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Zu teuer und ineffektiv

Das US-Raketenabwehrsystem wird entzaubert - Schlechte Noten selbst von der Militärwissenschaftskommission des Pentagon

Vor kurzem erschien in der Zeitschrift "The National Interest" ein Artikel mit dem wunderbaren Titel "Entzauberung der Legende von einem Raketenabwehrsystem". Darin analysiert der Autor, der Atomphysiker Youssaf Butt,* einen im September 2011 erschienenen Bericht der Militärwissenschaftskommission des Pentagon (DSB)**. Dieser Bericht, der in der Fachwelt bisher weithin unbeachtet blieb, bestätigt im Grunde, was unabhängige Wissenschaftler bereits seit Jahrzehnten festgestellt hätten: Ein entschlossener Gegner könne die geplanten Abwehrsysteme sehr leicht mit einfachsten Mitteln überwinden. Und so würde das Raketenabwehrsystem den Gegnern und Konkurrenten der USA Anreize bieten, ihr eigenes Raketenarsenal zu vergrößern, ohne dabei jedoch eine effektive Möglichkeit zu bieten, diesen vergrößerten Arsenalen erfolgversprechend zu begegnen.

Im Bericht der Pentagon-Kommission wird auf die Bedeutung hingewiesen, verlässliche Unterscheidungen zwischen dem eigentlichen Sprengkopf und den zur Ablenkung eingesetzten Ballons und Ähnlichem treffen zu können, da die Abwehr sonst mit der Vielzahl der in Frage kommenden Ziele schnell überfordert wäre. Ein Weg zur Lösung wäre das Abfangen der Rakete, bevor der Sprengkopf und die Ablenkungsvorrichtungen ausgestoßen würden. Dies würde ein Abfangen der Rakete in ihrer Aufstiegsphase mit brennendem Treibsatz voraussetzen, was aber gegenwärtig technisch nicht machbar sei.

Es gäbe zwar ein kleines Zeitfenster zwischen dem Erlöschen des Treibsatzes und dem Ausstoßen von Sprengkopf und den Ablenkungsvorrichtungen, ein Abfangen in dieser Phase sei aber, wegen ihrer Kürze von ca. 100 Sekunden, selbst unter günstigsten Annahmen bei allen eingesetzten Komponenten realistisch nicht möglich.

Butt weist ferner zum einen darauf hin, dass die bisher letzten Tests selbst unter speziell arrangierten Bedingungen, bei denen dem Abfangteam Startzeit und Flugbahn der Rakete bekannt waren und keine Ablenkungsvorrichtungen vorhanden waren, alle fehlschlugen, und zwar sowohl von boden- wie seegestützten Abschusssystemen aus. Des Weiteren spricht er die bisherigen enormen Kosten des Programms an, das bereits mehr Mittel verschlungen habe als das gesamte Apollo-Programm, ohne einen effektiven Schutz gegen feindliche ballistische Raketen zu liefern.

Bei einem derartig dysfunktionalen und leicht zu überlistenden Raketenabwehrsystem stelle sich natürlich die Frage, warum es gleichwohl den Gegnern der USA soviel Sorge zu bereiten scheint. Dafür gäbe es eine einfache Antwort: Deren militärische Planer seien übervorsichtig und gezwungen, ein worst-case-scenario anzunehmen, wonach also das Raketenabwehrystem höchst effektiv wäre.

Als Folge würden die übervorsichtigen, fehlinformierten, opportunistischen oder militanten Elemente im Militär- und Politikapparat Irans oder Nord-Koreas, aber auch Russlands und Chinas gestärkt. Sowohl noch unbekannte Bedingungen in der Zukunft, wie auch Druck militanter Teile der Bevölkerung würden diese Regimes zu Erweiterung ihrer atomaren Arsenale veranlassen.

Und bei der auch vom Neuen START-Vertrag zwischen den USA und Russland anerkannten Verknüpfung von strategischer Defensive und Offensive sei es in hohem Maße unwahrscheinlich, dass Russland jemals das NATO-Raketenabwehrsystem anerkennen werde, selbst wenn es dysfunktional sei, da es ja Unsicherheiten bezüglich des vereinbarten Waffengleichgewichts enthalte. Und trotz der Aussage der NATO-Staaten, dass sich das System nicht gegen Russland richte und somit keine Bedrohung von dessen nuklearer Abschreckung darstelle, sowie des Angebots zur Partizipation Russlands an dem Programm blieben gravierende Differenzen über die genaue Art der Zusammenarbeit, die die Verhandlungen darüber zur Zeit blockierten.

Auch über chinesische Sorgen bezüglich des Raketenabwehrsystems bestünden große Unsicherheiten, und es seien Auswirkungen auf die Bereitschaft zu Verhandlungen über eine Begrenzung der Produktion spaltbaren Materials zu befürchten, weil Chinas Führung möglicherweise die Option einer zukünftigen militärischen Plutoniumproduktion aufrecht erhalten möchte und dabei sein könnte, sein Arsenal an Interkontinentalraketen aufzustocken als Folge seiner Einschätzung des US-Raketenabwehrprogramms.

Überhaupt müsse man das Programm als strategisch nutzlos bezeichnen, da es nicht sicherstellen könne, dass z.B. im Falle einer nuklearen Bewaffnung Teherans nicht wenigsten eine einzige Rakete den Schutzschild überwinde, wo er doch so einfach zu überlisten sei. Somit könne der Abschreckungseffekt zukünftiger iranischer atomar bestückter ballistischer Raketen nie erfolgreich neutralisiert werden. Also stelle die strategische Nutzlosigkeit von Raketenabwehrsystemen, die den Besitz nuklear bestückte Raketen praktisch „entwerten“ sollen, auch ein konzeptionelles, nicht lediglich ein technisches Problem dar. Da selbst der Einschlag von nur einer einzigen nuklear bestückten Rakete für die USA einen unakzeptablen Schaden anrichten würde, wären die strategischen Überlegungen bezüglich der Gegner der USA die gleichen, ob mit oder ohne Raketenabwehrsystem.

Ferner sei auch nicht zu erwarten, dass ein solches System die Gegner davon abhalten würde, die eigene Forschung und Produktion ballistischer Raketen fortzusetzen. Und selbst wenn es in der Zukunft ein voll funktionsfähiges Raketenabwehrsystem geben sollte, so würde es lediglich die Gegner der USA zu Änderungen im Transport der atomaren Sprengköpfe ins Ziel ermutigen, die dann noch schwieriger rechtzeitig aufzuspüren seien.

Abschließend konstatiert der Verfasser, dass die geplante Raketenabwehr keinen Schutz vor möglichen zukünftigen iranischen Interkontinentalraketen bieten könne, dafür aber sicherlich die Beziehungen zu Russland und China beeinträchtigen würde, weil es die Gegner veranlasse den schlimmsten Fall anzunehmen: Dies würde sie dazu bringen, ihre nuklearen Arsenale weiter aufzustocken und somit zu einer noch gefährlicheren Welt beizutragen. Ein dysfunktionales Raketenabwehrsystem habe also keinen einzigen Vorteil, sondern eine Vielzahl von Nachteilen - ganz abgesehen von dessen gigantischen Kosten.

Eckart Fooken

* Yousaf Butt: Debunking the Missile-Defense Myth. In: The National Interest, May 7, 2012; http://nationalinterest.org/commentary/debunking-the-missile-defense-myth-6889
Yousaf Butt ist Atomphysiker und arbeitet als wissenschaftlicher Berater bei der Föderation Amerikanischer Wissenschaftler (Federation of American Scientists), einem überparteilichen Think tank (siehe: http://www.fas.org).

** Defense Science Board: Task Force Report on Science and Technology Issues of Early Intercept Ballistic Missile Defense Feasibility, September 2011
[pdf-Datei, externer Link]



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