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Seit Existenz der Bundesrepublik ist das Antifaschismusgebot nie eingehalten worden

Von Peter Gingold

In einer Leserzuschrift an die Frankfurter Rundschau (24.08.2000) nimmt der bekannte Antifaschist Peter Gingold auf einen Kommentar vom 1. August Bezug ("Abscheu reicht nicht" von Vera Gaserow).
Peter Gingold schreibt:

Der Kommentar von Vera Gaserow zum zunehmenden Rechtsextremismus mit Gewalttaten im schrecklichen Ausmaß hat endlich mal darauf hingedeutet, wer hierfür die eigentliche politische Verantwortung trägt.

Kaum ein verantwortlicher Politiker, der nicht seine Betroffenheit und Abscheu kund gibt, mit Bekenntnissen, was da versäumt worden ist, mit Forderungen nun jetzt energisch, entschieden gegen Rechtsextremismus vorzugehen, mit Appellen an die Bevölkerung, bei Gewalttaten nicht mehr wegzuschauen, Zivilcourage zu zeigen undsoweiter.

Wie recht hat die Kommentatorin, wenn sie da auf den Innenminister des rotgrünen Kabinetts hinweist, der ohne jegliches Gespür für die Stimmung im Land die unselige Asyldiskussion wieder anfachte. Hatte denn nicht die verhängnisvolle Asyldebatte in den neunziger Jahren fortwährend das Benzin für die Brandsätze auf die Asylheime geliefert ?

Oder müssen denn nicht die Neonazis sich bestätigt und ermutigt sehen, angesichts der erbarmungslosen Abschiebepraxis von Asylsuchenden ? Ist denn nicht hier in Hessen ein Mann Ministerpräsident geworden mit Schüren von Fremdenhass durch die Unterschriftensammlung gegen eine doppelte Staatsangehörigkeit ?

Wollte denn nicht in Nordrhein-Westfalen einer auch Ministerpräsident werden mittels der ausländerfeindlichen Kampagne "Kinder statt Inder" ?

Gibt es denn nicht in Bayern einen Ministerpräsidenten, der für die Reinhaltung des deutschen Blutes sorgt, indem er davor warnte, das deutsche Volk nicht durch Einwanderung durchrassen zu lassen ? Schließlich exekutieren die Neonazis nur das, was ihnen an solchen Vorlagen geliefert wird.

Weiß Gott, wie viele Aufmärsche von Neonazis mit richterlicher, ja sogar oberrichterlicher Genehmigung, unter dem Schutz der Polizei stattgefunden haben. Und in welch unglaublich massenhaften Umfang die Neonazis ihr vergiftendes nazistisches Gedankengut unter die Bevölkerung bringen können, ja sogar freihaus mit Hilfe der Post in alle Haushaltungen. Es muss doch einem Angst und Bange werden angesichts der Möglichkeiten durch das Internet. Dies alles entgegen dem antifachistischen Verfassungsgebot, Artikel 139, das letzlich die Geschichte diktierte. Sind denn nicht alle Beamten auf das Grundgesetz vereidigt, die Minister, die Justiz, die Polizei ? Das ist im Grund der eigentliche Skandal: Seit der Existenz der Bundesrepublik ist das Antifaschismusgebot nie eingehalten worden. Ganz im Gegenteil. Stets ermuntert, gefördert waren die Neonazis, ihre Parteien, NPD, DVU, Republikaner zugelassen, wählbar und damit auch salonfähig gemacht.

Das ist das, was mich in Wirklichkeit beängstigt, einem Überlebenden des Holocaust und des Widerstandes, der wie alle meiner Leidens- und Kampfgefährten am 8. Mai 1945 nicht einmal im Traume sich vorstellen konnten, dass so etwas in diesem Land wieder aufkommen kann.

Nein, die Betroffenheits- und Abscheuerklärungen der hierfür verantwortlichen Politiker, so aufrichtig sie angesichts der Bluttat in Düsseldorf auch gemeint sein mögen, dürfen sie nicht davon entlasten, was sie selbst hierzu beigetragen haben.
Peter Gingold, Frankfurt am Main

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