In was für einem Land leben wir denn?
Freispruch für rechtsradikalen Gewalttäter - und die Neonazis dürfen marschieren
Selbst wenn es einige Damen und Herren in der Bundesregierung gut gemeint haben sollten mit ihrem "Aufstand der Anständigen" - all ihre Bemühungen werden zunichte gemacht durch eine Justiz, die aus der Geschichte offenbar immer noch nicht gelernt hat. Vor Ostern überraschte das Bundesverfassunggericht mit Verfügungen, die der NPD das Recht auf "nationale Ostermärsche" in zwei NRW-Städten zusprachen. Am 25. April entschied das Berliner Verwaltungsgericht, der rechten Szene sei eine Demonstration am 1. Mai zu genehmigen. Am selben Tag verfügte der Berliner Innensenator, eine antifaschistische 1.-Mai-Demonstration im Bezirk Kreuzberg zu verbieten. Ein Urteil des Magdeburger Landgerichts, über das im Folgenden berichtet wird, setzt all dem aber die Krone auf. Wir beziehen uns auf einen Artikel von Heike Kleffner (Halberstadt), der am 25. April 2001 in der Frankfurter Rundschau erschien und ein hervorragendes Beispiel für kritischen und engagierten Journalismus ist. Wir geben den Artikel gekürzt wieder.
Braune Musik und tödliche "Notwehr"
Ein Rentner wollte das Horst-Wessel-Lied nicht hören und
musste sterben - der Täter bekam einen Freispruch
Von Heike Kleffner (Halberstadt)
Eins, eins, null. Drei Tasten auf dem Telefon, in wenigen Sekunden gewählt. Sie
versprechen Hilfe und Einsatzbereitschaft. Genau die wünscht sich Helmut
Sackers, als er am 29. April 2000 zum Hörer greift und den Notruf der
Halberstädter Polizei anklingelt. Um 22 Uhr wird das Gespräch dort automatisch
aufgezeichnet: "Bei uns im Haus werden Nazilieder gespielt, Horst-Wessel-Lied,
ganz laut." ...
Eine Stunde später ist der 60-jährige Kaufmann aus Kleve tot. Verblutet an vier
Messerstichen im Treppenhaus eines Plattenbaus, in dem seine Lebensgefährtin
wohnte.
"Nachbar nach Streit um laute Musik erstochen", schrieben die Regionalzeitungen
damals. So hatte das Polizeipräsidium Halberstadt den Tod gemeldet. Geht es
nach Polizeipräsident Andreas Schomaker und Staatsanwältin Heidi Pötzsch, soll
es dabei bleiben. Zumal im November drei Richter am Landgericht Magdeburg
geurteilt haben, Helmut Sackers sei in "Notwehr" getötet worden und der Täter -
der 29-jährige Skinhead Andreas P. - freizusprechen.
...
Die Staatsanwältin referiert den Fall: Nach Sackers Notruf fuhren zwei
Streifenpolizisten zum Plattenbau am Stadtrand. Die Beamten gaben später zu
Protokoll, die Musik dort sei zwar laut, die Texte seien aber nicht verständlich
gewesen. Während eines sachlichen Gesprächs mit dem Wohnungsinhaber
Andreas P. habe Helmut Sackers erregt dabeigestanden und sich eingemischt:
"Spielst Du noch einmal Nazilieder, erstatte ich Anzeige!" Danach sei der ältere
Mann in die Wohnung seiner Lebensgefährtin Heide Dannenberg zurückgekehrt,
die Ruhe im Haus wiederhergestellt und der Einsatz für die Beamten beendet
gewesen.
Frau Dannenberg erinnert sich anders: Es blieb laut - und braun. Um Krach allein
hätte sich das Paar nicht weiter gekümmert. Sackers sei es um den Inhalt der
Musik gegangen: "Der war eindeutig rechtsextrem."
Das möge so gewesen sein, sagt die Staatsanwältin, doch werde daraus noch
lange kein politischer Hintergrund. Fest stehe lediglich, dass der Skinhead und der
Rentner an jenem Abend nach dem Polizeieinsatz noch zweimal im Treppenhaus
des hellhörigen Plattenbaus aufeinander trafen. Für die erste Begegnung gibt es
einen Zeugen. Ein Freund von Andreas P. berichtet von einem lautstarken
Wortwechsel, in dessen Verlauf sich der junge Mann über den Polizeieinsatz
beschwert und Sackers gefragt habe, ob er Kommunist sei. Bei der zweiten
Begegnung bleibt es nicht bei Worten. Andreas P. beobachtet vom Balkon aus,
wie Sackers von einem Gang mit seinem Hund zum Hauseingang zurückkehrt.
Andreas P. läuft daraufhin die sechs Stockwerke zum Eingang herunter.
Warum? "Um seinen Freund zu verabschieden", der noch draußen auf dem
Gehweg gestanden habe, sagt die Staatsanwältin. Und warum muss man dazu ein
Messer mit einer 17 Zentimeter langen Klinge mitnehmen? Das habe Andreas P.
"zum Selbstschutz" immer bei sich getragen, seit ihm 1991 ein Unbekannter in
Magdeburg schwere Stichverletzungen zufügte.
Auch für die anschließende tödliche Auseinandersetzung gibt es laut Pötzsch
einen Zeugen. Andreas P.s Verlobte sei dabei gewesen, als Helmut Sackers den
Skinhead im Hauseingang erst beleidigt, dann den Hund auf das Pärchen gehetzt
und schließlich den 30 Jahre Jüngeren gepackt habe, um ihn die Kellertreppe
hinunterzustoßen. "In Todesangst" habe Andreas P. - fest im Klammergriff des
Rentners - zum Messer gegriffen und zugestochen: in die Wade, in den Magen, in
die Brust und unterhalb der Achsel.
Jawohl, sagt Heidi Pötzsch, die Notwehrsituation sei vom Täter und seiner
Freundin im Prozess glaubhaft geschildert worden. Hatte die Verlobte zunächst
nicht das Gegenteil ausgesagt? Dass sie zum Tatzeitpunkt in der Wohnung
gewesen sei? Hier hebt Staatsanwältin Pötzsch die Stimme: "Die Zeugin war
glaubwürdig."
"Die Freundin hat gelogen", meint dagegen der Reporter einer Magdeburger
Zeitung, das sei im Gerichtssaal jedermann klar gewesen. Und Heide Dannenberg
bestätigt: Ihr Lebensgefährte sei ein Mann der Worte gewesen, einer, der viel
diskutiert und als Sozialdemokrat an Toleranz und Demokratie geglaubt habe.
Sicherlich, ihr Freund habe mit seiner Meinung nicht hinterm Berg gehalten. Aber
zuschlagen, noch dazu bei jemandem, dem der lungenkranke ältere Mann
körperlich unterlegen war? ...
Eine letzte Frage an die Staatsanwältin. Warum kam im Prozess nicht zur
Sprache, dass die Ermittler der Mordkommission bei Andreas P. über 80 CDs mit
rechtsextremen Kampfliedern, Dutzende von Kassetten und Videos sowie 90
aktuelle Hefte mit Neonazi-Propaganda fanden? Für verfassungsfeindliche
Propaganda sei ein anderes Dezernat der Staatsanwaltschaft zuständig, sagt Heidi
Pötzsch. Sie kennt die Bands nicht, die sich "Landser", "Blue Eyed Devils" und
"Freikorps" nennen. ... Mit dem Tod von Sackers habe das gar nichts zu tun. Andreas P. habe die Musik nur zum Privatgebrauch gehört, "einschlägig rechtsextrem" aufgefallen sei er nicht.
Die rechte Szene wurde in Halberstadt bis 1996 in einem staatlich geförderten
Projekt betreut. Nur ungern erinnern sich ehemalige Sozialarbeiter, dass Andreas
P. als Mitläufer zu der Clique gehörte, die durch die Gegend fuhr und zuschlug....
Andreas P. habe sich längst aus der rechten Szene gelöst, behauptet sein
Verteidiger. Bernd Wagner, Rechtsextremismus-Experte und Leiter des Zentrums
Demokratische Kultur in Berlin, ist skeptisch: Wer "nicht nur indizierte
rechtsextreme Tonträger, sondern auch neuestes Propagandamaterial von
Neonazigruppen wie Blood & Honour und dem Hamburger Sturm in dutzendfachen
Ausführungen" besitzt, müsse über gute Kontakte zur Szene verfügen.
Dies herauszufinden, ist die Aufgabe von Staatsanwaltschaft und Polizei, sagt der
Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck, den die Angehörigen von Helmut Sackers
nach dem Urteil eingeschaltet haben. Von entsprechenden Ermittlungen findet sich
jedoch in den Akten keine Spur. Kalecks Fazit: Das Gericht habe die
Notwehrsituation nur konstruieren können, weil die politischen Hintergründe
ausgeklammert blieben. Im Prozess sei das Opfer zum Täter, ein rechtsextremer
Skinhead zum "netten Jungen von nebenan" geworden. ... Ob die
Bedenken ausreichen für einen neuen Prozess, muss jetzt der Bundesgerichtshof
entscheiden.
Heide Dannenberg geht es nicht mehr um Strafe. Nur ganz umsonst soll der Tod
ihres Lebensgefährten nicht gewesen sein. ... Sackers habe getan, "wovon alle
immer sprechen". Der Anwalt von Andreas P. sagt: Hätte der Rentner sich
"zivilisiert verhalten", könnte er noch leben. Einiges sei unglücklich gelaufen in
diesem Fall, heißt es bei der Polizei. Pech für Sackers.
Glück für das Land Sachsen-Anhalt, dessen Statistik fürs vergangene Jahr "nur"
ein Tötungsdelikt mit rechtsextremem Hintergrund verzeichnet. Die bürokratische
Registratur verweigert Helmut Sackers die Anerkennung als Opfer brauner Gewalt
und Bürger, der den Mut hatte, dagegen anzugehen. In den Akten ist er beerdigt
als ein Mann, dem die Musik zu laut war.
Aus: Frankfurter Rundschau 25. April 2001
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