und zahlreichen Biografien, die beste Vorbeugung gegen neue Legendenbildung und gläubige Verklärung.

* Gunnar Decker ist Philosoph und Redakteur der Zeitschrift »Theater der Zeit«. Er schreibt regelmäßig im nd-Feuilleton.


Hoffnung auf ein gutes Geschäft

Von Hans Coppi **

»Hitler und die Deutschen« ist eine nicht vergehende Debatte über Verstrickung und Leugnung, von Verblendung und Verdammung, von vermeintlichem Aufstieg und tiefstem Fall, von Terror und blindem Gehorsam, von Abscheu und Faszination, von Aufarbeitung und Abwehr. Aber insbesondere von über 50 Millionen Toten, von fabrikmäßiger Ermordung von Menschen und hinterlassener verbrannter Erde.

Nach der 2009 von den Medien überwiegend positiv aufgenommenen und aufgrund des großen Publikumsandrangs noch verlängerten Ausstellung »Hitler und die Deutschen - Volksgemeinschaft und Verbrechen« im Deutschen Historischen Museum, soll nunmehr »Mein Kampf« veröffentlicht werden. Noch nicht als Buch, sondern als 15-seitige Auszüge in »Zeitungszeugen«. Der englische Verleger Peter Mc Gee hatte 2009 diese Faksimileedition kreiert. Thematisch gebündelt erschienen bis Dezember 2010 in 96 Ausgaben Tageszeitungen aus der Nazi-Zeit. Aber auch Exilzeitungen und gelegentlich illegale Schriften aus dem deutschen Widerstand. In der Sache ausgewiesene Historiker kommentierten die einzelnen Ausgaben. Nach einem eher mäßig erfolgreichen Verkauf verordnete Mc Gee 2011 dem Blatt eine Pause.

Nun geht der Verleger mit »Zeitungszeugen« erneut auf den umkämpften deutschen Zeitschriftenmarkt. Offensichtlich sollen kommentierte Auszüge aus »Mein Kampf« die nächste Staffel von »Zeitungszeugen« auf Erfolgskurs bringen und der vermeintliche »Tabubruch«, erstmals das Original in Deutschland abzudrucken, als Verkaufsbeschleuniger eingesetzt werden.

Alles ist vorbereitet, nur das Bayerische Finanzministerium als Rechteinhaber sperrt sich noch. Da Hitler bis zu seinem Tod mit Wohnsitz in München gemeldet war, wurde sein Vermögen nach Kriegsende vom Freistaat Bayern eingezogen. Zu diesen Vermögenswerten zählen auch die Nutzungsrechte an »Mein Kampf«. Sie enden am 1. Januar 2016 (70 Jahre nach Hitlers Tod, gemäß Urheberrechtsgesetz). Das bayerische Finanzministerium hat bisher einem Abdruck des Gesamtwerks nicht zugestimmt und vertritt die Auffassung, dass dieser auch nach Erlöschen des Urheberrechts als Verbreitung verfassungsfeindlicher Propaganda sowie als Volksverhetzung strafbar sei.

In der angelaufenen Debatte, ob Hitlers Kampfschrift den deutschen Lesern häppchenweise zugemutet werden darf, und bei der Abwägung von dafür und dagegen scheinen bisher Gegenargumente kaum Berücksichtigung zu finden. Hitlers Schriften erfüllen den Straftatbestand der Volksverhetzung. Vor der Verbreitung von rassistischen, antisemitischen, sozialdarwinistischen und demokratiefeindlichen Inhalten, die sich bei der Lektüre von »Mein Kampf« zu Genüge bieten, sollte sich die Republik eigentlich schützen.

Der Herausgeber erhofft sich von der Veröffentlichung der Hitlertraktate ein gutes Geschäft. Es bleibt die Frage, wie viel und welche Aufklärung sich die Edition begleitenden und kommentierenden Historiker erwarten und warum diese nicht ohne O-Ton-Passagen betrieben werden kann.

Schließlich geht es nicht um krude oder schräge Auslassungen. sondern um die Verbreitung der Weltanschauung eines der größten Brandstifter und Massenmörder in der Geschichte der Menschheit. Die zentralen Botschaften über die »Entfernung der Juden« und in der »Schaffung von Lebensraum im Osten« führten in den Vernichtungskrieg mit der Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden sowie weiterer Millionen Menschen unter der »slawischen« Zivilbevölkerung. Hitlers Vorstellungen »Zehntausende Verbrecher der Novemberrevolution« hinzurichten, sind ebenso tödliche Realität geworden wie die Aussonderung und Vernichtung selbst definierter unheilbar Kranker.

Vertreter jüdischer Gemeinden und Mitglieder der VVN-BdA befürchten, dass die Faksimileedition von Nazi-Zeitungen mit »Mein Kampf«-Auszügen dem rechtsradikalen Publikum eine neue Plattform bieten könnte. Das mörderische Wirken des »nationalsozialistischen Untergrunds« und seine Vernetzung in der Neonaziszene und der NPD stehen in einem engen Kontext zu ihrem positiven Bezug auf die Ideologie der braunen Bewegung und ihrer Führungsgestalten. Was passiert, wenn die Neonazis mit dann veröffentlichten Zitaten aus Hitlers Pamphlet ihre Aufmärsche schmücken? Schließlich können sie sich darauf berufen, dass diese Parolen durch die Meinungsfreiheit - da inzwischen in »Zeitungszeugen« veröffentlicht - gedeckt sind. Dann wird die Polizei dieses »hohe Gut« sicherlich wieder einmal gegen unseren Protest schützen müssen.

Aber vielleicht rettet uns dieses Mal noch der Freistaat Bayern davor. Wer hätte das gedacht?

** Hans Coppi ist Vorsitzender der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Berlin.

Beide Beiträge erschienen in: neues deutschland, 21. Januar 2012 ("Debatte")


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