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Marie und das Phantom / Marie and the Ghosts

oder: Antisemitismus in Frankreich?

Von Uri Avnery

Zuweilen ist nur eine triviale Episode nötig, um wie mit einem Scheinwerfer auf eine ernste, öffentliche Malaise aufmerksam zu machen.

Ein klassisches Beispiel: Der Hauptmann von Köpenick. Oberflächlich betrachtet, war es ein kleiner krimineller Vorfall: 1906 wurde ein Schuster mit Namen Wilhelm Voigt, nachdem er seine Strafe wegen Fälschung abgesessen hatte, aus dem Gefängnis entlassen. Um Arbeit zu erhalten, benötigte er einen Pass; aber als früherer Strafgefangener konnte er keinen bekommen.

Also ging er in einen Trödelladen und kaufte die Uniform eines Hauptmanns, schnappte sich ein paar Soldaten von der Straße weg, nahm sie mit nach Köpenick, einem Berliner Vorort, verhaftete den Bürgermeister und konfiszierte Blanco-Pässe. Da er der Polizei wohl bekannt war, wurde er bald verhaftet.

Ganz Europa lachte über die protzige Zur-Schaustellung der Machtsituation in Deutschland, wo jeder, der eine Uniform trug, ein König und jeder Armeeoffizier ein Halbgott war. In dem klassischen Film über diese Episode wurde dem Kaiser - derselbe Kaiser Wilhelm II. , der einige Jahre zuvor Theodor Herzl in Jerusalem getroffen hatte - diese Nachricht überbracht. Einen langen Augenblick hielten die Höflinge den Atem an. Dann brach der Kaiser in lautes Gelächter aus, und die erleichterten Höflinge stimmten mit ein. Eigentlich war es keine lächerliche Angelegenheit; denn acht Jahre später war der ungezügelte deutsche Militarismus eine der Ursachen des 1.Weltkriegs.

Vor einer Woche verursachte eine junge Französin mit Namen Marie Leonie einen Aufruhr. Nach ihrer Behauptung hätten sechs Jugendliche „mit nordafrikanischem Aussehen“ sie in einem Pariser Vorortzug angegriffen, ihre Tasche weggenommen, und da sie (fälschlicherweise) geglaubt haben, sie sei Jüdin, weil sie im wohlhabenden 16. Stadtviertel wohnte, hätten sie ihr das Kleid zerrissen und Hakenkreuze auf den Bauch gemalt. Dann hätten sie den Kinderwagen umgeworfen – und all dies im Beisein von 20 anderen Fahrgästen, und keiner hätte einen Finger gerührt, um ihr zu helfen.

Frankreich reagierte hysterisch voller Wut und Schuldgefühle. Die Führer der Republik beginnend beim Präsidenten Jacques Chirac beschuldigten sich selbst und versprachen, den Kampf gegen den Antisemitismus ganz oben an auf die nationale Agenda zu setzen. Alle Zeitungen veröffentlichten in riesigen Schlagzeilen, zusammen mit tief schürfenden Artikeln über das Anwachsen des Antisemitismus, über die Schande der Nation. Jüdische Organisationen in Frankreich und der ganzen Welt klagten die europäische Gesellschaft einer erschreckenden Wiedererweckung des Antisemitismus an und holten Erinnerungen an den Holocaust zurück. Die israelischen Medien hatten einen großen Tag. Sie sagten allen Juden, sie fänden nur in Israel Sicherheit.

Ich hatte vom ersten Augenblick an meine Zweifel. Wenn man 40 Jahre lang als Redakteur einer Zeitschrift gearbeitet hat, die sich auf investigativen Journalismus spezialisiert hatte, entwickelt man eine feine Nase für Falschmeldungen. Dies hier war offensichtlich nicht plausibel. Ich bin davon überzeugt, dass die französischen Polizeibeamten von Anfang an auch ihre Zweifel hatten. Aber wer würde angesichts der durchgehenden öffentlichen Hysterie es wagen, seine Bedenken vorzubringen?

Und dann fiel die ganze Geschichte in sich zusammen. Kein einziger Augenzeuge meldete sich. Die Überwachungskameras am Bahnhof zeigten keine Spur eines besonderen Vorfalls. Es wurde bekannt, dass diese junge Frau gegenüber der Polizei schon früher falsche Behauptungen gemacht hatte. Zwei Tage nach dem Aufruhr brach die Frau zusammen und gab die Wahrheit zu: alles war erfunden.

Wie der Hauptmann von Köpenick, der das Scheinwerferlicht auf den preußischen Militarismus warf, so hat Marie Leonie das Licht auf die anti- antisemitische Hysterie in Europa gelenkt, ein irrationales Phänomen, das erfahrene Politiker in Dummköpfe verwandelt und ernst zu nehmende Zeitungen verrückt macht und so alle Arten hässlicher Manipulationen zulässt. Um wieder Logik und Vernunft in die Sache zu bringen, sollte man damit beginnen, zwischen verschiedenen Phänomenen zu differenzieren.

Da gibt es tatsächlich einen realen Antisemitismus. Er ist tief in der europäisch-christlichen Zivilisation verwurzelt. Er existiert auch heute, wie immer. Es ist ein Hass gegen Juden, weil sie Juden sind, unabhängig davon, wer oder was sonst sie sind – reich oder arm, Kapitalisten oder Kommunisten, Unterstützer oder Kritiker von Israel, korrupt oder anständig. Eine seiner Ausdrucksformen ist zum Beispiel das Malen von Hakenkreuzen auf Grabsteine, ein idiotischer Akt, den jeder psychisch gestörte Jugendliche für sich allein vollbringen kann.

Ich glaube nicht, dass diese Art Antisemitismus in den letzten Jahren angewachsen ist. Vielleicht hat er im Lauf der Jahre seit dem Holocaust seine Scham verloren. Im Augenblick bildet er keine Gefahr.

Ein ganz anderes Phänomen ist der nord-afrikanische Krieg, der nun auf europäischem Boden weiter ausgefochten wird. Junge Muslime aus Nordafrika schlagen sich mit jungen Juden aus Nordafrika. Das begann zu Hause, als die Juden das französische Regime gegen die algerischen Freiheitskämpfer unterstützten. In der letzten Phase war die jüdische Untergrundorganisation die Hauptstütze der Opposition zur Befreiung Algeriens. (Die Organisation war von israelischen Agenten aufgestellt worden, um Juden zu verteidigen, aber die Führer wanderten allmählich nach Israel aus und die Organisation wurde in den Händen der fanatischsten Araberhasser gelassen.)

Jetzt ist diese Konfrontation ein Nebenschauplatz des israelisch-palästinensischen Konflikts geworden. Die Muslime werden aufgeputscht durch TV-Bilder aus den besetzten Gebieten, in denen unsere Soldaten die palästinensische Bevölkerung unterdrücken und demütigen, während jüdische Organisationen die Sharon-Regierung unterstützen. Die meisten Juden Frankreichs sind Emigranten aus Nordafrika. So kommt es zu vielen unerfreulichen Vorfällen und erweckt den Eindruck, dass Antisemitismus zunimmt.

Unsere Regierung gießt noch Öl ins Feuer, indem sie ihre Vertreter rund um den Globus auffordert, alle Kritik an ihren Aktionen als Antisemitismus zu stigmatisieren. Auf diese Weise wird der ganzen Welt - von der UN-Vollversammlung und dem Internationalen Gerichtshof bis zu humanitären Organisationen - das Etikett „Antisemitismus“ angehängt.

Es ist leicht, diese Konfusion zu schaffen, wenn man nicht zwischen „jüdisch“ und „israelisch“ unterscheidet. Alles wird in einen Topf geworfen: Antisemitismus, Anti-Zionismus, Kritik an Israel, Kritik an Sharon. Solch ein Durcheinander passt genau denen ins Konzept, die an Manipulationen interessiert sind – es ist aber nicht gut für die Juden. „Jude“ und „Israeli“ sind nicht dasselbe.

Israel ist ein Staat wie jeder andere auch. Er wurde tatsächlich von Juden geschaffen, und die Mehrheit seiner Bürger sind Juden. Aber Israel ist eine unabhängige und separate Entität. Es ist zulässig (und meiner Meinung nach auch wünschenswert), die Politik unserer Regierung zu kritisieren, so wie es für uns zulässig ist, die Handlungen von irgendeinem anderen Staat zu kritisieren. Es besteht keine notwendige Verbindung zwischen solcher Kritik und Antisemitismus.

Es stimmt, die Juden in Israel haben starke Bindungen zu den Juden in aller Welt, und jene haben eine starke Verbindung mit Israel. Das ist ganz natürlich, so wie die Bindung vieler Menschen in Australien und Kanada mit England. Das heißt aber nicht, dass Juden in aller Welt automatisch jeden Akt der israelischen Regierung in einer Art Pawlowschen Reflexes unterstützen müssten. Der israelischen Regierung kommt das nur zupass – ist aber nicht notwendigerweise gut für Israel. Es ist sicher schlimm für Juden.

Wir sind Israelis. Wir haben diesen Staat aufgebaut, um endlich selbst über unser Schicksal bestimmen zu können. Wir wollen wie jedes andere Volk sein, tatsächlich wie eines der besten unter ihnen. Wir sind verantwortlich für unsere Taten, und keiner, der nicht ein Bürger Israels ist, trägt für diese Verantwortung.

Die jüdischen Bürger Frankreichs sind für die Handlungen der französischen Regierung, für die sie stimmen, verantwortlich und vielleicht für die Aktionen der jüdischen Gemeinde, zu der sie gehören. Sie sind nicht für unsere Taten verantwortlich. Sie müssen nicht um jeden Preis unsere Aktionen verteidigen. Wenn sie kritisieren wollen, dann bitte!

Wenn man klar und sauber differenziert, dann wird der Antisemitismus eine Randerscheinung bleiben, wie es nach dem Holocaust gewesen ist. Und wenn es uns Israelis gelingt, wieder auf den Pfad des Friedens zu gelangen, wird die Haltung gegenüber Israel zu der zurückkehren, wie sie nach Oslo war, als die ganze Welt vor uns salutierte.

Wenn der Streich der psychisch gestörten Französin uns hilft, die Hysterie zu überwinden, damit man sich wieder vernünftig mit dem Problem befasst, dann mag sie dafür sogar gelobt werden.

Erstellt am 17.07.2004

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

Quelle: http://www.uri-avnery.de

Marie and the Ghosts

by Uri Avnery

Sometimes a trivial episode throws a revealing light on a grave public disease.

A classic example: the Captain of Koepenick. On the face of it, it was a minor criminal incident: in 1906, a shoemaker named Wilhelm Voigt was released from prison, after serving a sentence for forgery. To get work he needed a passport, which, as a former convict, he could not get.

So he went to a junk shop and bought the uniform of an army captain, commandeered some soldiers in the street, took them to Koepenick, a Berlin suburb, arrested the mayor and confiscated the blank passports. Since he was well-known to the police, he was soon arrested.

All Europe laughed at this exposure of the situation in Germany, where anyone wearing a uniform was a king and every army officer a demigod.

In the classic film about the episode, the news was brought to the Kaiser (the same Kaiser Wilhelm II who had earlier met with Theodor Herzl in Jerusalem). For a long moment, the courtiers held their breath. Than the Kaiser burst out laughing, and the relieved courtiers joined in.

It wasn’t really a laughing matter, because eight years later the unbridled German militarism was one of the causes of World War I.

A week ago, a young Frenchwoman called Marie Leonie caused an uproar. According to her, six youngsters “with a North African look” attacked her in a Paris train, grabbed her purse and, (wrongly) believing her to be Jewish because she lives in the well-to-do 16th arrondissement, tore her clothes and painted swastikas on her belly. They then overturned her baby carriage - all this while 20 other passengers looked on without lifting a finger to help her.

France waxed hysterical with rage and guilt. The leaders of the republic, from President Jacques Chirac down, blamed themselves and promised to put the fight against anti-Semitism at the top of the national agenda. All the newspapers displayed giant headlines about the nation’s shame, together with profound background-pieces about the groundswell of anti-Semitism. Jewish organizations in France and throughout the world accused European society of a frightening resurgence of anti-Semitism and invoked memories of the Holocaust. The Israeli media had a field-day, telling all Jews that they would find safety only in Israel.

I had my doubts from the first moment. After my 40 years as the editor of a magazine specializing in investigative journalism, I have developed a keen nose for phony stories. This one was manifestly implausible. I am convinced that the French investigators doubted it from the beginning. But who would dare to raise any doubts in the face of a runaway public hysteria?

And then, suddenly, the whole story collapsed. Not a single eye-witness came forward. The station cameras did not show any sign of the occurrence. It became known that the young woman had made false statements to the police in the past. Two days after the uproar, the woman broke down and admitted the truth: the whole thing was an invention.

Like the Captain of Koepenick, who trained the spotlight on Prussian militarism, so did Marie Leonie direct the light at the anti-anti-Semitic hysteria in Europe, an irrational phenomenon that turns experienced politicians into fools, makes serious newspapers go crazy and allows all kinds of ugly manipulations.

In order to inject a measure of logic and sanity into the matter, one has to begin by distinguishing between different phenomena.

There is indeed some real anti-Semitism. It is deeply embedded in European-Christian civilization. It does exist today, as it always did. This is a hatred of Jews because they are Jews, irrespective of who and what else they are – rich or poor, capitalists or communists, supporters or critics of Israel, corrupt or honest. One of its expressions, for example, is the painting of swastikas on tombstones, an idiotic act that any disturbed juvenile can carry out on his own.

I don’t believe that this kind of anti-Semitism has increased in recent years. Perhaps it is has lost some of its shame with the passing of the years since the Holocaust. In the present situation, it is not dangerous.

A quite different phenomenon is the North-African war conducted on European soil. Young Muslims from North Africa are battling young Jews from North Africa. That started back home, when the Jews supported the French regime against the freedom fighters. In the last phase, the Jewish underground organization was the mainstay of the opposition to the liberation of Algeria. (The organization was set up by Israeli agents to defend the Jews, but the leaders gradually migrated to Israel and the organization was left in the hands of the most rabid Arab-haters.)

Now this confrontation has become a local offshoot of the Israeli-Palestinian conflict. The Muslims are enflamed by TV pictures of the oppression and humiliation enforced by our soldiers in the occupied territories, while the Jewish organizations support the Sharon government. Most Jews in France are emigrants from North Africa. This causes many incidents and creates the impression that anti-Semitism is on the rise.

Our government is pouring petrol on the flames by instructing its representatives around the world to stigmatize all criticism of its actions as anti-Semitism. This way it sticks the label of anti-Semitism on the entire world, from the UN General Assembly and the International Court of Justice to humanitarian organizations.

It is easy to create this confusion when one does not differentiate between “Jewish” and “Israeli”. Everything becomes mixed up: anti-Semitism, anti-Zionism, criticism of Israel, criticism of Sharon. Such a mix-up is convenient for those interested in manipulations, but it not good for the Jews. “Jew” and “Israeli” are not the same.

Israel is a state like any other state. It was indeed created by Jews and a majority of its citizens are Jews. But Israel is an independent and separate entity. It is permissible (and, in my opinion, desirable) to criticize the policy of our government, much as it is permissible for us to criticize that of any other state. There is no necessary connection between such criticism and anti-Semitism.

True, the Jews in Israel have a strong affinity with Jews all over the world, and these have an affinity with Israel. That is quite natural, and much like the affinity that many people in Australia and Canada feel for Britain. But this does not mean that Jews around the world must automatically support every act of the Israeli government in a kind of Pavlovian reflex. That is convenient for the Israeli government, but not necessarily good for Israel. It is certainly bad for the Jews.

We are Israelis. We created this state in order to be masters of our own destiny. We want to be like any other people, indeed, like the best of them. We are responsible for our actions, and nobody who is not a citizen of Israel bears any responsibility for them.

The Jewish citizens of France are responsible for the actions of the French government that they vote for, and perhaps for the actions of the Jewish community to which they belong. They are not responsible for our actions. They do not have to defend our actions at all costs. If they want to criticize them, they are welcome.

When there is a clear and clean separation, anti-Semitism will remain in Europe as marginal a phenomenon as it has been since the Holocaust. And if we Israelis succeed in returning to the road to peace, the attitude towards Israel will return to what it was after Oslo, when the whole world saluted us.

If the disturbed Frenchwoman’s hoax helps us overcome the hysteria and return to a sane approach to this matter, than she deserves our blessing.

July 17, 2004

Source: http://www.gush-shalom.org


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