Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Was tun gegen den Rechtsruck?

Magdalena Marsovszky zu Nationalismus und Romafeindlichkeit in Europa / Die Kulturwissenschaftlerin und freie Publizistin ist Vorstandsmitglied im Villigster Forschungsforum


Neues Deutschland: Kippt Europa nach rechts?

Marsovszky: Derzeit ist überall in Europa eine reaktionäre Welle zu beobachten, eine große Welle der Diskriminierung von Menschen, die eine andere Hautfarbe haben. Beispielsweise in Frankreich: Was dort derzeit mit den Roma passiert, ist überhaupt nicht förderlich für den europäischen Gedanken, für die Demokratie und bietet einen Nährboden für verschiedene Rassismen – besonders für die rechten und extrem rechten Gruppierungen in den postkommunistischen Ländern. Zugrunde liegt dem eine Identitätskrise in Europa.

Was für eine Identitätskrise?

In den postkommunistischen Staaten ist diese Krise groß. Es gibt nebeneinander existierende geschlossene Gesellschaften, in denen der Eindruck entsteht, Ethnonationalismus wird mit Demokratie gleichgesetzt. Viele sehnen sich nach einer geschlossenen ethnonationalen Gemeinschaft. Das ist nichts anderes als »Deutschland den Deutschen« oder »Ungarn den Magyaren«. In Ungarn äußert sich das auch sehr stark biologistisch. Diese Identitätskrise schwappt jetzt von den postkommunistischen Staaten verstärkt auf die westeuropäischen über, das sind Wechselwirkungen.

Was sind die Ursachen?

Das hat viel mit dem europäischen Einigungsprozess zu tun, mit einer Identitätskrise, die sich schon früher anbahnte. Es scheint sich derzeit in ganz Europa ein romafeindlicher Konsens zu entwickeln, um ein Beispiel zu nennen. In den postkommunistischen Staaten ist schon länger eine fast ganz geschlossene Einheit gegen die Roma zu beobachten. Der Antiziganismus ist hier allgemein sehr stark. Speziell die Roma wurden in den letzten 20 Jahren so stark ausgegrenzt, dass sie durch ihre Armut jetzt auffallen. Diese Ausgrenzungstendenzen richten sich auch gegen Arme, Obdachlose und Homosexuelle.

Liegen die Gründe dafür auch in der Wirtschaftskrise?

Die Wirtschaftskrise würde ich an zweiter Stelle nennen. Aber dadurch, dass die Roma schon im Realsozialismus in den schlechtesten Jobs beschäftigt waren, waren sie auch die ersten, die arbeitslos wurden. Heute sind beispielsweise in Nordungarn die Menschen so arm, dass sie in Gettos leben. Die Weißen laden ihren Müll am Rande der Romagettos ab, dadurch vermehren sich die Ratten. Und dann kommen die Weißen und fangen an, um das Getto herum, demonstrativ zu desinfizieren. Die Roma werden von der Mehrheitsgesellschaft teilweise wie Tiere gehalten. Mit diesem offensichtlichen Desinfizieren wird auch symbolisch gezeigt: »Wir säubern uns von diesem Dreck.« Die Romafeindlichkeit trägt in der medialen Darstellung zudem sehr stark biologistische Züge. Das weist in Richtung »Ausrottung«, hier deutet sich ein Genozid an. So deutlich muss ich das sagen.

Was kann man dagegen tun?

Es muss in erster Linie kommuniziert werden, dass Europa nicht nur eine Wirtschafts-, sondern eine Wertegemeinschaft ist. Die Unternehmen, die aus Westeuropa stark in Ungarn vertreten sind, könnten zweitens neben der geschäftspolitischen auch die gesellschaftspolitische Seite betonen. Sie könnten sagen: »Wir stellen Roma ein.« Ganz einfach! Damit könnte man in Ungarn sehr wirksame Politik machen. Drittens müsste man einen Konsens über den Nationenbegriff in Europa entwickeln, dass nicht der Begriff der ethnischen Kulturnation verwendet wird, sondern der politische.

Fragen: Jörg Meyer

* Aus: Neues Deutschland, 9. September 2010


Zurück zur Seite "Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus"

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage