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"Breivik ist kein Nazi, sondern ein rechter Wutbürger"

Gespräch mit Sabine Schiffer und Susann Witt-Stahl. Über Islamhaß der Eliten, ihre publizistischen Helfer und seinen Vormarsch in westlichen Ländern *


Sabine Schiffer promovierte zum Islambild in den Medien und gründete 2005 in Erlangen das unabhängige Institut für Medienverantwortung (IMV).
Susann Witt-Stahl ist freie Journalistin und Autorin. Sie lebt und arbeitet in Hamburg. Zu ihren Themenschwerpunkten gehören die politische Instrumentalisierung des Antisemitismus und der Shoah, antimuslimischer Rassismus, Kulturindustrie und Krieg.



Wenn es gegen Muslime geht, sind sich Nazis, Neue Rechte, »Antideutsche« sowie bürgerliche Nazigegner in vielen Punkten einig. Welche Funktion erfüllt der Islamhaß?

Sabine Schiffer: In der Tat muß man das antimuslimische Ressentiment, wie jeden anderen Rassismus auch, von seiner Funktion her denken. Es erweist sich offensichtlich als nützlich, daß durch die Spaltung der Gesellschaft in wir und ihr die Einführung von Überwachungsmaßnahmen ebenso möglich ist wie die Verfolgung geostrategischer Interessen mittels Krieg, den eine Mehrheit der Bürger gar nicht will. Über die Angst vor Islam und Muslimen sowie die Mythen der Frauenbefreiung und anderer humanistischer Wohltaten kann man eben diese Ziele erreichen. So kann mit Verweis auf Menschenrechte und einer Suggestivfrage, wie »Wollen Sie denn die Frauen in Afghanistan im Stich lassen?«, das Völkerrecht ausgehebelt werden – egal, ob es den beschworenen Hilfsbedürftigen nachher besser oder schlechter geht, wie das Beispiel Irak besonders drastisch vor Augen führt. Und inwiefern die Islam- und Terrorangst zur Akzeptanz sogar von Drohneneinsätzen im Innern beiträgt, ist noch nicht abzuschätzen.

Susann Witt-Stahl: Tatsächlich erfreut sich der Islamhaß in erster Linie großer Popularität als Prokriegsideologie des Neoliberalismus. Der hat die westlichen Gesellschaften durchgehend von ihrem rechten Rand bis tief hinein in die Linke kolonisiert, ist in der Krise besonders aggressiv und vermag es, Hilfstruppen anzuheuern. In Großbritannien beispielsweise fordert die sich aus neokonservativen Extremisten, Mitgliedern der British National Party, der Neonazihooliganszene, aber auch aus Afghanistan- und Irak-Kriegsveteranen rekrutierende English Defence League (EDL) bei ihren Demonstrationen gegen den Islam immer auch »Unterstützt unsere Truppen!«. Sie wendet sich sogar gegen die Kürzung des Verteidigungsetats. Da eine große Zahl arabischer Einwanderer die Proteste gegen Krieg mitträgt, werden Muslime als »Verräterpack« gebrandmarkt und Friedensdemonstrationen gewalttätig angegriffen. Hier in Deutschland begnügen sich die Islamhasser vorwiegend noch mit Wortgewalt. Daß ihre Argumentation, wenn man das einmal so nennen will, aber einem ähnlichen Muster folgt, wurde während des Gaza-Krieges deutlich: Die Friedensmarschierer – mindestens 90 Prozent derer, die 2009 in den deutschen Großstädten gegen die Operation »Cast Lead« (»Gegossenes Blei« – d. Red.) auf die Straße gingen, waren Migranten – wurden pauschal als »Hamas-Anhänger«, »Antisemiten« und »Aufklärungsverräter« diffamiert. Die Islamhasser betrachten sich selbst ja als die rechtmäßigen Nachfolger der historischen Aufklärer und die Bombardierungen von Bagdad oder Rafah als notwendige »Aufklärungsmaßnahmen« gegen die arabische »Barbarei«. Die Einwanderer aus dem arabischen Kulturraum werden in Deutschland nicht zuletzt als potentielle »Zersetzer« der Heimatfront des »Krieges gegen den Terror« wahrgenommen, die dringend aus dem Land gemobbt werden sollen. Thomas Maul, der Autor der »antideutschen« Zeitung Jungle World, forderte auf der »Kritischen Islamkonferenz« 2010 in Köln das Kopftuchverbot mit der Begründung, daß es »zugleich sicherheits- und einwanderungspolitische Effekte nach innen sowie politische Signalwirkung für den Kampf gegen den Islamismus nach außen zeitigen würde«.

Sie verwenden in Ihren Arbeiten den Begriff »neokonservativer Extremismus« – sind Sie Anhängerin der Extremismustheorie?

Susann Witt-Stahl: Nein. Denn die Extremismustheorie ist ja eine Ideologie, mit der der Zweck verfolgt wird, antikapitalistische Linke durch die Gleichsetzung mit Faschisten historisch zu delegitimieren und zu kriminalisieren. Den Begriff »Extremismus« wende ich lediglich auf die wachsenden rechten Tendenzen in der sogenannten bürgerlichen Mitte an. Ich benutze ihn also, um die Extremismustheorie ad absurdum zu führen und als das zu enttarnen, was sie ist: Demagogie. Sie lenkt von dem Kernproblem ab: Die neoimperialistischen Kriege und der aggressive Klassenkampf von oben werden von den Neokonservativen vorangetrieben, die ja nichts anderes als die Überbauarchitekten des Neoliberalismus sind. Anders Behring Breivik ist kein Nazi. Er ist, wie die meisten Islamhasser, ein rechter Wutbürger, der die Durchsetzung der New World Order beschleunigen und sich den ökonomischen Eliten als ihr Robin Hood andienen will – er ist der »erste neoliberale Terrorist«, wie der norwegische Gewerkschafter Jonas Bals ihn treffend bezeichnete. Auch wenn seine politische Praxis, Massenmord, von der großen Mehrheit der Neocons offiziell verurteilt wird und sie sich anderer politischer Durchsetzungsmittel bedienen – weltanschaulich sind Richard Perle oder der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer AG, Matthias Döpfner, wirklich nicht weit von Breivik entfernt. Kein Wunder, daß die etablierten Medien so intensiv bemüht sind, ihn als »Rechtsextremisten« oder »Irren«, in einigen Fällen sogar »Linksextremisten« darzustellen. Der Welt-Schreiber Thomas von der Osten-Sacken war offenbar so verzweifelt über die eigene ideologische Nähe zu Breivik, daß er ihn zum »Antiimperialisten« zurechtlog. Damit versuchte er, eine große Distanz zwischen ihm und sich zu suggerieren, die in Wahrheit nicht existiert.

Häufig wird die Verwendung des Begriffs »Islamophobie« kritisiert, u.a. weil es sich nicht um Angst vor dem Islam, sondern um Rassismus handele. Verharmlost der Begriff »Islamophobie« das Problem?

Sabine Schiffer: Die teilweise berechtigte Begriffskritik wird häufig zur Rassismusleugnung verwandt. Dabei sollte es um den Inhalt, nämlich die verallgemeinernde Zuweisung von Fakten und Fiktionen an den ganzen Islam und alle Muslime, gehen – was sich ja nicht von anderen Rassismen unterscheidet. Es gelingt uns bei Gruppen, zu denen wir uns nicht als zugehörig empfinden, ja auch nur selten, daß wir die Benennung von Mißständen nicht zu verallgemeinernden Schlußfolgerungen oder gar Maßnahmen gegen die ganze heterogene Gruppe mißbrauchen.

Susann Witt-Stahl: Man sollte zwischen klassischem Rassismus und Kulturrassismus unterscheiden. Mit letzterem ist der in der Gesellschaft der bürgerlichen Demokratie gepflegte antimuslimische Rassismus in der Regel verbunden. In der derzeit alles beherrschenden Ideologie des neoliberalen Kapitalismus spielen Hautfarbe und andere genetische Merkmale nicht mehr die Hauptrolle in der Diskriminierungshierarchie. Der Herrschaftsanspruch der westlichen Welt wird aus dem »Kampf der Kulturen« hergeleitet, den der neokonservative Politikwissenschaftler Samuel Huntington in den 1990er Jahren heraufbeschworen hatte. Diesen »Kampf« führt der »zivilisierte« Westen nach Meinung der Anhänger dieser These gegen den mehr oder weniger »barbarischen« Rest der Welt, vor allem gegen den Islam. Schon allein deshalb kommt man ohne Rassismusbegriff nicht aus. Und wie Sabine richtig sagt, wird Muslimen pauschal mit übelsten Ressentiments begegnet. Wenn der Herausgeber der Zeitschrift Konkret, Hermann Gremliza, sich von Muslimen umzingelt fühlt und meint, in »einer Kontinente umspannenden Zone von Marokko bis zu den Philippinen« würden Staaten am Hals der Ungläubigen »gemeinsam an einem Strick ziehen« und »Millionen Muslime«, die in Europa leben, würden diesen Akt »nicht ohne Zuneigung betrachten«, dann sind aber nicht nur kulturrassistische Vorurteile im Spiel. Wenn sogar allen Ernstes behauptet wird, wie es Gremliza tut, die »islamistische Internationale ist die größte Gefahr, die den Siegern aller bisherigen Geschichte droht«, dann ist auch Wut im Spiel oder das Kalkül, Angst und Wut zu schüren. Die Hetze gegen Muslime hat also auch eine psychologische Dimension. Sie beruht ebenso auf falscher Projektion wie der Antisemitismus. Der bis heute nicht gelungene – weil auf blinder Beherrschung und nicht auf dem Begreifen der inneren und äußeren Natur basierende – Zivilisationsprozeß zeitigt einen sich ständig wiederholenden Aufstand der unterdrückten inneren Natur. Diese Rebellion äußert sich in der Übertragung gesellschaftlich tabuisierter Triebregungen, beispielsweise Aggressionen, auf »die Fremden«, die an der geographischen, sozialen oder kulturellen Peripherie »unserer« Zivilisation Lebenden. Adorno und Horkheimer hatten dieses zwanghafte Verhalten in »Dialektik der Aufklärung« ausführlich beschrieben. Den Begriff Islamophobie brauchen wir für die Bewußtmachung dieser zweiten Dimension des Islamhasses und für seine Analyse. Es gibt noch weitere Dimensionen, die anderer Begriffe bedürfen. Mit »Rassismus« erfassen wir die Komplexität und Vielschichtigkeit des Problems nicht.

Susann Schiffer: Ja, und ob wir den Begriff »Islamophobie« mögen oder nicht, er wird sich international durchsetzen bzw. hat es bereits getan.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen Islam- und Kommunistenhaß?

Sabine Schiffer: Da gibt es mindestens eine zweidimensionale Relation: Einmal scheint das Feindbild Islam das Feindbild Kommunismus abzulösen. So ist etwa Daniel Pipes, Leiter des Think-tanks Mideast Forum, für das antiislamische Bild in den USA und darüber hinaus zuständig, während sein Vater Richard Pipes noch den Antikommunismus bewarb. Und zum zweiten spielt der Islamhaß wiederum denen in die Hände, die die Kapitalismuskritik aushebeln wollen. Manche sehen gerne im islamischen Zinsverbot eine antijüdische Tendenz, eigentlich nur, weil sie selbst automatisch Zinsen mit Juden zu assoziieren scheinen. Darüber hinaus werden nicht zufällig Antisemitismusvorwürfe mit denen einer angeblichen Verfassungsfeindschaft dann vermischt, wenn es gegen linke Kapitalismuskritiker geht. Zumal gegen jene, die auch die Logik des Krieges und des Rassismus ablehnen und erkannt haben, daß Islamophobie nichts mit Religionskritik zu tun hat – während Religionskritik ja ein genuines Anliegen linker Auffassungen ist. Da zudem der Nahostkonflikt in den vergangenen Jahrzehnten von einem territorialen Konflikt zu einem religiösen umgedeutet wurde, bietet es sich an, eine »Verharmlosung des Islams« als Bedrohung Israels und die Kritiker der Islamophobie als Antisemiten zu imaginieren. Dies hat sich als ein weiterer Hebel bewährt, um die Linke zu spalten. So werden Juden und auch Israel als Instrument gegen »kommunistische Umtriebe« mißbraucht. Und hier treffen sich Mainstream und Antilinke, sogenannte Antideutsche, die sich selbst noch links wähnen in ihrer Ablehnung einer fundierten Kapitalismuskritik.

Susann Witt-Stahl: Während der Weltwirtschaftskrise 1929 hatte die »jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung« Hochkonjunktur. Seit Einsetzen der Krise 2008, dem Anwachsen von Massenprotesten und der von der politischen Klasse und den ökonomischen Eliten als bedrohlich empfundenen Rekonsolidierung der antikapitalistischen Linken werden die Bemühungen intensiver, aus Islam und Kommunismus eine »Achse des Bösen« zu konstruieren. Der von neokonservativen Stiftungen in den USA – beispielsweise der Bradley Foundation, die den Irak-Krieg forciert hat – finanzierte Betreiber des Islamhasser-Netzwerks »Jihad Watch«, Robert Spencer, spricht von einem »Zusammenschluß« von Kommunisten und Muslimen. Sie hätten gemeinsam, meint Spencer, daß sie alle »töten und foltern« wollten, die anderer Ansicht sind. Der Konkret-Autor Gerhard Scheit meint, die Politik der Sowjetunion habe den »Missing link im Übergang von der nationalsozialistischen zur dschihadistischen Bewegung« dargestellt. Der ­Jungle World-Schreiber und Kreuzritter gegen den »kulturrelativistischen Multikulturalismus« Ivo Bozic, gerät in Panik – allein durch seine eigene Phantasmagorie: Die »links-dschihadistische Querfront«. Wie für die Abwehr von Kapitalismuskritik und Stigmatisierung von Kriegsgegnern die alt bewährte Kommunisten- und neu entdeckte Islamophobie so kombiniert werden, daß sie sich gegenseitig potenzieren, gilt es dringend zu untersuchen.

Was Nazis und andere Rechtsradikale antreibt, liegt auf der Hand. Sie sind traditionell rassistisch und fremdenfeindlich. Aber welche Motive haben die »Antideutschen«?

Sabine Schiffer: Das ist eine komplizierte Relation, daß nämlich gerade in diesem Lager eine auch bei Rechtspopulisten beobachtbare vermeintliche Israel-Liebe gepaart mit Islamhaß auftritt. Israel wird dabei als Vorposten gegen Islamismus und für Freiheitsrechte in einer fortschrittsfeindlichen Welt gesehen. Bezeichnend ist hier die sogenannte Jerusalem-Erklärung rechtsnationalistischer Parteien, die sich nun solidarisch mit Israel gegen »den Islam« als neuem Feind verbünden. Damit rechnet man sich offensichtlich größere Wahlchancen aus als mit dem offiziell verpönten Judenhaß. Die Instrumentalisierung der Juden und ihres Staates mag bei den »Antideutschen« eine andere Qualität haben als bei den Rechtspopulisten, das Ergebnis ist jedoch gleich.

Susann Witt-Stahl: Auch wenn in den Populär- und Vulgärformen des »Antideutschtums« noch restlinke Theoriebestände auszumachen sind: Das Gros seiner Meinungsführer publiziert aus guten Gründen in genuin neokonservativen Medien, wie Die Welt oder auf der »Achse des Guten« (Internet, d. Red.), den wichtigsten Megaphonen des antimuslimischen Rassismus und Antikommunismus in Deutschland. Der Bahamas-Autor Bernd Volkert, der mit seinem Buch über den Neokonservatismus – eine Hymne an ihn – durch die Lande tingelt, wurde von der Axel-Springer-Stiftung gefördert. Die ideologische Matrix der »Antideutschen« ist der Neokonservatismus. Und nur weil die deutsche Linke ihren Job nicht macht, viele Repräsentanten linker Parteien, Stiftungen und Medien den höchsten Grad der Selbstentfremdung und opportunistischen Selbstverleugnung erreicht haben, neokonservative Propaganda finanzieren und verbreiten, soll man sich nicht wundern, wenn Neokonservative ihren Job, also neokonservative Politik machen.

Wie stark ist die Islamhasser-Bewegung in anderen westlichen Ländern?

Sabine Schiffer: Auf dem Vormarsch, wie bei uns. Jedes europäische Land hat da seine Spezifik, etwa Belgien, wo das antiislamische Ressentiment einigende Funktionen zwischen den unterschiedlichen Volks- und Sprachgruppen hat. Insgesamt kann man feststellen, daß die nationalistischen Bewegungen Europas durch dieses Thema über die Ländergrenzen hinweg vernetzungsfähig sind und zudem anschlußfähig an die Mainstreamdiskurse. Denn in allen Ländern wachsen Rassismen – ein besonders in Zeiten von Wirtschaftskrise und Abstiegsängsten ernstzunehmendes Phänomen.

Susann Witt-Stahl: In Großbritannien gibt es mit der EDL bereits eine Massenbewegung, die an den Wochenenden gleichzeitig in mehreren Städten Tausende von Anhängern auf die Straße bringt. Die EDL, die übrigens von einigen »Antideutschen« bejubelt wird, weil sie auch »Solidarität mit Israel« predigt, geht militant gegen die muslimische Bevölkerung vor. Geschäfte von arabischen Einwanderern werden demoliert, Muslimas auf der Straße überfallen und gewaltsam entschleiert. Die EDL hat mittlerweile in fast allen westlichen Ländern Ableger, auch in Deutschland mit immerhin schon zwölf »Divisionen«, wie ihre Ortsgruppen heißen.

Neokonservative schwadronieren stets über eine »antisemitische Internationale«. Haben wir es nicht vielmehr mit einer »antimuslimischen Internationale« zu tun?

Sabine Schiffer: Daß es auch weiterhin das antijüdische Ressentiment gibt, ist nicht zu leugnen. Das, was mit der Behauptung einer und Subsumierung unter einer »antisemitischen Internationale« bezweckt wird, hat jedoch nichts mit dem Kampf gegen dieses Ressentiment zu tun. Dies dient immer durchschaubarer dem Zweck, Kritik an einer menschenverachtenden Wirtschafts- und damit Kriegspolitik als »antisemitisch« zu denunzieren und damit zu verunmöglichen – siehe die Angriffe auf ATTAC, Occupy und progressive Linke, die nun als »regressiv« beschimpft werden. Bei all diesen Polemiken findet nicht nur eine Bagatellisierung des Antijudaismus statt, wie Moshe Zuckermann es in seinem Buch »Antisemit! Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument« darlegt, es wird auch überspielt, daß wir tatsächlich ein weltweit wachsendes Ressentiment gegen Muslime haben, dessen Potential sich in Angriffen auf kopftuchtragende Frauen oder Moscheen ja bisher nur andeutet. Ich frage mich an dieser Stelle immer, ob unsere Politiker das wirklich nicht durchschauen oder ob man es billigend in Kauf nimmt, weil die Konzepte zur Bekämpfung der Wirtschaftskrise fehlen und man hier ein dankbares Ablenkungsthema hat.

Susann Witt-Stahl: Der Begriff »antisemitische Internationale« ist nichts weiter als neokonservatives Neusprech. Er zielt überhaupt nicht darauf, den nach wie vor existenten Antisemitismus anzugreifen. Es geht einzig und allein darum, die antikapitalistische Linke zu diskreditieren. Dem Substantiv »Internationale«, einem Begriff mit emanzipativem Gehalt, das Adjektiv »antisemitisch« voranzustellen, ist der Versuch, einen Begriff der Traditionslinken mit großer Symbolkraft zu hijacken, ihn reaktionär zu wenden und gegen Kommunisten in Stellung zu bringen. Mit der Etablierung des Begriffs »antimuslimische Internationale« ginge man dieser perfiden Strategie nur auf den Leim. Ebenso wie der Haß auf Juden wird auch der Haß auf Muslime bzw. Araber von Rechten verbreitet, von Nazis bis zu »antideutschen« Neocons. Er ist mit Nationalismus und westlichem Chauvinismus verbunden und nicht mit deren Gegenteil, dem Internationalismus. Der war und ist, weil er nur in einer freien Gesellschaft aufzulösende Klassen kennt, das beste Antidot gegen rassistische und antisemitische Ressentiments. Daher hält es die Internationale nicht mit Holger Apfel, nicht mit Jobbik, nicht mit der EDL, nicht mit Bahamas und nicht mit Avigdor Lieberman – sie hält es mit den »Verdammten dieser Erde«.

Interview: Markus Bernhardt

* Aus: junge Welt, Samstag, 12. Mai 2012

Buchveröffentlichung:
Sabine Schiffer/Constantin Wagner: Antisemitismus und Islamophobie – ein Vergleich. HWK Verlag, Wassertrüdingen 2009, 260 Seiten, 24,80 Euro


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