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Gefährliche Beamtenbeleidigung

Urteilsbegründung des Amtsgerichts Dresden gegen Antifaschisten Tim H.: 22 Monate für "Nazischwein"?

Von Sarah Liebigt *

Tim H. soll während der Proteste gegen Europas größten Naziaufmarsch im Februar 2011 eine Menschenmenge zum gewaltsamen Durchbrechen einer Polizeikette angestiftet haben. Das Amtsgericht Dresden verurteilte ihn zu 22 Monaten Haft. Das nun vorliegende Urteil bleibt unkonkret.

»Kommt nach vorne!« Mit diesen Worten soll Tim H. eine Gruppe Menschen zum Durchbruch einer Polizeikette aufgewiegelt haben. Das Bündnis »Dresden Nazifrei!« wandelte diesen Vorwurf der Staatsanwaltschaft Dresden um zur Solidarisierungsparole, nachdem Tim zu einem Jahr und zehn Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt wurde. Mitte Januar sprach das Amtsgericht Dresden Tim des schweren Landfriedensbruches schuldig. Tims Anwalt sowie die Staatsanwaltschaft legten Berufung ein. Nun liegt die schriftliche Urteilsbegründung vor.

Darin ist von diesen aufwieglerischen Worten keine Rede mehr. »Erstaunlich ist, dass sich aus der Urteilsbegründung überhaupt nicht ergibt, was Tim nun konkret gesagt haben soll«, sagt Anwalt Sven Richwin gegenüber »nd«. Der konkreteste Vorwurf bezieht sich darauf, dass er einen Polizisten via Megafon als »Nazischwein« beschimpft haben soll. - Nach dem Durchbruch. »Mit dieser Beleidigung versucht das Gericht, das Fehlen konkreter Anhaltspunkte für den schweren Landfriedensbruch zu deckeln«, so Richwin. »Diese Beleidigung hat nichts mit dem eigentlichen Durchbruch zu tun. Wer nun was vor dem Durchbruch gesagt haben soll, davon steht in der Urteilsbegründung nichts mehr.«

»Mehrfach wurden unmittelbar vor den Durchbruchversuchen durch die Menschenmenge ›Countdowns‹ heruntergezählt, um ein möglichst gleichzeitiges Vorgehen und konzentriertes Angriffsgeschehen zu erreichen«, heißt es stattdessen in der Urteilsbegründung, die »nd« vorliegt.

Tim soll zu einer »Vielzahl vermummter Personen« gehört haben, die »arbeitsteilig aufgrund eines gemeinsamen Tatplanes und« -entschlusses» handelte, heißt es in dem Papier. Anwalt Richwin: «Auch die Ausführungen zum ›besonders schweren Fall‹ (von Landfriedensbruch) erschöpfen sich in der Unterstellung eines gemeinsamen ›Plans‹ mit Gewalttätern, ohne dies konkreter zu belegen. Von Vermummung war zudem bisher überhaupt nicht die Rede.» Weiterhin spricht das Gericht von «offenkundigen» Gewalttätigkeiten. Der Angeklagte habe durch «aktives Tun», dem «Durchbruch mit Megafon und Beleidigung gegenüber Polizeibeamten» gezeigt, dass er die feindselige Stimmung der Menschenmenge billigt.«

Im Prozess war der Hauptbelastungszeuge der Staatsanwaltschaft ein Anwohner, der Tim jedoch nicht identifizieren konnte. Nach dessen Entlastungsaussage für den Angeklagten sei von ihm in der Urteilsbegründung kaum noch die Rede, »obwohl er fast die Hälfte der Anklageschrift ausmachte«, so Richwin.

Sicher identifizieren kann das Gericht Tim H. nur im Moment der Beleidigung. Auf einem Tatvideo sei sein Gesicht »gut zu erkennen gewesen. Für das Gericht bestand keine Verwechslungsgefahr«. Der Widerspruch zur angeblichen Vermummung bleibt unaufgelöst. Er sei zudem »eine überdurchschnittlich große Person« und rage aus der Masse hervor. Bei einer Hausdurchsuchung sei eine schwarze Jacke gefunden worden. Eine Jacke der Marke Jack Wolfskin, wie sie vermutlich jeder vierte Demonstrant getragen hat. »Dass das Megafon nicht aufgefunden wurde, ist nicht entscheidungsrelevant«, so das Gericht.

Tim H. soll »vorsätzlich handelnd mittels gefährlicher Werkzeuge (...) andere Personen körperlich misshandelt haben«, heißt es. Nur wenige Zeilen später jedoch: »Der Angeklagte hat selbst keine Gegenstände geworfen oder Körperverletzungen begangen«. Für eine Bewährung bleibe kein Raum, obwohl das Gericht der Ansicht war, dass sich der Angeklagte schon allein die Verurteilung zur Warnung dienen lasse und künftig keine Straftaten mehr begehen werde. Dies ergebe sich bereits aus seinem »nahezu straffreiem Vorleben«.

»Insgesamt scheint es, als ob das Gericht sein - ziemlich knapp geratenes Urteil - selbst nicht besonders ernst nimmt«, sagt Richwin.

* Aus: neues deutschland, Mittwoch, 06. März 2013


Urteil ohne Beweiskraft

Gefängnisstrafe für Antifaschist Tim H.: Wortlaut des angeblichen Aufrufs zum Durchbrechen einer Polizeisperre wird in schriftlicher Urteilsbegründung nicht einmal genannt

Von Claudia Wangerin **


Warum der 36jährige Antifaschist Tim H. eine knapp zweijährige Haftstrafe absitzen soll, kann auch die nun vorliegende schriftliche Urteilsbegründung nicht erklären. Im Januar hatte ihn das Amtsgericht Dresden wegen eines »besonders schweren Falles« von Landfriedensbruch, gefährlicher Körperverletzung und Beleidigung zu 22 Monaten ohne Bewährung verurteilt.

Am 19. Februar 2011 soll Tim H. beim alljährlichen Protest gegen den »Gedenkmarsch« von Neonazis zum Jahrestag der Bombardierung Dresdens Hunderte Gegendemonstranten dazu aufgerufen haben, eine Polizeisperre zu durchbrechen.

Nach Überzeugung des Gerichts war es Tim H., der an jenem Tag rund 500 Personen aufforderte, eine Sperre von 14 Polizeibeamten zu attackieren. 100 teilweise vermummte Personen – sollen den Beamten in mehreren »Angriffswellen« zu Leibe gerückt sein, einige hätten dabei Pyrotechnik, Steine, Latten und Flaschen als Wurfgeschosse benutzt. Tim H. selbst konnte derartiges nicht vorgeworfen werden. Er soll aber die Durchbruchsversuche per Megaphon koordiniert und einen Polizisten schließlich als »Nazischwein« beschimpft haben. »Die Gruppe handelte arbeitsteilig aufgrund eines gemeinsamen Tatplanes und -entschlusses«, unterstellt das Gericht, ohne dies konkreter zu belegen.

Mehrfach seien »unmittelbar vor den Durchbruchsversuchen durch die Menschenmenge Countdowns heruntergezählt« worden, heißt es in der schriftlichen Urteilsbegründung. Aus dieser ergibt sich allerdings nicht der Wortlaut des angeblichen Aufrufs, für den Tim H. verurteilt wurde. »Erstaunlich« nannte dies sein Anwalt Sven Richwin am Dienstag gegenüber junge Welt. »Immerhin ist der zentrale Vorwurf ein Aufwiegeln der Menge.« Laut Staatsanwaltschaft ging es dabei um die Worte »Durchbrechen!« und »Nicht abdrängen lassen!« Auf einem Polizeivideo ruft die Person am Megaphon lediglich: »Kommt nach vorne!« Zudem ist das Gesicht des Mannes mit der schwarzen Jacke nicht zu erkennen.

In der Urteilsbegründung beruft sich das Gericht mehrfach auf dieses Video – es sei mehrmals »in Augenschein genommen« worden. Doch Tim H. wurde von keinem Zeugen darauf identifiziert. Selbst die Polizeibeamten konnten sich nicht konkret an ihn erinnern. Obwohl dies auch in der Urteilsbegründung nicht behauptet wird, heißt es dort: »Allein aufgrund der Videoaufzeichnungen ist das Gericht von der Täterschaft des Angeklagten überzeugt.« Die Einholung eines anthropologisch-morphologischen Gutachtens zur Identitätsfeststellung auf Grundlage des Videomaterials habe man »für nicht erforderlich gehalten«. Tim H. sei »eine überdurchschnittlich große Person und ragt aus der Masse hervor«. Sein Gesicht sei, »als die Beleidigung fällt, gut zu erkennen. Für das Gericht bestand keine Verwechslungsgefahr.« Die Beleidigung soll allerdings wesentlich später und bereits hinter der Polizeisperre erfolgt sein.

Tatsächlich hatte der Richter bei der Urteilsverkündung deutlich gemacht, daß er eine abschreckende Wirkung erzielen wollte: Einwohner Dresdens seien es leid, daß das Gedenken an die alliierten Luftangriffe »von beiden Seiten, Rechten und Linken« ausgenutzt werde.

Rechtsmittel gegen das Urteil haben sowohl die Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft eingelegt. Letztere hatte für Tim H. zwei Jahre und sechs Monate Haft gefordert. Ein Termin für das Berufungsverfahren steht noch nicht fest.

** Aus: junge Welt, Mittwoch, 6. März 2013


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