Demonstrationsrecht für Nazis? Demoverbot für Linke?
Zwei Nachträge zu den Ereignissen am 1. Mai
Im Folgenden dokumentieren wir -
die Erklärung eines Sprechers der VVN-BdA zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen NPD-Demos am 1. Mai (diese Erklärung war auch als Leserbrief in der Frankfurter Rundschau vom 18. Mai 2001 abgedruckt),
-
eine Erklärung der Gruppen der Berliner Friedenskoordination zu den Ereignissen am 1. Mai in Berlin.
Im Widerspruch zum Grundgesetz
Zu Demonstrationsfreiheit gilt auch für die Freunde der Freiheit (FR vom 12. Mai
2001):
Nun zieht das Bundesverfassungsgericht also das Parteiprivileg heran, um
der nicht verbotenen NPD zu ihrem Versammlungs-"Recht" zu verhelfen. (Seite 1,
FR vom 12. Mai 2001). Vor einigen Wochen noch - als keine "erlaubte" NPD
demonstrierte, sondern verbotene Nazigruppen, die sich nun "freie
Kameradschaften" nennen -, da ging es dem höchsten Gericht darum, auch
"missliebige Meinungen" zu Wort kommen zu lassen. Das von den Innenministern
ausgesprochene Verbot von FAP und anderen "Parteien" und Vereinigungen der
Rechten wird in Karlsruhe nicht ernst genommen. Wann wehren sich die
Innenminister ?
Nun hat das BVG die Verbote von Neonazi-Demonstrationen aufgehoben; sogar ein
Verbot, das das Oberverwaltungsgericht Münster ausgesprochen hatte gegen
Neonazi-Demonstrationen in Ennepetal und Hagen. Objektiv gesehen, begünstigt
das BVG Neonazi-Aktivitäten. Und das im Widerspruch zu Artikel 139 des
Grundgesetzes, der Nazi-Aktivitäten untersagt. Das Oberverwaltungsgericht in
Münster hatte sich auf das grundgesetzliche Verbot des Nationalsozialismus
bezogen. Dieses Verbot gründet sich auf das Grundgesetz mit der Bekräftigung der
völkerrechtlichen Beschlüsse von 1945 zur Befreiung des deutschen Volkes von
Nationalsozialismus und Militarismus.
Das BVG sprach sich hingegen mit dieser seiner Entscheidung für die
"Meinungsfreiheit" der Neonazis aus, die allenfalls eine "missliebige" Meinung sei.
Aber die Nazi-Ideologie ist kein schützenswertes Gut. Sie bringt, wie die
Geschichte bewiesen hat, furchtbare Folgen. Sie bringt Rassismus,
Antisemitismus, sie schützt den Nationalsozialismus, sie dient der
Kriegsvorbereitung. Mit Recht tragen Demonstranten und Antifaschisten
Transparente mit der Losung: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein
Verbrechen !
Wir fordern, dass dieser Lebenserfahrung der Opfer des Faschismus endlich
entsprochen wird. Wir fordern, dass die antifaschistische Kernaussage des
Grundgesetzes endlich respektiert und umgesetzt wird. Durch und gerade vom
Bundesverfassungsgericht.
Ulrich Sander
für den
Landesausschuss NRW der
Vereinigungen der Verfolgten des
Nazi-Regimes - Bund der
Antifaschisten, Wuppertal
Erklärung zum 1. Mai 2001
Zu den Ereignissen um den 1.Mai 2001 und der Auseinandersetzung über das Demonstrationsrecht in Berlin erklären die in der Berliner Friedenskoordination zusammenarbeitenden Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen:
Mit dem Vorgehen um den 1.Mai 2001 hat der Versuch das Demonstrationsrecht in der Stadt abzuschaffen und den Widerstand gegen rechte Verbrecher zu kriminalisieren einen neuen Höhepunkt erreicht.
Der CDU geführte Senat hat im Zusammenhang mit diesen 1.Mai gezeigt, wie die Regierenden in Land und Bund in Zukunft im Ernstfall mit politischen und sozialen Konflikten in dieser Stadt umgehen wollen: Neofaschisten dürfen sich kontrolliert formieren. Alle fortschrittlichen Gruppierungen werden diffamiert, in ihren grundlegenden bürgerlichen Rechten beschränkt und bei dem Versuch der Durchsetzung ihrer Ansprüche auf Meinungsäußerung nach Möglichkeit verprügelt und kriminalisiert.
Die Regierung dieser Stadt, bei der Innensenator Werthebach die nach außen auftretende Figur in diesem Spiel ist, will erklärter Maßen in der neuen Bundeshauptstadt Berlin das Demonstrationsrecht und die Bewegungsfreiheit insgesamt vollständig kontrollieren und nach ihrem Belieben steuern. Diese Absicht teilt auch die Bundesregierung, wie die nicht nur verbale Unterstützung des Innenministers zeigt.
Das Ziel der Aushöhlung dieses demokratischen Grundrechts, das gerade für parlamentarisch nicht vertretene Minderheiten oft die einzige Möglichkeit ist, ihre politischen Vorstellungen zu äußern, verfolgt besonders die CDU nun schon seit Jahren systematisch. Nach Vorschlägen der CDU sollen ganze Bereiche der Innenstadt für Demonstrationen gesperrt werden und sogar das "Ansehen Deutschlands" als Kriterium für Grundrechtsbeschränkungen herhalten.
Dass zur Erreichung des Ziels viele Mittel recht sind, zeigte sich wieder am 1. Mai. Zum diesjährigen Szenario gehörte zunächst die Ansammlung einer nominellen Polizeigroßstreitmacht. Rund 9000 Polizisten und Beamte des Bundesgrenzschutzes wurden in Berlin zusammengezogen. Schon am 30.April konnte und sollte die Einwohnerschaft Berlins sowie die Presse die Präsenz dieser Kräfte nicht nur in Kreuzberg wahrnehmen. Am Abend des 30. April gab es in der Innenstadt wohl kaum eine größere Kreuzung, an der nicht Polizei- bzw. BGS-Beobachter postiert wurden. Kreuzberg glich zeitweise einem militärisch besetzten Gebiet.
Mit einer großen Medienkampagne wurde erklärt, die revolutionäre Demonstration am 1. Mai zu verbieten, da sie die Sicherheit der Stadt gefährde, weil es nach ihrem Ende (!) immer wieder zu Auseinandersetzungen gekommen sei.
Damit ein scheinbares Bild einer Ausgewogenheit in der Presse erzielt werden konnte, wurde völlig unverhohlen eine Gleichsetzung fortschrittlicher Demonstrationen mit faschistischen Aufmärschen propagiert (so schaffte es der Tagesspiegel eine Karte mit vermuteten "Brennpunkten" von Auseinandersetzungen am 1. Mai in Form von gezeichneten Feuern zu veröffentlichen und auf der gleichen Seite die angebliche Route des NDP-Aufmarsches anzukündigen).
Hierzu paßt es, daß der Berliner Innensenator offenbar nicht in der Lage oder nicht Willens ist, seine Verbotsanträge gegen faschistische Aufmärsche rechtlich ausreichend so zu begründen, daß die Verwaltungsgerichtsbarkeit dem folgen kann. Wie schon bei verschiedenen Gelegenheiten zuvor, wurde die Verbotsverfügung gegen die Neofaschisten so begründet, daß sie erkennbar einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten konnte.
Nachdem die Gerichte erwartungsgemäß diese Verbotsverfügung aufheben mußten, war bereits ein wesentliches Ziel erreicht - für die Öffentlichkeit erschien das Demonstrationsrecht (mal wieder) ungeeignet, neofaschistischen Verbrechern ihre Propagandaaufmärsche zu untersagen.
Daß die Neofaschisten bei ihren Demonstrationen in Berlin in der Vergangenheit und schließlich auch an diesem 1. Mai geradezu eine Flut von Gesetzesverletzungen begehen, wie allein das Zeigen von verbotenen Symbolen (wozu eben nicht nur das sog. Hakenkreuz gehört) auf solchen Aufmärschen, ist nur dann zu übersehen, wenn man nicht weiß, welche Symbole verboten sind. Allein dieses Verhalten auf allen Aufzügen der Neofaschisten wäre bereits - ordentlich juristisch formuliert - geeignet, mit dem bestehenden Demonstrationsrecht jedweden Aufmarsch der Neofaschisten wirksam zu untersagen. Nebenbei, das vor jeder Faschisten-Demo etliche Personen wegen mitgebrachter Waffen etc. festgenommen werden (am 1. Mai u.U. wegen einer Pistole), reicht auch schon.
So kam es, wie es im Hinblick auf das Verhalten des Berliner Senats kommen mußte, in unserer Stadt konnten Faschisten auch am 1.Mai gut geschützt von der Polizei demonstrieren.
Damit war für die öffentliche Auseinandersetzung die Eskalation am 1. Mai vorbereitet, da ja das Verbot der linken Demonstration einerseits und die Hinnahme der faschistischen Demonstration andererseits nun als Provokation bezeichnet werden konnte.
Damit dann auch alle wußten, daß der Berliner Innensenator seine Auseinandersetzungen vermelden muß, wenn er sie denn zuvor öffentlich erwartet, konnten tatsächlich bei den Lagerfeuern in der Nacht des 30. April doch einige Betrunkene dazu gebracht werden, sich mit Polizeikräften messen zu wollen.
Doch trotz der tagelangen Propaganda, insbesondere gegenüber der antifaschistischen AAB, ließen sich die fortschrittlichen Kräfte nicht auf das Szenario ein.
Die Jugendorganisationen von Grünen und SPD (Grüne Jugend und JUSOS) meldeten gemeinsam mit einer PDS-Bundestagsabgeordneten und in Zusammenarbeit mit diversen Bürgerrechtsorganisationen eine Demonstration gegen das Demonstrationsverbot am 1. Mai an.
Die Erklärungen zu dieser Demonstration für alle fortschrittlichen Kräfte in der Stadt richteten sich bewußt gegen die politische Zielsetzung der Einschränkung des Demonstrationsrechtes und die mangelnde Bereitschaft der NPD entgegenzutreten.
Gleichzeitig wurde öffentlich erklärt, daß das traditionelle Familienfest auf dem Mariannenplatz erneut als gemeinsames friedliches Fest von allen Beteiligten durchgeführt werden würde.
Tatsächlich war das öffentliche Klima in der Stadt nicht für die Politik des CDU-geführten Senats gewonnen. An den Demonstrationszügen des DGB zum 1. Mai durften alle teilnehmen und trotz des außerordentlich hohen Polizeiaufgebotes und der Einschüchterungen im Vorfeld nahmen erstaunlich viele Menschen an dieser Demonstration teil. Tatsächlich sahen selbst bürgerlichen Medien sich bemüßigt immerhin im Nachhinein die zentralen Forderungen nach Abbau der Arbeitslosigkeit und Durchsetzung einer verbesserten Mitbestimmung zu erwähnen.
Auch auf der DGB-Kundgebung wurde der Abschaffung des Demonstrationsrechts widersprochen und zur Teilnahme an der Demo gegen das Demonstrationsverbot aufgerufen.
So nahmen schließlich über 10 000 Menschen an dieser Demonstration durch Kreuzberg teil, in deren Verlauf tatsächlich alle ihre Positionen formulieren konnten.
Und trotz aggressiver Ankündigungen und geradezu hanebüchener "Fehler" der Polizeiführung (Polizeiketten mitten in der Menschenmenge der Abschlußveranstaltung, ungeschützte Polizei- Kleinbusse mitten auf der Demonstrationsroute abgestellt, etc.) kam es einfach zu keinen Auseinandersetzungen im Verlauf dieser Demonstration, die gegen 16.00 Uhr friedlich beendet wurde. Auch die kleine Mittags-1-Mai-Demo einiger anderer Gruppen verlief ohne die herbeigeredeten Auseinandersetzungen.
Bis 17.40 Uhr des 1. Mai 2001 lautete das Fazit:
Die Faschisten konnten ihren Aufmarsch unter dem massiven Schutz der Polizei durchführen. Antifaschistische Gegendemonstrant/inn/en wurden, soweit ihnen nicht schon von vorne herein das Betreten von Hohenschönhausen verboten wurde, durch die Beamten abgedrängt und massiv behindert.
Die fortschrittlichen Kräfte hatten dagegen erfolgreiche politische Demonstrationen, gerade auch in Kreuzberg, zusammen durchgeführt und auf dem Mariannenplatz fand auch noch ein gemeinsames Fest statt.
Dann schaffte es die Polizei - ob absichtlich oder nur aus Dummheit - erst hunderte von Personen völlig sinnlos in Kreuzberg zu kesseln, dann diesen mitzuteilen, sie seien eine verbotene Ansammlung und hätten zum Mariannenplatz zu gehen, um dann auf die teilweise am Boden Sitzenden mit BGS-Einheiten zu stürmen und sie zum Mariannenplatz zu treiben.
Daß der Fernsehsender B1 diese Vorgehensweise dokumentierte, zumal auch Beschäftigte dieses Senders die Ereignisse "hautnah" erleben "durften", führte zu massiven Einschüchterungsbemühungen gegen die Pressefreiheit.
Schließlich ließ der Herr Werthebach als dritten Akt seiner Inszenierung an diesem 1.Mai das friedliches Straßenfest auf dem Mariannenplatz kurz vor seinem offiziellen Ende "abräumen". Begründung der Polizei: Es solle verhindern werden, daß von hier Gewalt ausginge. Viele Anwohner, Familien mit kleinen Kindern waren auf dem Platz. Offenbar in den Augen der Polizeiführung ein kritisches Gewaltpotential.
Tatsache ist: Erst der Polizeieinsatz gegen 18 Uhr führte zur Eskalation der Situation. Das mehrmalige, überfallartige Überrennen des bis dahin friedlichen Volksfestes, insbesondere durch Polizeikräfte aus anderen Bundesländern, denen wohl niemand mitgeteilt hatte, daß sie gerade ein offizielles Straßenfest zertrümmerten, provozierte Steinwürfe, Barrikaden usw.
Die Polizei hat nicht nur den Anlaß für den Ausbruch der Gewalt geschaffen. Sie tat noch mehr: Ihre Aktionen hatten offenkundig nicht das Ziel, Konflikte zu vermeiden, Konfrontation abzubauen, sondern die Situation aufzuheizen. Ergänzt wurde dies durch ein Vorgehen der Einsatzkräfte, in dessen Verlauf viele Festbesucher/inn/en betroffen, bzw. in Mitleidenschaft gezogen wurden. Besonders die an den diversen Ständen Tätigen, wurden stundenlang blockiert bzw. eingekesselt, zum Teil auch von den Polizeikräften verletzt.
Der Kessel Mariannenplatz wurde gegen 19.00 Uhr geschlossen. Etwa drei Stunden später begann die Polizei - provozierend langsam - die etwa 300 Eingekesselten in Gewahrsam zu nehmen. Teilweise mußten die so widerrechtlich ihrer Freiheit Beraubten stundenlang in den Fahrzeugen der Polizei verbringen, bis man sie irgendwo in der Stadt abzusetzen begann. Teilweise wurden sie auch im Freien angekettet der Kälte ausgesetzt. Tatsächlich hat die Polizei es geschafft, nach der eigenen Statistik über die Hälfte aller vorläufig festgenommenen Personen ohne jeden Anlaß festzunehmen.
Bis zum späten Morgen des 2. Mai kam es in der Folge zu diversen Auseinandersetzungen, wobei nicht verschwiegen werden sollte, daß es sich die Polizeiführung nicht nehmen ließ selbst das Maybachufer zu räumen und sich zu bemühen die Auseinandersetzungen bis nach Neukölln auszuweiten.
Der Berliner SPD-Vorsitzende Strieder hat im Nachhinein sowohl den Polizeipräsidenten als auch den Innensenator wegen der Mai-Krawalle kritisiert. Sie hätten im Vorfeld von bürgerkriegsähnlichen Zuständen gesprochen, "die dann auch irgendwann eintreten", so Strieder im infoRadio Berlin-Brandenburg. Es sei grundlegend falsch gewesen, die "revolutionäre 1. Mai-Demonstration" in Kreuzberg zu verbieten und so mehrere Konfliktherde in Kauf zu nehmen. Dem können wir nur äußerst bedingt zustimmen.
Tatsächlich haben alle Demonstrationen friedlich stattgefunden und auch die Gruppen, die die "revolutionäre 1. Mai-Demonstration" in den letzten Jahren durchführten, haben gegen das Verbot das gemeinsame Recht auf Demonstrationsfreiheit mit durchgesetzt.
Die tatsächlichen Auseinandersetzungen waren zwar so gravierend wie schon seit Jahren nicht mehr, aber trotz des Herbeiredens kein Bürgerkrieg.
Aus dem Geschehen am 1. Mai haben wir den Eindruck gewonnen, daß die Polizeiführung unserer Stadt billigend in Kauf genommen hat, daß es zu Verletzungen bis hin zum Tod kommen konnte. Wenn ortsunkundige, meist blutjunge Polizist/inn/en aus anderen Bundesländern ohne ernsthafte Ausrüstung mitten in angezettelte Auseinandersetzungen gestellt werden und anderseits alt bekannte Berliner Polizeikräfte in Zivil mit Schlagstöcken durch die Straßen wandeln dürfen, dann sind erhebliche Verletzungen die zu erwartende Folge.
Fazit: Ziel der Regierung ist bekanntlich eine Verschärfung des Demonstrationsrechtes und eine entscheidende Einschränkung demokratischer Grundrechte.
Um diesen Effekt des 1. Mai 2001 in Berlin im Nachhinein zu erreichen, hat Landowski bewußt selbst die Teile der SPD als Terroristen mitbezeichnet, die für das Demonstrationsrecht aufgerufen hatten. Zugleich hat der Berliner Senat es bislang hingenommen, daß Werthebach bereits jetzt für den 1. Mai 2002 ein Verbot der linken Demonstrationen angekündigt hat.
Gegen diese kontinuierliche Strategie das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einzuschränken werden wir uns weiterhin aktiv wenden, ebenso wie wir gegen die Aufzüge faschistischer Verbrecher kämpfen.
Wir rufen schon heute auf, am 3. Oktober und 1. Mai das eigene Demonstrationsrecht auszuüben.
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