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Auschwitz als machtpolitisches Kalkül

Ein Kommentar zum Antisemitismusbericht des Deutschen Bundestages

Von SUSANN WITT-STAHL *

Die jüngst veröffentlichte Antisemitismusstudie klärt nicht nur über das Besorgnis erregende Ausmaß der Verwurzelung und Verbreitung von Judenhass in der bundesrepublikanischen Gesellschaft auf. In Teilen trägt der Bericht auch zu der in der politischen Kultur der Berliner Republik wachsenden Inflationierung des Antisemitismusvorwurfs und aggressiven Meinungsmache gegen die kapitalismuskritische Linke bei. Damit verbunden findet sich im Subtext der Studie die Apologie einer deutschen Außenpolitik, deren Primat der Historiker Frank Stern einst als „Whitewashing of the Yellow Badge“ bezeichnet hatte. Entsprechend beruft sich die Expertenkommission, die den Antisemitismusbericht verfasst hat, auf zweifelhafte Quellen und ist längst nicht so „unabhängig“, wie der Öffentlichkeit suggeriert wird – schon gar nicht ist sie ausschließlich von wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse geleitet.

Beschmierte Grabsteine auf jüdischen Friedhöfen, antisemitische Hetzparolen bei Sportveranstaltungen, manchmal verbunden mit Drohungen oder gar Gewalt: Im April 2008 beispielsweise wurde in Brandenburg nach einem Fußballmatch ein Spieler von einem unbekannten Mann mit den Worten „Ihr Judenschweine, früher hätte euch Hitler vergast“ beschimpft und auf das rechte Auge geschlagen. Kein Einzelfall. Im Internet wird menschenverachtende Hetze verbreitet, der Völkermord an den Juden geleugnet und seine Opfer verhöhnt.

Der Aussage, dass Juden „durch ihr Verhalten an ihren Verfolgungen mitschuldig sind“ stimmen 12, 6 Prozent der Deutschen zu – im Täterland eine verbreitete historische Selbstentschuldungsstrategie. Antisemitische Ressentiments sind in der deutschen Gesellschaft nach wie vor in „erheblichem Umfang“ verwurzelt. Bei rund einem Fünftel der Bevölkerung sei eine latente Judenfeindschaft vorhanden. Diese düstere Bilanz zieht eine 2009 im Auftrag des Bundestages bestellte und von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission in ihrem rund 200 Seiten mächtigen Bericht mit dem Titel „Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze“, der vergangenen Montag von Bundesvizepräsident Wolfgang Thierse (SPD) präsentiert wurde. (1)

Antisemitismusbericht auch ein Teil des Problems

„Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“, finden 38, 4 Prozent der Deutschen. Es gehört zu den historisch spezifischen Erscheinungsformen des Antisemitismus nach 1945, Juden und Judentum mit dem Zionismus und dem Staat Israel zu identifizieren und das gesamte überaus heterogene jüdische Kollektiv für die Angriffskriege und völkerrechtswidrige Besatzungspolitik, für die die jeweiligen israelische Regierungen verantwortlich zeichnen, politisch und moralisch anzuklagen und in Haftung zu nehmen.

Für dieses Problem zeigt die Studie erwartungsgemäß keine Lösungsansätze auf. Sie erweist sich vielmehr als Teil des Problems. Geschichtsvergessen unterschlägt sie, dass genau diese ideologische Identifikation Judentum=Zionismus und Juden=Israelis zur Matrix der Außenpolitik des postnazistischen Deutschland gehört. In der Adenauer-Ära wurde mit dem Begriff „Wiedergutmachung“ – eine Möglichkeit, die Deutschland „sechs Millionen Mal verwirkt hat“ (Moshe Zuckermann) – einer der perfidesten Euphemismen in der gesamten parlamentarischen Geschichte der Republik ersonnen, der in der Folge nicht nur Grundlage weiterer Banalisierungen des Völkermords, sondern auch seiner Instrumentalisierung durch Repräsentanten des Täterlands werden sollte (s. Auschwitz-Vergleich zur Legitimierung der deutschen Beteiligung an dem NATO-Angriffskrieg gegen Jugoslawien). (2)

Eine neue Lösung der „Judenfrage“

Die Deutschen hätten den Juden schlimmes Unrecht zugefügt, erklärte Altbundeskanzler Konrad Adenauer im Dezember 1965 rückblickend auf seine Regierungszeit. Und er erläuterte seine Haltung zur „Judenfrage“ und die Motive, Israel finanzielle und materielle Unterstützung zukommen zu lassen, folgendermaßen: „Wir hatten den Juden so viel Unrecht getan, solche Verbrechen an ihnen begangen, dass sie irgendwie gesühnt werden mussten oder wiedergutgemacht werden mussten, wenn wir überhaupt wieder Ansehen unter den Völkern der Erde gewinnen wollten. „Die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika, soll man nicht unterschätzen. Und daher habe ich sehr überlegt und habe sehr bewusst – und das war von jeher meine Meinung – meine ganze Kraft darangesetzt, so gut es ging, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem jüdischen Volk und dem deutschen Volk.“ (3)

Mit den antisemitischen Äußerungen und Relativierungen des Genozids, wie sie von Adenauer („Der Nationalsozialismus hat so viele Deutsche wie Juden getötet“) und seinen Kollegen getätigt worden waren, wollen seine politischen Enkel heute nichts mehr zu tun haben. Die von der israelischen Polizei niedergeknüppelten Proteste – mit Slogans, wie „Adenauer, Deine rechte Hand war Hans Globke, der die mörderischen Nürnberger Gesetze entwarf" – gegen den Besuch des Ex-Kanzlers 1966 in Jerusalem und Tel Aviv und wütenden Anklagen seiner Kooperation mit NS-Verbrechern sollen aus dem Kollektivgedächtnis der Deutschen verschwinden. (4) Noch mehr aber stört die Merkel-Regierung die Erinnerung an die finsterste Epoche in der Geschichte des deutschen Imperialismus und der sich aus ihr ableitende Kategorische Imperativ „Nie wieder Krieg!“ (der untrennbar mit der Forderung „Nie wieder Faschismus“ verbunden ist) bei der Durchsetzung der Agenda der Berliner Republik: Ob mit KFOR in Jugoslawien, mit ISAF in Afghanistan, als Dienstleister der US-Armee im Irakkrieg, die Operation Atalanta, vielleicht bald neue Missionen gegen Syrien und den Iran – Deutschland, mittlerweile weltweit drittgrößter Rüstungsexporteur, will nicht in der zweiten Reihe marschieren bei den Raubzügen des Westens für die Erlangung der Kontrolle über die letzten Ölreserven, zur Erschließung neuer Märkte und Durchsetzung anderer ökonomischer und geopolitischer Interessen.

„Whitewashing of the Yellow Badge“

Nachdem in den 1960er-Jahren das Schweigen über Auschwitz durch die deutsche Linke aufgebrochen worden war, lernte die politische Klasse endgültig verstehen: Dieser welthistorische Stachel lässt sich nicht abstreifen. Aber er lässt sich als ideologische Waffe einsetzen – und gut gegen die Linke wenden, die ihn immer wieder tief in das deutsche Fleisch gebohrt hat.

Ganz auf Linie und in der außenpolitischen Tradition der Adenauer‘schen „Wiedergutmachung“ handeln Angela Merkel und andere Repräsentanten der Berliner Republik, wenn sie das von ihnen wohlweislich konsequent mit dem Kollektiv der Shoah-Opfer identifizierte und an vorderster Front im „War on Terror“ stehende Israel für Deutschlands neoimperialistische Unternehmungen als entlastungspolitische Trumpfkarte einsetzen. „Wann immer die moralische Legitimation der Bundesrepublik Schwierigkeiten aufwirft“, beispielsweise während der Auflösung der DDR und der sogenannten Wiedervereinigung, schrieb der Geschichts- und Kulturwissenschaftler Frank Stern 1991, „werden philosemitische Erklärungen oder Aktionen als eine Art Antwort verwendet“. Israels Kriege und sein Militär würden glorifiziert. (5) Als Angela Merkel in ihrer Knesset-Rede 2008 Israel allen Ernstes bescheinigt hat, es habe seit seiner Staatsgründung 1948 in der Region „für Frieden und Sicherheit gekämpft“, litt sie nicht an schwerem Realitätsverlust, sondern agierte mit machtpolitischem Kalkül.

Vor allem die antikapitalistische Linke im Visier

Für diese Politik, die Frank Stern als Akt der „Whitewashing of the Yellow Badge“ bezeichnete, liefert der vom Deutschen Bundestag bestellte Antisemitismusbericht einen neuen Baustein.

Nicht zuletzt dadurch, dass nicht selten Israelkritik, Antizionismus, Israelfeindschaft und Judenhass gnadenlos miteinander vermengt werden, vor allem wenn es um die Entlarvung des „linken Antisemitismus“ geht. Unter der Überschrift „Antisemitische Stereotypisierungen im universitären Umfeld“ wird ein Beispiel dafür genannt, das das Ausmaß der durch die Verfasser des Berichts vorgenommenen ideologischen Dehnung des Antisemitismusbegriffs erahnen lässt: Im Sommersemester 2005 „wurde an der Universität Leipzig eine Vorlesungsreihe mit dem Titel ,Deutschland-Israel-Palästina‘ angeboten, zu der mehrere Vortragende eingeladen wurden, die eine einseitige Position im Nahostkonflikt gegen Israel vertreten“. (6)

In dem Abschnitt über „Klischees, Vorurteile, Ressentiments und Stereotypisierungen in den Medien“ ist zu lesen: „Seit Beginn der Zweiten Intifada im Herbst 2000 legt die Entwicklung den Schluss nahe, dass es heute legitim, manchmal sogar en vogue erscheint, eine antiisraelische/antizionistische Haltung einzunehmen. Damit schleichen sich antisemitische Denkstrukturen mehr und mehr in den öffentlichen und privaten Diskurs ein und werden von Gesellschaft, Politik und Presse seltener thematisiert und kritisiert. (7)

Mehr als 90 Prozent der antisemitischen Straftaten werden von Tätern begangen, die dem rechtsradikalen Spektrum zuzuordnen sind, erklärt der Historiker Peter Longerich, Mitglied der Expertenkommission. Die Judenfeindschaft gehöre zum ideologischen Fundament des rechtsradikalen Milieus und sei ein wichtiges Bindeglied. Beim Linksextremismus hingegen sei „dies eindeutig nicht der Fall“, wird in der Zusammenfassung der Ergebnisse des Berichts eingeräumt. (8) An anderer Stelle wird konstatiert, es gebe „keinen genuinen linksextremistischen Antisemitismus“, aber „sehr wohl Antisemitismus unter Linksextremisten“ – zu denen Organisationen, die eine „kommunistische Diktatur“ anstreben, die Tageszeitung Junge Welt, Trotzkisten, wie die Strömung Marx 21 (die, so erfährt der Rezipient nebenbei, in der Linkspartei „Unterwanderungspolitik“ betreibe), aber auch die „Antideutschen“ gezählt werden. Die, stellen die Verfasser heraus, würden mitunter auch Linken Antisemitismus vorwerfen. (9)

Diskreditierung der Israelkritik

Von den unter „Linksextremisten“ verbreiteten „Positionen, die einen antisemitischen Diskurs befördern können“, ist den Experten „vor allem“ eine ein Dorn im Auge: „Die Israelkritik, die häufig durch eine einseitige Verurteilung des jüdischen Staates, ein Ignorieren seiner legitimen Sicherheitsinteressen und eine leichtfertige Infragestellung seiner Existenzberechtigung geprägt ist.“ (10) Die Palette der nach Meinung der Kommission Antisemitismus fördernden linken Positionen, die zumindest „problematisch“ in dieser Hinsicht seien, ist bunt: „Direkte und indirekte Anspielungen“ auf eine „Gleichsetzung mit dem Apartheidstaat“, im „angeblich aggressiven Vorgehen Israels“, die alleinige Ursache für den Nahostkonflikt zu sehen, etc. etc.

Der parlamentarischen Linken widmen sich die Antisemitismus-Experten im mittlerweile gewohnten Verfassungsschutz-Jargon: „In jüngster Zeit sind zwei Ortsverbände der ,Linken` durch Boykottaktionen gegen Israel aufgefallen, die nicht frei von antisemitischen Konnotationen waren. Das Bremer Friedensforum rief am 11. März 2011 zum Boykott gegen Israel mit einer Demonstration vor einem Supermarkt auf.“ Und: „,Die Linke‘ waren auch an der Gaza-Flottille beteiligt.“ (11) Die Experten fordern: „Obwohl sich Teile der Linkspartei und der Parteivorstand deutlich gegen solche antizionistischen Äußerungen positionieren, müsste eine intensivere Auseinandersetzung innerhalb der Partei über Positionen geführt werden, die eine Grenze zwischen legitimer Israelkritik und Antisemitismus überschreiten.“ (12)

Und in dem – würde Longerichs oben zitierte Aussage ernst genommen oder auch nur die Tatsache, dass in der deutschen Kriminalstatistik über das linke Spektrum für die Jahre 2001 bis 2010 lediglich fünf antisemitisch motivierte Gewalttaten verzeichnet sind – überproportional langen Kapitel über linken Antisemitismus (während dem rechtsradikalen lediglich neun Seiten gewidmet waren, waren es beim linken zwölf. Noch mehr Aufmerksamkeit bekamen nur Antisemiten mit „Migrationshintergrund“, vor allem die türkischen und iranischen) ist beispielsweise zu lesen: „Mitunter führen dabei Linksextremisten die Unterstützung Israels durch die Bundesregierung auf eine diesbezüglich bedenkliche Haltung zur Vergangenheitsbewältigung zurück.“ Dieses Vergehen sei nicht nur auf den unter radikalen Linken verbreiteten „Antiimperialismus“ zurückzuführen, fanden die Verfasser heraus. „Bei solchen Auffassungen“ – gemeint ist offenbar die Kritik an den ideologischen Ausläufern von Adenauers „Wiedergutmachung“ – würden „sich auch inhaltliche Anknüpfungspunkte für den Antisemitismus ergeben.“ (13)

„Antideutsche“ und andere Neocons als Zeugen der Anklage

Signifikant, aber nicht überraschend an dieser Studie ist, wie intensiv die Verfasser sich aus dem reichhaltigen Diffamierungsrepertoire der „Antideutschen“ bedienen – vor allem wenn es um die ausführliche Abrechnung mit dem „staatsdoktrinären Antizionismus“ der DDR geht, in deren politischer Kultur angeblich „die angewandten antiamerikanischen und antizionistischen Argumentationsmuster häufig in der (Weiter-)Verwendung antisemitischer Phrasen mündeten“. (14) Als „Beweismaterial“ ihrer Anklage gegen die Linke wird eine mehr als beachtliche Menge von teilweise unseriösen Quellen (darunter Flugblätter mit verleumderischen Inhalten) sowie Literatur herangezogen, für die Autoren und Organisationen aus dem „antideutschen“ Milieu Urheberschaft beanspruchen. Das gilt beispielsweise, wenn es darum geht, eine Dominanz „antisemitischer Denkformen“ in der KPD und anderen kommunistischen Strukturen auszumachen. Oder wenn Kräfte in der Partei Die Linke aufgespürt werden sollen, die angeblich in der Tradition derer stehen, die den Zionismus als „weitverzweigtes Organisationssystem der jüdischen Bourgeoisie“ definieren (eine Behauptung, für die die Experten sich nicht entblöden, „die Boykottaufrufe gegen israelische Waren einzelner Ortsverbände der Partei ,Die Linke‘“ und „einseitige antiisraelische Positionierungen einzelner Parteimitglieder, die sich an der Gaza-Flottille im Mai 2010 beteiligten“ als Beleg anzuführen). (15)

Die Initiative Sozialistisches Forum („Jede Kritik am Staat Israel ist antisemitisch“), neben der Zeitschrift Bahamas Meinungsführer unter den „antideutschen“ Neokonservativen, Samuel Salzborn, ehemaliger Bahamas- und Co-Autor der umstrittenen Studie über „antzionistischen Antisemitismus“ in der Linkspartei (Hintergrund berichtete), Jungle-World-Autor Olaf Kistenmacher, häufig konsultierter Referent für antikommunistische Veranstaltungen – sie und einige mehr wurden konsultiert, um für die Antisemitismusstudie des Bundestags die ideologische Munition gegen die Linke zu liefern. Darüber hinaus wurden die Eleborate von klassischen Neocons, wie Sascha Stawski, Betreiber des der Netanjahu-Lieberman-Regierungspolitik nahestehenden Netzwerks Honestly Concerned, und dem Rechtspopulisten und glühenden Islamhasser Henryk M. Broder herangezogen.

So verwundert es auch nicht weiter, dass die Behauptung des neokonservativen Bundesarbeitskreis Shalom in der Linksjugend, bei den Protesten gegen die Abriegelung des Gaza-Streifens ihrer Genossen aus dem friedensbewegten Lager der Partei handele sich um „antisemitische Vorfälle“, von den Experten nicht als Akt der Inflationierung des Antisemitismusbegriffs problematisiert wurde – im Gegenteil sie wurde sogar positiv herausgestellt. (16) Noch weniger wird einen kritischen Leser erstaunen, dass der längst durch Berichte von Zeitzeugen entlarvte Mythos, während der Entführung einer Air-France-Maschine 1976 habe „eine Selektion in jüdische und nichtjüdische Passagiere auch durch die deutschen Linksterroristen“ stattgefunden, in dem Antisemitismusbericht hartnäckig weiterverbreitet wird. (17)

Zweifel an wissenschaftlicher Integrität

Ebenso wie der Mangel an historiographischer Redlichkeit, die ideologische Verformung des Antisemitismusbegriffs und die starke Fokussierung auf „linken Antisemitismus“ lässt auch die Auswahl der Mitglieder des „unabhängigen Expertenkreises“ erhebliche Zweifel an der wissenschaftlichen Integrität des Antisemitismusberichts aufkommen: Dem zehnköpfigen Gremium gehört Wahied Wahdat-Hagh an, ein strammer Neokonservativer, Autor der Achse des Guten, der Welt und Jungle World. Wahdat-Hagh unterstützt das bellizistische Netzwerk mit dem zynischen Namen Stop the Bomb , das sich für ein aggressives Vorgehen des Westens gegen den Iran einsetzt. Der in deutschen Medien als „Iran-Experte“ gehandelte Soziologe lehnt einen kritischen Dialog mit der islamischen Republik rigoros ab, behauptet, ihre Regierung treffe Vorbereitungen für einen „Genozid“ an den Bahai und fordert eine Verhinderung der iranischen Atombombe „mit allen Kräften“. (18)

Ein weiteres Mitglied der Expertenkommission ist der Historiker Julius Schoeps („Manchmal hat man den Eindruck, der Antizionismus ist eine andere Form des Antisemitismus oder damit identisch“), der 2011 über Bild, Weser Kurier und andere Medien einen Feldzug gegen das Bremer Friedensforum führte, weil es sich an der internationalen Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions beteiligte. Schoeps skandalisierte deren Aktionen, „hier handelt es sich um Antisemitismus“ und verglich sie mit dem Terror der SA gegen jüdische Geschäftsleute im NS-Staat („Kauft nicht bei Juden“).

Und der stolze Präsentator des Antisemitismusberichts, Bundesvizepräsident Wolfgang Thierse, kann auch seinen machtpolitischen Honig saugen. Er ist Schirmherr einer Stiftung, die sich offiziell die Agenda gesetzt hat, eine Zivilgesellschaft zu stärken, die sich „konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet“, aber einen Teil ihrer Kapazitäten auch für die Bekämpfung der antikapitalistischen Linken einsetzt: In der „Chronik antisemitischer Vorfälle“ der Amadeu Antonio Stiftung, die in dem Antisemitismusbericht ausgiebig gelobt und exzessiv beworben wird, werden die Proteste des palästinensischen Frauenvereins gegen die israelische Besatzungspolitik mit den Gewaltverbrechen militanter Nazis auf eine Stufe gestellt. Anetta Kahane („Linksextremismus ist, wie alle antidemokratischen und antikosmopolitischen Ideologien, widerlich und menschenverachtend“) macht in den Medien immer wieder durch hasserfüllte Angriffe gegen den linken Flügel der Linkspartei und antiimperialistische Linke auf sich aufmerksam. Kahane beschuldigt sie, in der Tradition der Nazis zu stehen und gegen „die Juden“ vorgehen zu wollen. (19) Auch die Amadeu Antonio Stiftung kooperiert mit der Iran-Kriegslobby: 2009 beispielsweise veranstaltete sie mit Stop the Bomb, „antideutschen“ und anderen neokonservativen Organisationen in Berlin eine große Kundgebung unter dem Motto „Freiheit statt islamische Republik“, um einen harten Kurs gegen den Iran durchzusetzen. (20)

Fußnoten
  1. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, Berlin 2011; http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/077/1707700.pdf
  2. Die Kritik gilt nicht den – bis heute beschämend geringen oder immer noch nicht geleisteten – Entschädigungszahlungen an Überlebende des Holocaust sowie die sie vertretenden Institutionen durch die Bundesrepublik und deutsche Unternehmen. Sie gilt lediglich dem Begriff „Wiedergutmachung“, der damit verbundenen ideologischen Verzerrungen der Holocaust-Narrative und seinem Einsatz für machtpolitische Zwecke.
  3. http://www.youtube.com/watch?v=9CaaQywraXw
  4. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46407151.html
  5. Frank Stern, The Whitewashing of the Yellow Badge: Antisemitism and Philosemitism in Postwar Germany, Oxford 1992, S. 434
  6. Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus, Antisemitismus in Deutschland – Erscheinungsformen, Bedingungen, Präventionsansätze, Berlin 2011, S. 88
  7. Ebenda, S. 96
  8. Ebda, S. 172
  9. Ebda, S. 21f.
  10. Ebda, S. 172
  11. Ebda, S. 142
  12. Ebda, S. 148
  13. Ebda, S. 27
  14. Ebda, S. 22f.
  15. Ebda, S. 23
  16. Ebda, S. 148
  17. Ebda, S. 24; http://www.haaretz.com/weekend/week-s-end/setting-the-record-straight-entebbe-was-not-auschwitz-1.372131
  18. http://www.welt.de/debatte/kolumnen/Iran-aktuell/article6061729/Genozid-der-iranischen-Bahai-ist-moeglich.html; http://www.digberlin.de/PDFUPLOAD/artikel_wahdat_hagh.pdf; http://www.welt.de/debatte/kolumnen/Iran-aktuell/article6061729/Genozid-der-iranischen-Bahai-ist-moeglich.html
  19. http://www.berliner-zeitung.de/archiv/von-anetta-kahane--vorsitzende-der-amadeu-antonio-stiftung-feine-antiimperialisten,10810590,10726184.html
  20. http://de.stopthebomb.net/142009.html
* Aus: Hintergrund, 27. Januar 2012; www.hintergrund.de;
mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber und der Autorin.



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