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Sachsen: Rechts vor links

"Rechtlich fragwürdig und politisch gefährlich": Nach Haftstrafe für Antifaschisten und Bewährung für Neonazigruppe "Sturm 34" wächst Kritik an Dresdner Justiz

Von Rüdiger Göbel *

Die vom Amtsgericht Dresden in dieser Woche verhängte Haftstrafe gegen einen antifaschistischen Demonstranten und Mitarbeiter der Linkspartei stößt auf immer heftigere Kritik. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) nannte das Urteil am Freitag gegenüber dapd »rechtlich fragwürdig und politisch gefährlich«. Statt etwas zu beweisen, habe das Gericht forsch gemutmaßt. Gefährlich sei die Entscheidung, weil offenbar ein Exempel statuiert werden sollte. Beides habe mit einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu tun.

Der Vorsitzende Richter Hans-Joachim Hlavka hatte am Mittwoch einen Teilnehmer der Blockade eines Neonaziaufmarsches zu einem Jahr und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Ohne Bewährung. Der 36jährige Berliner Tim H. soll nach Einschätzung des Gerichts am 19. Februar 2011 mit einem Megaphon eine Menschenmenge aufgewiegelt und zum Durchbrechen einer Polizeisperre aufgefordert haben. Konkrete Beweise gab es dafür nicht. Die Staatsanwaltschaft hatte wegen Körperverletzung, besonders schwerem Landfriedensbruch und Beleidigung sogar eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten gefordert. Vier Einsatzkräfte waren seinerzeit bei dem Durchbruch verletzt worden (jW berichtete).

Das in Köln ansässige Komitee für Grundrechte und Demokratie reagierte am Freitag mit Entsetzen. Das Urteil sei »unverhältnismäßig und abschreckend«, erklärte Komitee-Sprecherin Elke Steven. Mit Tim H. sei offenbar ein Angeklagter exemplarisch übermäßig bestraft worden, weil alle anderen bisherigen Verfahren gegen Teilnehmer von Sitzblockaden gegen den Aufmarsch von NPD und »Kameradschaften« im Februar 2011 hätten eingestellt werden müssen. Auch die polizeilichen Durchsuchungen von mehreren Räumen am Abend des 19. Februar wurden gerichtlich für rechtswidrig erklärt. Die Datensammlungen mittels Funkzellenabfrage wurden vom sächsischen Datenschutzbeauftragten ebenso eingestuft – für rechtens erklärt worden ist die Auswertung von 1,2 Millionen Kommunikationsverkehrsdaten dagegen von Richter Hlavka laut einem am 3. Januar 2013 unterzeichneten Beschluß.

Der Dresdner Juso-Vorsitzende Stefan Engel machte am Freitag »schwerwiegende demokratische Defizite im Freistaat« aus. Am selben Tag, da gegen Tim H. eine Haftstrafe ohne Bewährung verhängt wurde, habe das Landgericht Dresden die Verurteilung von fünf Rädelsführern der verbotenen Neonazigruppe »Sturm 34« wegen schwerer Körperverletzung, Sachbeschädigung und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu Bewährungs- und Geldstrafen bestätigt. Zeitgleich wurde außerdem bekanntgegeben, daß die Immunität des sächsischen Grünen-Landtagsabgeordneten Johannes Lichdi wegen seiner Beteiligung an den Protestaktionen im Februar 2011 aufgehoben werden soll, was am Donnerstag vor dem zuständigen Ausschuß im sächsischen Landtag auch exekutiert wurde. »Offensichtlich ist es in Sachsen deutlich unproblematischer, Ausländer und Andersdenkende durch Kleinstädte zu jagen, als sich offensiv gegen Nazis zu engagieren«, so der Vorsitzende des SPD-Jugendverbandes.

Tim H. wird gegen das Urteil Rechtsmittel einlegen. Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) sichert ihm Unterstützung zu: »Zivilcourage gegen rechts ist nicht kriminell. Naziaufmärsche blockieren ist unser Recht. Tim, die Überlebenden des Naziterrors stehen hinter dir.«

* Aus: junge Welt, Samstag, 19. Januar 2013

Dokumentiert:

Skandalurteil in Dresden

Pressemitteilung des Berliner Ko-Kreises des Bündnisses Dresden Nazifrei

Dresden, 16.1.: Amtsgericht Dresden verurteilt Demonstranten zu einem Jahr und zehn Monaten ohne Bewährung. Der 36-Jährige wurde wegen der Proteste gegen den Naziaufmarsch im Februar 2011 u.a. wegen Landfriedensbruch angeklagt.

Das Amtsgericht Dresden verurteilte am Mittwoch den Angeklagten zu einer Haftstrafe von einem Jahr und zehn Monaten ohne Bewährung. Im Februar 2011 demonstrierten in Dresden tausende Demonstranten gegen Europas größten Naziaufmarsch und verhinderten ihn letztendlich durch Straßenblockaden. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrer Anklage eine mehrjährige Haftstrafe gefordert – konnte jedoch weder eindeutige Beweise noch belastbare Augenzeugenberichte vorlegen. Er soll andere Menschen per Megafon dazu angestiftet haben, Polizeiketten zu durchbrechen. Während der Demonstrationen gegen den geplanten Naziaufmarsch war es mehrfach zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizeibeamten gekommen. Im vergangenen Dezember begann der Prozess.

Sein Anwalt bezeichnete das Urteil als klaren Präzedenzfall, der abschreckend wirken soll. Er kündigte an, gegen das Skandalurteil Berufung einzulegen. „Ein Augenzeuge, dessen Beschreibung nicht annähernd auf den Beschuldigten passt, Videomaterial, das keinerlei Beweise enthält und schließlich eine schwarze Kapuzenjacke – das waren die wesentlichen Argumente der Staatsanwaltschaft“, sagt Silvio Lang, Pressesprecher des Bündnisses Dresden Nazifrei!.

„Dieses Urteil ist purer Populismus! Ermittlungen in sehr ähnlichen Fällen sind schon längst mangels Beweisen fallen gelassen worden“, sagt Lea Sandberg, die von 2010 bis 2012 ehrenamtlich im Bündnis Dresden Nazifrei! aktiv war. „Vor den Demonstrationen im Jahr 2010 sollte antifaschistischer Protest durch großangelegte Razzien diskreditiert werden. Nun soll ein Exempel statuiert werden und dazu geht die Repression einen krassen Schritt weiter. In dem mündlichen Urteilsspruch stellte der Richter noch mal klar, „dass die Dresdner Bevölkerung solche Krawalltouristen satt habe“. Ein Gericht spricht ein Urteil, das jeglicher Grundlage entbehrt und dessen einzige Begründung die kalkulierte, abschreckende Wirkung ist.“

Mehr auf der website von Dresden nazifrei: www.dresden-nazifrei.com




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