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... und kein bisschen leiser

Die Termine des Peter Gingold – und eine neue Aufgabe

Von Ulrich Schneider

Ein Blick auf den Kalender von Peter Gingold im letzten Jahr zeigt dicht gedrängt die verschiedensten Termine: Vorträge bei der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Auftritte bei Kundgebungen der autonomen Antifa, Projekttage in Schulen, Veranstaltungen der Gewerkschaften und der VVN-BdA, Einladungen zu wissenschaftlichen Konferenzen, nicht nur in verschiedenen Städten Deutschlands, auch in Frankreich, Italien ... Peter Gingold ist ein viel gefragter Redner, Gesprächspartner und Zeitzeuge.

Der im Kriegsjahr 1916 in Aschaffenburg in seinem jüdischen Elternhaus Geborene stieß früh zur Arbeiterjugendbewegung, was nicht selbstverständlich war. Sein Vater besaß ein kleines Geschäft als Konfektionsschneider in Frankfurt (Main), wo Peter auch die jüdische Volksschule besucht. Er erlebt den zunehmend brutaler, handgreiflich werdenden Antisemitismus der Nazis. Die Parolen wider das »raffende jüdische Kapital« kann er nicht verstehen. Er fragt seinen Vater, der nur mit größter Mühe seine achtköpfige Familie zu ernähren vermochte: »Du bist doch auch Jude, leidest auch unter wirtschaftlicher Not und Arbeitslosigkeit, wieso sollst Du an allem Schuld sein?« So einfach und gleichzeitig überzeugend ist die Demagogie der Nazis zu enthüllen. Peter belässt es nicht bei Fragen. Er sucht Antworten – und findet Anschluss beim Kommunistischen Jugendverband, organisiert sich auch im Zentralverband Deutscher Angestellter. Politische Erkenntnisse wollen ins Handeln umgesetzt werden. Peter Gingold beteiligt sich schon vor 1933 und erst recht nach der Machtübertragung an die NSDAP am antifaschistischen Kampf. Im Juni 1933 wird er bei einer Razzia der SA verhaftet, kommt erst nach mehrmonatiger Gefängnishaft frei – mit der Auflage, Deutschland zu verlassen.

Er folgt seinen Eltern und Geschwistern, die bereits im Frühjahr 1933 nach Paris emigriert sind. Beschauliche, ruhige Idylle bietet auch die französische Hauptstadt nicht. Der ganze Kontinent ist in Angst und Aufruhr.

Peter Gingold arbeitet im deutschsprachigen antifaschistischen »Pariser Tageblatt« mit und gehört zu den Gründern der »Freien Deutschen Jugend« (FDJ), eine überparteiliche antifaschistische Jugendorganisation. In der Stadt an der Seine trifft er zwei wichtige Entscheidungen, die fortan sein Leben »bestimmen« sollten, privat und politisch: 1937 tritt er der Kommunistischen Partei bei, und 1940 heiratet er Ettie Stein-Haller, die er in der FDJ kennen und lieben gelernt hat.

Über sechzig Jahre waren Peter und Ettie verheiratet und haben sich gegenseitig gestützt und gestärkt, in ihrer Überzeugung, in ihrer Arbeit.

Im französischen Exil kommt ihre erste Tochter Alice zur Welt. Während Ettie sich um das Kind kümmert, muss Peter, von der Gestapo verfolgt, untertauchen. Er schließt sich der Travail Allemand (TA) an, einer Gruppe in der französischen Résistance, die antifaschistische Aufklärung unter deutschen Soldaten leistet.

Währenddessen sind zwei seiner Geschwister in Paris verhaftet und nach Auschwitz deportiert worden. Auch Peter Gingold gerät schließlich doch noch in die Fänge der Gestapo. Man schreibt das Jahr 1943. Es gelingt ihm, auf abenteuerliche Weise zu entkommen. Wenn er darüber vor Jugendlichen spricht, hat er deren ungeteilte Aufmerksamkeit. Aber er macht ihnen auch gleich deutlich, dass der antifaschistische Kampf kein »Räuber und Gendarm«-Spiel war. Er verdanke sein Leben politischer Organisation und internationaler Solidarität. Und er vergisst auch nie, »die Leistung unserer Frauen in der französischen Résistance« zu würdigen. Dies tun auch die Franzosen. Kommendes Wochenende beispielsweise werden sie im südfranzösischen Gaillac-Brens eine Straße nach Dora Schaul benennen, einer Deutschen in der Résistance.

Peter Gingold ist dabei, als im August 1944 der Aufstand zur Befreiung von Paris beginnt. Danach findet man ihn in den Reihen des 1. Pariser Regiments in Lothringen und im April 1945 als Frontbeauftragten bei den Partisanen in Norditalien. Den 8. Mai erlebt er in Turin – dieser Tag ist ihm »das Morgenrot der Menschheit«. Während die Franzosen den aufopferungsvollen Kampf deutscher Antifaschisten in der Résistance zu würdigen wissen, werden diese im eigenen Land vergessen, verschmäht, ja brüskiert. Anlässlich des 60. Jahrestages der Landung in der Normandie fiel der deutschen Bundesregierung nichts Besseres ein, als Veteranen der Hitlerwehrmacht zu den Feierlichkeiten zu schicken. Peter Gingold kam nicht mit Einladung der deutschen, sondern der französischen Regierung. Die Pariser Tageszeitung »Le Monde« brachte eine Sonderausgabe unter dem Titel »Liberateur« (Befreier) heraus, in der Gerhard Leo, Kurt Hälker und Peter Gingold geehrt wurden. Alle drei gehören dem Verband Deutscher in der Résistance, in den Streitkräften der Antihitlerkoalition und der Bewegung Freies Deutschland (DRAFD) an.

Schon bald, nachdem der jüdische Kommunist Peter Gingold nach Deutschland zurückgekehrt war, muss er erfahren, dass Seinesgleichen nicht wohl gelitten sind. Trotzdem oder gerade deshalb engagierten sich Peter und Ettie Gingold unbeirrt in Frankfurt (Main), gehören zu den Gründern der hessischen VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes). Als Mitglied des Sekretariats der KPD und Schulungsleiter der Partei ist Peter mit so mancher Anfeindung und Diskriminierung konfrontiert, muss manchen Streit in jenen Jahren des Kalten Krieges und Adenauerscher Restaurationspolitik ausfechten.

Nach dem Verbot der KPD 1956 muss er zeitweilig wieder in die Illegalität gehen. Trotz der Legalisierung kommunistischer Tätigkeit mit der Neukonstituierung der DKP 1968 erlebt er weiterhin am eigenen Leibe und mit der Familie Ausgrenzung und politische Entrechtung. Mehrere Jahre währt sein Kampf vor deutschen Verwaltungsgerichten um die Wiedererlangung der deutschen Staatsangehörigkeit, die ihm 1933 von den Nazis aberkannt worden war. Bis dahin hat er als »Staatenloser« gegolten. Besonders empört ihn, dass seine zweite Tochter Silvia als Lehrerin viele Jahre mit Berufsverbot belegt wird. Diesmal kommen ihm seine Kontakte mit französischen Antifaschisten zugute. »A bas le Berufsverbote« – diese Losung erklingt millionenstimmig im Frankreich der 70er Jahre.

Dass seine Tochter schließlich als Lehrerin arbeiten kann, zeigt ihm und vielen Menschen in diesem Land, dass es sich doch immer wieder lohnt, um demokratische und soziale Rechte zu streiten, nicht klein beizugeben, gar zu kapitulieren. Diese Erfahrung betont er immer wieder in Gesprächen und Vorträgen, vermittelt sie besonders seinen jungen Zuhörern. Es braucht einen »langen Atem«, weiß Peter Gingold. Auch aus seinem, numehr bereits fast zwanzig Jahre währendem Ringen um endliche Auflösung der IG Farben AG (in Abwicklung). Ob auf der Straße oder auf Aktionärsversammlungen, er drängt beharrlich und leidenschaftlich darauf, diesen Kriegsverbrecherkonzern endlich und für immer in die Vergangenheit zu verbannen und die vorhandenen Gelder dessen Opfern zur Verfügung zu stellen. Dafür mobilisiert er landauf, landab immer mehr Menschen.

Peter Gingolds größte Stärke ist es, andere zu begeistern, aufzurütteln, mitzunehmen. Als er vor zwei Jahren gefragt wurde, ob er sich zum Ehrenvorsitzenden der VVN-BdA wählen lassen wolle, lehnte er ab. Nicht allein aus der ihm eigenen Bescheidenheit, er hatte vielmehr die Sorge, damit auf das »Altenteil« abgeschoben zu werden. Die Delegierten des Bundeskongresses quittierten dies mit der einstimmigen Wiederwahl zum Bundessprecher.

Mit 90 Jahren – die er am Mittwoch, am 8. März, vollenden wird – ist Peter Gingold kein bisschen leiser. Legt noch längst nicht die Hände in den Schoß. Im Gegenteil, er hat sich einer neuen Aufgabe gestellt. Er möchte sichern, dass seine Erfahrungen auch dann noch weitergegeben werden können, wenn er selber nicht mehr die zahlreichen Einladungen zu Veranstaltungen wahrnehmen kann. Er hat begonnen, seine Erinnerungen aufzuschreiben. Dafür sei ihm alles Gute gewünscht – eine leichte Feder, ruhige Minuten ohne Termindruck und sodann viele wissbegierige Leser.

Dieser Beitrag erschein bereits am 6. März 2006 als Artikel im "Neuen Deutschland".



Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Friedenspolitischen Ratschlags im Dezember 2004 ist die Rede Peter Gingolds unvergessen. Sie ist in dem "Ratschlagsbuch" enthalten: Permanenter Krieg oder nachhaltiger Frieden? Kassel 2005 (Kasseler Schriften zur Friedenspolitik Bd. 12), 300 Seiten, 15,- EUR (ISBN 3-934377-94-7)
Mehr über das Buch: hier




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