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Hayek oder Holzhacken

Position. Die Einsicht, daß Antifaschismus und Antikapitalismus zusammengehören, droht verlorenzugehen

Von Michael Sommer und Susann Witt-Stahl *

Die Umdeutung des Faschismus zur Massenbewegung der Subalternen

Der Faschismus war eine antikapitalistische Revolte, und die Naziterroristen des NSU sind ein Erbe des real existierenden Sozialismus. Diese und andere Ergebnisse der heutigen Faschismusdebatte muten – gelinde gesagt – irritierend an. Was aber ist der Faschismus? Der Streit darüber ist so alt wie er selbst. Und ebenso lange gilt, was der Faschismusforscher Reinhard Opitz Mitte der 1970er Jahre festhielt: »Die Diskussion um den Faschismusbegriff ist alles andere als eine abseitig akademische Debatte. Sie ist ein Teil des politisch-ideologischen Kampfes zwischen den antidemokratischen und den demokratischen Kräften.«

Auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale 1935 hatte Georgi Dimitroff erklärt, der Machtantritt des Faschismus sei die »Ablösung der einen Form der Klassenherrschaft der Bourgeoisie – der parlamentarischen Demokratie – durch eine andere – die offene Diktatur«, die Diktatur der »extremsten Imperialisten« im Angesicht der anwachsenden Kräfte der Revolution.

Friedrich August von Hayek – einer der exponiertesten Vertreter des Neoliberalismus – schrieb nur neun Jahre später in seinem Buch »Der Weg zur Knechtschaft«, der Grund für den Sieg des Faschismus liege gerade nicht in einer »kapitalistischen Reaktion gegen das Fortschreiten des Sozialismus«. »Im Gegenteil«, meinte er, »die Kraft, die diese Gedanken zur Macht brachte, kam vielmehr gerade aus dem sozialistischen Lager. Sicherlich verhalf ihnen nicht die Bourgeoisie, sondern gerade das Fehlen einer starken Bourgeoisie zur Macht.«

Alte Frontstellungen

Die Standpunkte könnten gegensätzlicher nicht sein. Dimitroffs Feststellung wurde prägend für marxistische Faschismusanalysen. In vielen Einzelheiten umstritten, blieb doch gesicherte Erkenntnis: Es ist die herrschende Klasse, die mit der Errichtung des faschistischen Systems versucht, sich einer schwindenden Machtbasis zum Trotz zu behaupten; Faschismus ist eine äußerste Form bürgerlicher Herrschaft. »Kampf gegen den Faschismus – das ist Kampf gegen das kapitalistische System«, hatte 1932 Ernst Thälmann in seiner Antwort auf die Frage »Was will die Antifaschistische Aktion?« erklärt. Und noch 1991 meinte die autonome Göttinger Antifa (M): »Kampf dem Faschismus heißt Kampf dem imperialistischen System.«

Dieser Sicht standen Ansätze gegenüber, die im Faschismus weniger ein Werk der Eliten, denn eines der »Massen« sehen wollten. Das Bürgertum habe den irrationalen und plebejischen Faschismus überwiegend abgelehnt, erklärten die Urheber der »Theorie der agrarischen Rebellion«, der »Mittelstands-« oder der »Modernisierungstheorie«. Einer der bekanntesten war der neurechte Historiker Rainer Zitelmann, der 1987 in seinem Buch »Hitler: Selbstverständnis eines Revolutionärs« den »Führer« als Mann der »kleinen Leute« präsentierte.

Von marxistischen Theoretikern wurden solche Überlegungen stets heftig kritisiert. Reinhard Opitz forderte die klare Distanzierung von allen Versuchen, den Faschismus als Herrschaft »der Massen« zu interpretieren. Die Debatte setzt sich bis heute fort: »Offizieller Antifaschismus der DDR« und »Verfolgung von Nazitätern im liberalen Rechtsstaat« hießen in der Zeit jüngst die Kontrahenten.

Seit dem Ende des realsozialistischen Experiments geraten die politischen Koordinaten durcheinander. In der Faschismusdebatte der parlamentarischen und außerparlamentarischen Linken zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab: Statt der Verantwortung der Eliten rückt die angebliche Verantwortung der unteren Klassen in den Fokus – mit fatalen Konsequenzen.

Ausgangspunkt dieser Entwicklung war der Anspruch westdeutscher Linker, Defizite »traditionsmarxistischer« Faschismusdeutungen – also solcher, die sich auf Dimitroff stützen – zu überwinden. Sie hätten, so der Vorwurf, der Bedeutung des Ideologischen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, ihre Analyse sei »ökonomistisch verkürzt«.

In den 1970er Jahren wurden daher Versuche unternommen, der Bedeutung der Ideologie der faschistischen Bewegung mehr Rechnung zu tragen. Während DDR-Historiker bereits sehr früh minutiös verfolgt hatten, wie die NS-Bewegung gezielt vom Großkapital gefördert worden war, sollte nun die genuine Eigendynamik des Ideologischen erforscht werden. »Die ideologietheoretische Analyse des deutschen Faschismus gibt die sozialistische Zielvorstellung einer gemeinschaftlichen Aneignung unserer Welt nicht preis zugunsten einer Propagierung des autonomen Individuums als Bollwerk gegen faschistische Verführung.« So beharrt Klaus Weber, der mit »Faschismus und Ideologie« eine der grundlegenden ideologietheoretischen Analysen 2007 neu herausgegeben hat, auf der Beibehaltung der marxistischen Grundannahmen zum Faschismus: seinem Klassencharakter als »von den Besitzenden eingesetztem Regime«, wie Wolfgang Fritz Haug 1980 in demselben Band schrieb. Das Handwerkszeug der Faschismusanalyse sollte, so Weber, nicht verworfen, sondern »anders angesetzt, feiner justiert werden«.

Obwohl darauf insistiert wurde, der Faschismus sei die »Diktatur der Bourgeoisie«, sah Reinhard Opitz in diesen Versuchen schon 1980 die »Hauptsäule der marxistischen Faschismustheorie« stürzen – damals konnte er noch nicht ahnen, was noch kommen würde. Denn die Tendenz, die soziale Demagogie des »Nationalsozialismus« für »bare Münze zu nehmen«, verstärkte sich, bemerkte der Historiker Karl Heinz Roth 2004. Gemeint hatte er vor allem das Buch »Hitlers Volksstaat«. Der Historiker Götz Aly spricht darin vom deutschen Faschismus konsequent als »nationalem Sozialismus«, der angeblich Chancengleichheit und Vorteile für »Millionen einfacher Deutscher« brachte und als dritter Weg zwischen Kapitalismus und Bolschewismus schon Konturen des bundesrepublikanischen Sozialstaats enthielt. Folgerichtig sah der »68er-Renegat« Aly (Werner Pirker) die Regierung Schröder/Fischer 2004 vor der historischen Aufgabe des Abschieds von der Volksgemeinschaft. Hartz IV als tätiger Antifaschismus?

Der »Neue Konsens«

Auch Faschismusforscher wie Zeev Sternhell, Stanley Payne, Roger Griffin und andere, deren Arbeiten unter dem Begriff »New Consensus« (Neuer Konsens) zusammengefaßt werden, versuchen, die Wirkmacht des Ideologischen zu bestimmen. Ihr »Konsens«, erklärt Griffin in seinem Buch »International Fascism: Theories, Causes And The New Consensus«, bestehe in der Annahme, der Faschismus lasse sich am besten aus der Perspektive der Faschisten definieren – man müsse ihre Ideologie wörtlich nehmen, um sie zu begreifen. Der Vorteil, so Griffin, »die dieser neue Konsens bietet«, sei, daß der Faschismus so als Ideologie studiert werden könne, »die von den Behauptungen ihrer eigenen Befürworter abgeleitet werden kann«.

Mag die Forschung der Konsens-Autoren die Kenntnis über den Faschismus auch bereichern – ihre Faschismusdefinition beruht doch mehr auf Beschreibung als auf Erklärung. Daher, kritisiert der britische Historiker und aktive Antifaschist Dave Renton, gelinge es ihnen auch nicht, ein kritisches Verständnis des Faschismus zu entwickeln. Ihre Leser würden vielmehr zu dem Schluß geführt, daß die Selbstbetrachtung des Faschismus der wichtigste Faktor in der Definition seiner Ideologie ist. Am besten können Faschisten erklären, was Faschismus ist – »das ist nicht nur keine kritische Theorie des Faschismus, es ist überhaupt kaum Theorie«, so Renton.

Solch fundamentaler Kritik zum Trotz hat der »neue Konsens« in linken Institutionen Anhänger gefunden. So fordert Mathias Wörsching vom Verein für demokratische Kultur in Berlin, es gelte neben der Kontinuität von Kapitalismus und Faschismus auch den Bruch zwischen beiden zur Kenntnis zu nehmen. Dafür müsse man die Aussagen der Faschisten endlich »für bare Münze« und »wortwörtlich ernst« nehmen. Dabei grenzt sich Wörsching von den Ideologietheoretikern der 1970er und 1980er Jahre ab: Ihre »traditionsmarxistischen Restbestände«, ihre Bestimmung des Faschismus wesentlich als »Klassenherrschaft«, müßten überwunden werden. Faschistische Ideologie wird so endgültig zur »unabhängigen Variable« – zur genuinen Kopfgeburt. Daß Ideen geschichtsbildend erst mitwirken, wenn sie, wie Ernst Bloch bemerkte, »mit dem Interesse konfliktlos verbunden« sind, wird nicht reflektiert. So mündet der »neue Konsens« in Idealismus.

Radikalisierung

Heißt es bei Roger Griffin noch, der »Neue Konsens« lehne es ab, den Faschismus einfach als Begleiterscheinung des Kapitalismus zu begreifen, die effektiv nur von einer antikapitalistischen Bewegung bekämpft werden könne, gehen andere Autoren erheblich weiter. Entscheidend ist nämlich nicht, daß man die Faschisten zu Wort kommen läßt, entscheidend ist, was man dabei hören will.

Bei dieser Interpretationsaufgabe werden nicht nur Elemente der »ideologiekritischen« Faschismusanalyse aufgegriffen, sondern weitere Quellen treten hinzu. Eine der wichtigsten ist ein Text des Historikers Moishe Postone. In »Nationalsozialismus und Antisemitismus«, 1979 erschienen, rückt er den Antisemitismus ins Zentrum der Analyse des deutschen Faschismus und kommt zu dem Schluß, daß es sich dabei um eine antikapitalistische Massenbewegung gehandelt habe.

Daraus, daß Karl Marx am Anfang seines Hauptwerkes, dem »Kapital«, aus methodischen Gründen vom Gebrauchswert der produzierten Waren absieht (»abstrahiert«), um ihren Wert gedanklich analysieren zu können, zieht Postone den falschen Schluß, der Wert und seine Formen selbst seien »abstrakt«. Weil die Antisemiten andererseits die »Macht der Juden« als »abstrakt« beschrieben, folgert Postone, ihr Haß gelte eigentlich dem Wert, den sie in den Juden personifizierten. Daher kann er den Antisemitismus und damit auch den deutschen Faschismus »antikapitalistisch« nennen – und Auschwitz eine antikapitalistische »Fabrik zur ›Vernichtung des Werts‹«. War für W. F. Haug 1980 der Antisemitismus noch »die entscheidende Kreuzungsstelle«, die »den Antikapitalismus neutralisiert und die Anrufung des Volkes mit der ökonomischen Herrschaft des Großkapitals kompatibel macht«, wird er bei Postone zur genuin antikapitalistischen Revolte.

Diese Umdeutung des Faschismus hat auch in der Antifa-Bewegung – für viele junge Menschen nach wie vor der Einstieg in eine linke Sozialisation – ihren Niederschlag gefunden. Im Laufe der 1990er Jahre sei dort »das orthodox-linke Verständnis von Kapitalismus mit Elementen der kritischen Theorie modernisiert« worden, schreiben die Autoren des 2011 erschienenen Bandes »Antifa – Geschichte und Organisierung«. Deutlich werde das an der Faschismustheorie, die den Antisemitismus »ins Zentrum der Erklärungsansätze« rücke. Dabei habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, »daß gesellschaftliches Leben nicht so funktioniert, daß sich Herrschaftseliten zusammensetzen und die Weltgeschichte planen«. Das »komplexe Gefüge westlicher Industrienationen« besitze vielmehr eine Eigendynamik, die allen Akteuren des kapitalistischen Systems ihre »Sachzwänge« auferlege.

Was die Autoren als »Modernisierung« der gesellschaftstheoretischen Erkenntnislage beschreiben, ist die Vulgarisierung der Thesen Postones, die seit Ende der 1990er Jahre – also zeitgleich mit der hier katalytisch wirkenden Debatte um »Hitlers willige Vollstrecker« von Daniel J. Goldhagen, der mit seiner Behauptung, »daß das Bewußtsein das Sein bestimmt«, sämtliche Geschichtsforschung in den Idealismus katapultieren will – in linken und Antifa-Kreisen frenetisch gefeiert werden. Daß der Kapitalismus »abstrakte, apersonale Herrschaft« ist, ist heute für viele Antifaschisten ebenso selbstverständlich wie die Behauptung, Faschismus sei der »Haß« auf eben dieses »Abstrakte« und Affirmation des »Konkreten« – worunter alles subsumiert wird, was der Alltagsverstand eben im Gegensatz zu »abstrakt« verstehen mag: Gebrauchswert, nicht Wert; gesellschaftlicher Zusammenhalt, nicht soziale Kälte, oder »z.B. etwa Holzhacken« (beim BAK Shalom der Linkspartei), nicht Bankgeschäfte. Wer da hassen und affirmieren soll, also Nazi ist, bleibt im dunkeln: Die Rede ist nur von »den Menschen« oder »den Warensubjekten«.

Die – jedenfalls im Ursprung noch – »akademische Debatte« entfaltet eine verheerende Wirkung, sobald sie die Bühne des »politisch-ideologischen Kampfes« (Opitz) betritt. Denn faschistische Formation und antikapitalistische Arbeiterbewegung verschwimmen aus der Perspektive dieser zur bloßen »Begriffsanknüpfungs-Methode« (Marx) verkommenen Theorien: Nicht länger Kapitalismus und Faschismus als sein Extrem hier und antikapitalistische Bewegung dort erscheinen als die welthistorischen Feinde, sondern der zur »Moderne« und »Zivilisation« schlechthin verklärte Kapitalismus einer- und die faschistisch-antikapitalistische Massenbewegung andererseits. Hayek, der 1944 meinte, einen »deutschen Schlachtruf der sozialistischen Revolution des Ostens gegenüber dem liberalen Westen« vernehmen zu können, hat unerwartet Konjunktur. Und das mit allen Konsequenzen.

Kapitalismus oder Barbarei

»Während in der Bundesrepublik die Präsenz der Westalliierten die Westbindung Konrad Adenauers forcierte, wurde in der nestwarmen Nischengesellschaft der DDR jener unheimliche Gemeinschaftsgeist konserviert und weiter kultiviert, der auch schon den Nationalsozialismus zur Massenbewegung werden ließ«, hieß es unlängst in der »linken« Wochenzeitung Jungle World. Es sei daher »alles andere als Zufall, daß der Zerfall des autoritären Antifaschismus solche Zombies wie den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) hervorbrachte. Vielmehr ist dieser ein originäres Erbe der DDR.«

So fallen die letzten Bastionen einer Faschismusanalyse, die sich einer antikapitalistischen Perspektive verschrieben hatte. Gemäß dem Diktum des Philosophen Max Horkheimer, die kapitalistische Welt erzeuge den Faschismus aus sich, galt ihr der Faschismus als im Zentrum der »Zivilisation« entstanden. Diese Erkenntnis wird nun auf den Kopf gestellt: Das Grauen des Faschismus wird als barbarischer »Einbruch in die existierende Gesellschaft« interpretiert, statt es »aus ihren Widersprüchen zu begreifen«, so der Historiker Kurt Pätzold.

»Der Nazifaschismus war gerade selbst das Andere, das Jenseits des Westens, der Aufklärung, der Zivilisation«, behauptet etwa Martin Dornis, Autor und Referent bei der Rosa Luxemburg Stiftung. Und er folgert: »Nie wieder kann sich die Kritik, wenn sie es denn je konnte, per se auf die Seite irgendwelcher Marginalisierter stellen. Sie begreifen sich als Opfer der Zivilisation und schließen sich zusammen, um die Herrschaft des barbarischen Kollektivs gegen die abstrakte Vermittlung durchzusetzen«, meint Dornis und macht aus seinem Haß auf die unteren Klassen kein Geheimnis: »Der Nazifaschismus, das war die Subalterne an der Macht.«

Auf Weltmaßstab gebracht wirken diese Ideen wie ein Kaleidoskop. Mögen die Farben auch wechseln, die Anordnung folgt immer demselben Muster: Antimoderne Massen bedrohen die Zivilisation, die es mit allen Mitteln – praktischer Antifaschismus – zu verteidigen gilt, vor allem im Nahen Osten. Moderne »Antifaschisten« (von dem Historiker Gazi Caglar treffend als »Huntington-Linke« charakterisiert) behaupten die Existenz eines »Islamfaschismus« mit derselben Vehemenz, wie US-Neocons und Christian Rights. So schrieb der Autor Gerhard Scheit 2008 in der Antifa-Zeitschrift Phase 2, Nationalsozialismus und Djihadismus seien gleichermaßen grenzenloser Faschismus. Was bei den Deutschen »die Vorsehung des Führers und der Glaube an die Dominanz der arischen Rasse« war, sei bei »den Muslimen« die »Vorstellung der umma«. Wer, wie der Historiker und Phase-2-Autor Volker Weiß, das bei Geert Wilders, Pro Deutschland und deren Dunstkreis aus guten Gründen populäre Wort »Islamfaschismus« lieber vermeiden will, der maskiert die Hetze mit akademischem Duktus, behauptet, daß sich der politische Islam sehr wohl unter die Faschismusdefinitionen des »New Consensus« subsumieren lasse und spricht von »religiösem Faschismus«.

Und wieder sollen Westbindung und kapitalistischer Markt einzig noch helfen. Antifaschismus verkommt zum prokapitalistischen Hosianna und zur neoliberalen Legitimationsideologie für Krieg und imperialistische Neuordnung. Diese Art »Antifaschismus« erlaubte es, die Präsidentschaftskandidatur der Sarkozy-Wahlkämpferin und Iran-Kriegstreiberin Beate Klarsfeld, als »antifaschistisches Zeichen« zu deuten – nicht nur in der Parteispitze der Linken, sondern auch in Teilen der DKP.

Fehdehandschuh aufnehmen

Die antifaschistische Bewegung konnte »die Verschärfung der gesellschaftlichen Verhältnisse« nicht aufhalten, resümieren die Autoren des »Antifa«-Büchleins die Mißerfolge der letzten Dekaden. Ob sie dazu künftig in der Lage sein wird oder ob sie diese Entwicklung nicht sogar noch befördert, wenn ein beachtlicher Teil der Bewegung meint, der Kampf gegen den Faschismus sei der Kampf gegen die »Subalterne«, erscheint mehr als fraglich. Denn was Klaus Weber als Absicht hinter Götz Alys Thesen erkennt, gilt nicht minder für den »modernisierten« Antifaschismus: Er dient – gewollt oder nicht – vor allem dazu, »die Kapitalseite zu entlasten und die aufs Volk setzende sozialistische Bewegung anzugreifen – und sei es in Form des Angriffs auf die DDR als ›Volksrepublik‹«. Solch ein »Antifaschismus« hat nicht nur alle Brücken zum Antikapitalismus abgebrochen. Er macht sich umgekehrt zum Erfüllungsgehilfen entfesselter kapitalistischer »Plusmacherei« (Marx) auf allen Wegen, die sie noch einschlagen wird.

Bertold Brecht notierte: »1. Nach Angabe der linken Emigration bedroht der Faschismus die bürgerliche Welt. In Wirklichkeit versucht er, sie zu retten (versucht sie, sich in ihn hinein zu retten). 2. Nach Angabe der Linken läßt sich die bürgerliche Welt ohne Faschismus und also ohne Aufgabe der bürgerlichen Kultur, etwa durch Reformen, konservieren. In Wirklichkeit ist die bürgerliche Welt nur unter Aufgabe der bürgerlichen Kultur zu retten. 3. Dieser Wirklichkeit trug die Linke, ohne sich Rechenschaft davon zu geben, bereits durch ein Verhalten Rechnung, welches Teile der bürgerlichen Kultur zur Rettung der bürgerlichen Welt Stück für Stück preisgab.«

Wer propagiert, Faschismus sei nicht eine Form bürgerlicher Herrschaft, sondern das Aufbegehren gegen diese Herrschaft; wer sich daher gegen jene richtet, die gegen Unterdrückung und Marginalisierung sich wehren; wer schließlich meint, so die »Zivilisation« gegen die »Barbarei« zu verteidigen, der wird wieder dazu beitragen, die bürgerliche Kultur preiszugeben. »Wir sollten nicht zurückweichen, sondern den Fehdehandschuh aufnehmen und uns ins Getümmel stürzen«, so forderte Karl Heinz Roth zu Beginn der 1980er Jahre einen selbstbewußten Antifaschismus. Sein Aufruf hat an Dringlichkeit nichts verloren. Im Gegenteil.

Die Antifa 2.0 und der Haß auf die Unterschichten

Nie wieder Deutschlandfähnchen auf Kleinwagendächern. Dafür zu sorgen, zählen viele Antifas, nicht nur während Fußballweltmeisterschaften, zu ihren vornehmsten Pflichten. Einige bekämpfen mit Inbrunst die »virulente Gefahr«, die Hipstern und Besserverdienenden in Neukölln von dem dort ansässigen Lumpenproletariat droht. Zur Opposition gegen die gewaltsame Durchsetzung imperialer Großmachtinteressen Deutschlands, heute am Hindukusch, morgen vielleicht in Mali, zählen sich hingegen nur wenige. »Laßt es krachen, laßt es knallen – Deutschland in den Rücken fallen!« skandieren Antifaschisten auf ihren Demonstrationen, und tun dann genau das nicht. Ob es um »Leopard-2«-Panzer für Saudi-Arabien geht, den U-Boot-Deal mit Israel oder eine nicht zuletzt von deutschen Exportweltmeisterinteressen dominierte Spardiktatur über die Arbeiterklasse in Südeuropa: Einem großen Teil der Antifa fällt dazu bestenfalls nichts ein.

Einige treiben die Diskreditierung emanzipativer sozialer Kämpfe massiv voran. Sie möchten eine Erkenntnis von Bertolt Brecht lieber heute als morgen auf dem Müllhaufen der Geschichte sehen: daß den Faschismus nur bekämpfen kann, »wer das Privateigentum an Produktionsmitteln, und was immer dazugehört, aufgibt und wer also zusammen mit jener Klasse kämpfen will, die das Privateigentum am heftigsten bekämpft«.

Abschied vom Proletariat

In den 1990er Jahren noch ein schleichender Prozeß, war spätestens 2001 klar, daß es Bestrebungen gab, den revolutionären Antifaschismus von der Agenda der Linken verschwinden zu lassen. Die Antifaschistische Aktion/Bundesweite Organisation (AA/BO) gab auf dem Kongreß »2001 – das Jahr, in dem wir Kontakt aufnehmen« ihre Auflösung bekannt. Als Zerfallsprodukt und gleichzeitiges Aufbruchssignal in ein neues Antifa-Zeitalter, das vor allem von Spaltungsprozessen und Anästhesierung radikaler Praxis gekennzeichnet ist, wurde die »Antifa 2.0« aus der Taufe gehoben und die Zeitschrift Phase 2 gegründet.

Die »schematische Rückführung« gesellschaftlicher Übel auf den Kapitalismus, ein »typisches Überbleibsel des revolutionären Antifaschismus«, sei in Phase 2 mehr und mehr unterlassen worden, stellt ein Gründungsmitglied der Redaktion zufrieden fest. Zwar ließen noch nicht alle vom »Arbeiterbewegungsmarxismus« vollständig ab, einige hielten noch an »Instrumenten der traditionellen Kapitalismuskritik« fest. Aber ein »Großteil der Antifa« habe schon »die Konstruktionen von Volk und proletarischen Massen als Teil des Problems« erkannt, lautete 2002 die Vollzugsmeldung von Phase 2, die programmatisch für die Antifa 2.0 werden sollte.

Abgesehen davon, daß der Begriff »Volk« nicht unweigerlich mit dem völkischen Denken der Nazis oder anderer Reaktionäre in Verbindung gebracht werden kann (weil er in traditionslinken Publikationen oftmals als Synonym für die unteren Klassen verwendet wurde), die Kategorie des »Volkes« im Sinne einer Nation keine statische, sondern ständig im Wandel ist, ihre historisch spezifischen Erscheinungsformen hat und kein Matrixbestandteil traditionslinker Theoriebildung ist – hier wollen offenbar ausgerechnet diejenigen, die heute lauthals das Erbe der 1932 aus der KPD hervorgegangenen Antifaschistischen Aktion für sich beanspruchen, mit der Arbeiterbewegung kurzen Prozeß machen.

Diese Haltung hat sich in Teilen der Antifabewegung etabliert. Die These, Faschismus sei eine Form bürgerlicher Herrschaft, dürfe nicht verabsolutiert werden, behauptete jüngst das Bundesausschußmitglied der VVN-BdA und Redakteur ihres Organs antifa, Peter C. Walther. »Und sie darf auf keinen Fall dazu führen, deshalb in der Konsequenz als Antifaschist ›bürgerliche Herrschaft‹ bekämpfen zu wollen.« Der Buchautor Conrad Taler betont in einem antifa-Beitrag, daß der Antifaschismus »kein ›Teil des internationalen Klassenkampfes‹« ist.

Daß der Kapitalismus eine durch die private Aneignung gesellschaftlicher Arbeit vermittelte Herrschaft des Menschen über den Menschen ist, gilt vor allem vielen autonomen Antifas 2.0 mittlerweile als abwegige Vorstellung. Auf unzähligen Homepages ist unisono von einer »apersonalen Herrschaft« des Kapitals die Rede. Privilegierte gebe es genausowenig wie US-Imperialismus, meint beispielsweise die antifaschistische Gruppe Tomorrow. Wer anderes behaupte, erliege nicht nur einem »Trugschluß« – die »Einbildung einer herrschenden Klasse o.ä. ist bereits der erste Schritt zur Ideologie des Antisemitismus«. Ausbeuter und Ausgebeutete würden der »Gewalttätigkeit« des Systems »gleichermaßen unterworfen« sein: »Der Unternehmer, welcher dafür Sorge tragen muß, daß eine gewinnbringende Produktion am Leben erhalten wird, ebenso wie die Arbeiterin, welche ihre Arbeitskraft dafür auf dem Markt anzubieten hat«, verkündet eine Antifa-Gruppe, was Philipp Rösler und der Arbeitgeberverband immer schon gewußt haben – und eine Lüge ist, die Karl Marx erschaudern und solchen Demagogen entgegnen ließ: »Überhaupt ist zu bemerken, daß da, wo Arbeiter und Kapitalist gleich leiden, der Arbeiter an seiner Existenz, der Kapitalist am Gewinn seines toten Mammons leidet.«

Echte und wahre Nazis

Auch die Antifa RGB findet, die »Macht der Reichen« sei eine Phantasmagorie – beispielsweise von der Globalisierungskritikerin Arundhati Roy. Weil sie nicht verstanden habe, »daß jeder Mensch auf der Welt seinen Teil zur Erhaltung der bestehenden Verhältnisse beiträgt, indem er gegen Lohn arbeitet, Geld benutzt, wählen geht« und ihre Argumentation damit »dem klassischen Antisemitismus unverschämt ähnlich ist«, steht Roy im Fadenkreuz der Antifa 2.0. Und wenn Phase 2-Antifas heute ihren Haß auf den »Prolet-Arier« herausbrüllen, dann gilt die Aggression meist weniger den »Ariern«, den Neonazis, sondern dem Proleten: »Gerade antikapitalistischer Widerstand manifestiert sich leicht als antisemitischer, auch in der deutschen Arbeiterbewegung«, lautete schon vor zehn Jahren ein Argument in einem Streit zwischen Hannoveraner Antifas.

Je intensiver deutsche Nazigegner darüber wachen, daß von deutschem Boden ja nie wieder ein Klassenkampf ausgeht, desto mehr können sie sich für die Idee begeistern, den welthistorischen Imperativ der Linken »Nie wieder Krieg!« durch »Antifa heißt Luftangriff« zu ersetzen. »Die erste große Welle der Friedensbewegung in der 70er und 80er Jahren bildete das Fundament der völkischen Wiedervereinigungsrituale, mit der Folge des explosionsartigen Anstiegs der Pogrome gegen alles Undeutsche«, erklärte 2003 ein Redner auf einer Antinazidemonstration im Ruhrgebiet diese affirmative Wende.

Anetta Kahane, Vorstandsvorsitzende der »konsequent gegen Rechtsextremismus« engagierten Amadeu Antonio Stiftung, hat Antiimperialisten und Abgeordneten der Linkspartei, die sich an der »Free Gaza!«-Flotte beteiligt haben, den Kampf angesagt. Die seien nämlich allesamt nicht besser als »ihre Großeltern, als die sich noch Herrenmenschen nannten«, würden immer noch auf Lenin hören und sich menschenverachtende und reaktionäre Bündnispartner suchen. Daher streitet Kahane lieber für das westliche Sanktionsregime gegen den Iran – beispielsweise auf der Kundgebung »Freiheit statt Islamische Republik« zusammen mit der neokonservativen Kriegslobby (Stop the Bomb und das Iranian Freedom Institute). Die hat sich stets als zuverlässiger Werbepartner erwiesen, wenn es um die Durchsetzung von Menschenrechten geht – etwa im Irak mit Hunderttausenden Opfern in der Zivilbevölkerung.

Komplizen der braunen Kameraden sind laut solchen Antifaschisten nicht nur Antiimperialisten, Franz Josef Degenhardt und die DKP. Sogar der Résistancekämpfer und Buchenwald-Überlebende Stéphane Hessel steht unter Verdacht. Hessel sei nämlich Sprachrohr aller, die sich »über Spekulanten, Zionisten, Wall Street und Besatzer aufregen«, wie auf einem Flugblatt des Bündnisses gegen Antisemitismus Duisburg zu lesen ist, das gegen den Auftritt Hessels vor einigen Monaten in Essen demonstriert hat. »Dieser alte Mann kann uns über Antifaschismus nichts mehr erzählen.«

Wer hingegen vom Antikapitalismus emanzipierten Antifas – in der autonomen Szene, der Linkspartei oder Rosa-Luxemburg-Stiftung – etwas über Antifaschismus erzählen kann, sind Neokonservative wie Stephan Grigat, Matthias Künzel oder der Rechtspopulist Henryk M. Broder.

Entsprechend geht es in deren Vorträgen in linken Zentren wie in den Hörsälen der Universitäten, beispielsweise im Rahmen antifaschistischer Hochschultage, so gut wie nie gegen die echten Nazis, dafür umso häufiger gegen die »wahren« Nazis: »die Moslems«, Judith Butler, die Keynesianer und ATTAC, die DDR, Moshe Zuckermann und die israelische Linke. Gern auch gegen den »deutschen Erinnerungswahn« und die angeblich bevorstehende »Endlösung der Israelfrage«.

Mit Adorno gegen »Hartzis«

Für die gute Sache werden im gehobenen Antifa-Diskurs marxistische Theoriebestände, allen voran die Kritische Theorie, geplündert, verstümmelt, neutralisiert, bis sie ins Prokrustesbett derjenigen passen, die aktive Gewerkschafter und Occupy als braune Gefahr denunzieren und Hartz-IV-Betroffene als potentielle SA-Rekruten – allzeit pogrombereit. Der ausgebeutete Jobber könne verblendet durch die »klassentranszendierende Kraft des Fetischismus und seiner Aufhebung« auf dumme Gedanken kommen, macht ein besorgter Antifaschist in der Zeitschrift Prodomo auf den überdurchschnittlichen Judenblutdurst des Niedriglöhners aufmerksam und warnt vor der »falschen Aufhebung der Klassengesellschaft«. Denn »bald schon mag es dann heißen: ›Haltet den Dieb!‹, und man zeigt auf den Juden«, bringt er Adornos und Horkheimers »Elemente des Antisemitismus« gegen die unteren Klassen in Stellung. Daß die Kritischen Theoretiker mit »man« nicht »die da unten«, sondern das Kapital und seine Träger als Urheber und Profiteure ausgemacht hatten – »Die herrschende Klasse wird nicht nur vom System beherrscht, sie herrscht durchs System und beherrscht es schließlich selber« (Adorno) –, ficht den vom Jagdinstinkt auf den »Nazi-Hartzi« (wie ein Blogger ALG-II-Bezieher ironisch bezeichnete) getriebenen Antifaschisten nicht an.

Von dem von Adorno und Horkheimer genannten wahren ökonomischen Grund des modernen Antisemitismus, der »Verkleidung der Herrschaft in Produktion«, daß die Fabrikanten sich »unter die Schaffenden einreihten, während sie doch die Raffenden blieben wie ehedem«, will eine Antifa, die mit Friedrich August von Hayek der Meinung ist, daß Nazis »eine Spezies der Gattung des Kollektivismus sind«, freilich nichts wissen. Denn Horkheimer und Adorno entlarven den Judenhaß als notwendig falsches Bewußtsein, das die Klassenherrschaft aufrecht erhält und vor allem einem nützt: Dem Kapitalisten. »Als der wahre Shylock bestand er auf seinem Schein«, so Horkheimer und Adorno, und seine produktive Arbeit »war die Ideologie, die das Wesen des Arbeitsvertrags und die raffende Natur des Wirtschaftssystems überhaupt zudeckte«.

Die Quantität, alles und jeden mit dem Antisemitismusvorwurf zu belegen, schlägt um in Qualität – die antisemitische Ideologie wird zur Weltformel, zum Hauptwiderspruch erhoben. »Mit Horkheimer läßt sich sagen: Im Nazifaschismus ist die Gesellschaft nicht mehr der Grund des Antisemitismus, sondern der Antisemitismus wird zur Ursache dafür, daß es so etwas wie Gesellschaft überhaupt noch gibt«, meint beispielsweise der von Antifa-Gruppen häufig konsultierte Referent Martin Dornis. Selbstverständlich hat Horkheimer nicht so einen Blödsinn geredet. In dem Brief von 1941, auf den Dornis sich bezieht, sagt Horkheimer, »so wahr es ist, daß man den Antisemitismus nur aus unserer Gesellschaft heraus verstehen kann, so wahr scheint es mir zu werden, daß heute die Gesellschaft selbst nur durch den Antisemitismus richtig verstanden werden kann« – also etwas ganz anderes. Viel interessanter ist aber, daß Dornis und seine Gesinnungsgenossen die marxistische Antisemitismusforschung von den Füßen auf den Kopf stellen und behaupten, das falsche Bewußtsein des Judenhasses bestimme das gesellschaftliche Sein. Setzte sich dieses antiaufklärerische Denken durch, hätte sich der historische Materialismus samt Kritischer Theorie erledigt, und nicht nur die antifaschistische Linke verschwände in der Nebelregion der idealistischen Welt.

In deren Grenzbezirk ist ein anderer, bei organisierten Antifas gern gesehener Gast längst angesiedelt: Von dem Freiburger »Ideologiekritiker« mit ausgeprägter Neigung zum Mystizismus Joachim Bruhn können jene nicht nur erfahren, daß das Kapital ebensowenig zu verstehen ist wie Gott. Sie können auch lernen, daß, wer »typisch proletarisch« ist, quasi fürs Nazi- und Antisemit-Sein vorbestimmt ist. Die Arbeiterklasse habe sich »im Staat vom Kampf emanzipiert. Und das proletarische Interesse, das Subsistenz wie Existenz des Körpers, der die Arbeitskraft behaust, im politischen Souverän garantiert sieht, macht sich leidenschaftlich (nicht etwa im Zuge von Manipulation) ans Vernichtungswerk«, meint Bruhn. »Nach der Wannsee-Konferenz ist jede Rede vom Klassenkampf nur Beschönigung und Verdrängung der Geschichte.«

Nur konsequent, daß heute auf Antifa-2.0-Demos Parolen wie »Was macht den Leninisten Dampf? – Wertkritik statt Klassenkampf!« zu hören sind. Wenn Kapitalismus lediglich als eine von Geisterhand in Bewegung gesetzte kybernetische Maschine begriffen und jeder Versuch, sie zu stoppen, unweigerlich in einem volksgemeinschaftlichen Blutbad enden muß, dann muß dem Kollektivsubjekt, das laut Marx und Engels für die revolutionäre Überwindung der warenproduzierenden Gesellschaft zuständig ist, dringend Einhalt geboten werden.

Geschichtsrevisionismus

Das geht am besten durch Erosion der Erinnerung an die historischen Leistungen der Arbeiterbewegung und Entstellung der Geschichte des Realsozialismus. Enthistorisierungen, Entkontextualisierungen bis hin zu lupenreinen Fälschungen – wenn’s darum geht, Antisemitismus zu einem zentralen Wesenszug der Traditionsmarxisten und die DDR zum Konservatorium des Judenhasses zurechtzulügen, heiligt der Zweck nahezu jedes Mittel.

So findet der Historiker Thomas Haury, daß der Antizionismus der DDR von Antisemitismus durchsetzt gewesen sei. Sein Kollege Olaf Kistenmacher möchte gern, daß die ab den 1920er Jahren wütenden Kämpfe zwischen der zionistischen und der arabischen nationalen Bewegung in Palästina antisemitische Pogrome waren, für die im Organ der KPD Die Rote Fahne um ideologische Unterstützung geworben worden sei. Diese Zeitung habe sogar »eine eigene, scheinbar antikapitalistische und sogar ›antifaschistische‹ Variante des Antisemitismus entwickelt, der dazu führte, daß die kommunistische Bewegung sich auch nach 1945 schwer tat, ›Juden‹ als Opfer des Faschismus anzuerkennen«, schreibt Kistenmacher in Phase 2.

Daß das Zentralkomitee der KPD kurz nach der Reichspogromnacht aus dem Untergrund einen verzweifelten Appell zur Solidarität mit den Verfolgten (»Helft unseren gequälten jüdischen Mitbürgern mit allen Mitteln!«) an die Deutschen richtete, ist solchen Historikern bestenfalls eine Randnotiz, oft gar keine Erwähnung wert. Gleiches gilt für die Tausenden Kommunisten im Widerstand, die in den KZ zu Tode gemartert wurden. Hier geht es nicht darum, im Laufe von 180 Jahren tatsächlich begangene Fehler der Arbeiterbewegung sowie reaktionäre Epiphänomene zu analysieren und zu kritisieren. Hier geht es um Geschichtsrevisionismus und historische Delegitimierung des Antikapitalismus.

»Friendly Fascism«

Gesellschaftliche Ungleichheit werde »immer wieder durch die Dämonisierung der Menschen am unteren Ende gerechtfertigt«, lautet eine ebenso banale wie richtige Feststellung des Journalisten Owen Jones in seiner Analyse des wachsenden neuen-alten Klassenhasses in Großbritannien. Äußert sich die neoliberale Rechtfertigungsideologie für brutale Sozialkürzungen in der immer noch vom Feudalismus beeinflußten politischen Kultur dort durch Verächtlichmachung bis hin zu offener Gewalt gegen die »Prolls« – im Täterland haben die happy few und ihre Claqueure entdeckt, daß die Arbeiterklasse vor allem ein nazistischer Mordbrennermob ist. Die empirische Forschung hat bewiesen, daß das nicht wahr ist. Aber das hält Hayeks Hilfsideologen nicht von der Exkulpation der Auftraggeber der Massenvernichtung durch Arbeit ab: »Wenn man die Gründe für Auschwitz wirklich verstehen will, soll man endlich aufhören, plakativ mit Namen wie ›Flick‹, ›Krupp‹ oder ›Deutsche Bank‹ zu operieren«, meint der Historiker Götz Aly, der unter »Antifaschismus« den radikalen Bruch mit einer Politik der »Steuerhärten gegen die Bourgeoisie« und »Steuermilde für die Massen« versteht.

Bei dieser an Perfidie kaum zu überbietenden vergangenheitspolitischen Umschuldung von oben nach unten leisten viele aus der Antifa 2.0 Schützenhilfe. Nicht wenige bewegen sich auf die Seite derer, die Sozialdarwinismus und das Plädoyer für Kriege als Fortsetzung der freien Marktwirtschaft mit anderen Mitteln zu Maximen der westlichen Gesellschaften erheben wollen – und sie in den strukturellen Faschismus treiben.

Der Sozialwissenschaftler und Exmitarbeiter des US-Senats Bertram Gross hatte bereits 1980 in der wachsenden Konzentration von Reichtum und Macht (»Big Business« und »Big Government«) im Neoliberalismus das Potential für einen »Friendly Fascism« erkannt. »Schwarze Hemden« oder »Massenaufmärsche« suche man in diesem »schleichenden Faschismus« vergeblich. Er erscheine »super-modern und multiethnisch« mit »Samthandschuhen« und »exklusiven Abendessen, Kreditkarten und Apfeltorte. Es ist ein Faschismus mit einem Lächeln«. Aber seine Gier werde den Menschen chronische Rezession und Arbeitslosigkeit bringen, Umweltzerstörung, Militärinterventionen und Kriege in ungeahntem Ausmaß – und nicht zuletzt die Aushebelung ihrer Grundrechte.

Inzwischen haben deutsche Innenminister längst offen ausgesprochen, die Verfassung sei »immer stärker die Kette, die den Bewegungsspielraum der Politik lahmlegt«, und sie arbeiten mit ihren US-amerikanischen und europäischen Kollegen an der Installation des Feindstrafrechts (derzeit vor allem gegen Menschen aus arabischen Ländern). Allein der »kalte Bürgerkrieg«, den der Neoliberalismus gegen »verkrustete Tarifautonomie« und »sozialen Größenwahn« führe, müßte die »Analogien zwischen faschistischer und neoliberaler Ideologie« in den Fokus linker Politik rücken, forderte der Ökonom Herbert Schui in seinem Buch »Wollt Ihr den totalen Markt?« schon 1997. Ihre Träger müßten sich deutlich machen, daß Faschismus und Neoliberalismus ein gemeinsames Ziel haben: Die Verteidigung des Kapitalismus.

Von dieser Wahrheit hat sich die Antifa 2.0 Galaxien weit entfernt. Sie initiiert lieber ideologische Feldzüge gegen eine Arbeiterbewegung, die derzeit invalide existiert, gegen die DDR, die nicht mehr existiert, und gegen den »Islamfaschismus«, der niemals existiert hat. Sie liefert genau den »Antifaschismus«, den der Neoliberalismus braucht. Sie hat einen Grad an Selbstentfremdung und Selbstverleugnung erreicht, der sie kaum etwas mehr verabscheuen läßt als die Aussage: »Eine andere Welt ist möglich«.

* Michael Sommer arbeitet zur Marxschen Theorie des Kapitalismus. 2008 hat er zusammen mit dem Marx-Forscher Dieter Wolf eine Kritik am griechisch-französischen Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Cornelius Castoriadis veröffentlicht.
Susann Witt-Stahl ist freie Journalistin und Autorin. Sie hat diverse ideologiekritische Aufsätze zur Propaganda für neue imperialistische Kriege, zum Islamhaß und zur Instrumentalisierung der Antisemitismuskritik veröffentlicht.


Dieser Beitrag erschien in zwei Teilen in: junge Welt, 23. und 24. Oktober 2012


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