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Kein Durchbruch in Sicht - Russland und die NATO-Raketenabwehr

Ein Beitrag von Christoph Prößl in der NDR-Sendereihe "Streitkräfte und Strategien" *


Andreas Flocken (Moderator):
Im vergangenen Jahr hat die NATO den Aufbau einer eigenen Raketenabwehr beschlossen. Dabei will man mit Russland zusammenarbeiten. Denn Moskau hat erhebliche Vorbehalte gegen die Pläne des Bündnisses. In der kommenden Woche kommen in Brüssel die NATO-Verteidigungsminister mit ihrem russischen Kollegen zusammen. Das Thema Raketenabwehr steht dabei ganz oben auf der Tagesordnung. Eine Annäherung der Positionen ist allerdings nicht in Sicht. Christoph Prößl weiß mehr:


Manuskript Christoph Prößl

Einigkeit herrscht derzeit nur über das Große und Ganze: Die NATO und Russland wollen beim Aufbau eines Raketenschildes zusammen arbeiten. Das war ein Ergebnis des NATO-Gipfels in Lissabon im November 2010. Seitdem wird aber immer deutlicher: Die Details sind ungeklärt, auf beiden Seiten gibt es noch viel Misstrauen. Russland empfindet eine mögliche Raketenabwehr als Bedrohung – weil seine Atomwaffen wirkungslos werden könnten und so das westliche Verteidigungsbündnis deutlich stärker dastehen könnte. Das Gleichgewicht wäre gestört. Russlands Präsident Dmitri Medwedew:

O-Ton Medwedew (overvoice)
„Wenn man mir sagt, das System ist nicht gegen Euch gerichtet, nehme ich das zur Kenntnis. Aber andere Länder haben kein vergleichbares strategisches Potenzial wie Russland - sie werden es auch in absehbarer Zukunft nicht haben. Man nennt zwar den Iran und andere Staaten, aber die haben diese Möglichkeiten nicht. Das bedeutet, es ist doch gegen uns gerichtet. Lasst uns darüber offen sprechen und zusammenarbeiten. Ich hoffe, dass mein Kollege und Freund Barack Obama offene Fragen beantworten kann. Wir können gemeinsam ein Modell im Bereich der Raketenabwehr entwickeln - falls nicht, müssen wir Gegenmaßnahmen ergreifen, was wir uns nicht wünschen. Dann müssten wir die Entwicklung von offensiven Nuklearwaffen beschleunigen - das wäre ein sehr schlechtes Szenario.“

Diese Drohung formulierte Medwedew am 18. Mai. Dabei ist die russische Position klar. Russland fordert eine schriftliche Zusage, dass die Raketenabwehr nicht gegen Russland gerichtet ist. Ein solcher juristisch bindender Vertrag müsste aber vom amerikanischen Senat verabschiedet werden – und das scheint derzeit unmöglich. Die Forderungen der Russen zielen auf eines ab: Gleichberechtigung. Zu Beginn der Gespräche über eine gemeinsame Raketenabwehr stand noch die Idee eines gemeinsamen Schildes im Raum. Olivier Jehin, Leiter des Brüsseler Büros der Denkfabrik Institut Francais des Relations Internationales:

O-Ton Jehin (overvoice)
„Das Problem ist, dass es zu Beginn der Debatte ein Missverständnis gab. Das konnte man sehr gut beim Treffen in Lissabon spüren. Damals wurde angekündigt, dass es eine Einigung zwischen Russland und der NATO gibt. Aber in Wahrheit gab es zwei gegensätzliche Visionen. Also es gab zwei Partner, die kooperieren wollten, aber keinen gemeinsamen Standpunkt hatten.“

Und das Missverständnis ist bis heute nicht ausgeräumt. Schon bald nach dem Treffen in Lissabon formulierte der NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen die Pläne der Allianz:

O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Unsere Position ist sehr klar. Wir denken an zwei unabhängige Systeme. Ein NATO-System und ein russisches System. Aber mit einem gemeinsamen Ziel. Also diese beiden Systeme sollen koordiniert werden und kooperieren. Es sollen Daten ausgetauscht werden, und durch die Kooperation soll die Arbeit viel effektiver werden.“

Aber russische Soldaten sollen nicht im Befehlsstand der NATO über den Abschuss von Flugkörpern entscheiden dürfen – geschweige denn ein Veto einlegen können. Doch zwei Systeme nebeneinander zu installieren ist kompliziert. Der Militärexperte von der Akademie der Wissenschaften in Moskau, Andrei Zagorski:

O-Ton Zagorksi
„Moskau setzt die Betonung darauf, dass keine Raketenabwehrsysteme in die Richtung der jeweiligen anderen Seite ausgerichtet werden sollen. Das heißt, keine NATO-Raketenabwehr gegen Russland und umgekehrt, keine russischen Systeme gegen die NATO. Das schafft ein Problem, weil natürlich die Planung der amerikanischen Abwehr in Europa die Abwehr in alle Richtungen vorsieht. Und das würde den Abschuss von Raketen über dem russischen Boden nicht ausschließen.“

Das wird beim Blick auf den Globus deutlich: Sollte der Iran eines Tages wirklich in der Lage sein, eine Langstreckenrakete in Richtung USA abzuschießen, dann würde sie über Russland fliegen. Und derzeit sehen die Planungen vor, dass der Abschuss dann auch dort erfolgen könnte. Die Ausrichtung nach Osten wurde auch deutlich, als Anfang Mai die US-Unterstaatssekretärin Ellen Tauscher mit rumänischen Politikern den Luftwaffenstützpunkt Deveselu in Rumänien besuchte. Hier sollen amerikanische Soldaten und drei Batterien Flugabwehrraketen vom Typ SM-3 stationiert werden. Dieses System ist gegen Raketen mit einer Reichweite von bis zu 3.000 Kilometern erfolgreich getestet worden. In Bulgarien und der Türkei wollen Amerikaner und die NATO Radaranlagen aufbauen. Im Mittelmeer kreuzt ein US-Zerstörer mit Aegis-Lenkwaffen. Diese Maßnahmen stellen die erste Phase des Aufbaus des Raketenschildes dar. Drei weitere Phasen folgen bis 2020. Noch ist die Technik keine Bedrohung für die russische Seite, doch in den folgenden Aufbauphasen werden die Systeme immer leistungsfähiger. Entsprechend laut war die russische Reaktion als die amerikanische Unterstaatssekretärin den künftigen US-Stützpunkt in Rumänien besichtigte: Der russische Botschafter bei der NATO, Rogosin, sprach von einem Traianischen Pferd. In Anspielung an den Vornamen des rumänischen Präsidenten Traian Basescu. Und das Außenministerium in Moskau erklärte, dass die praktischen Schritte des Raketenabwehrsystems in Europa außerhalb des russisch-amerikanischen Dialogs unternommen werden. Moskau werde genau verfolgen, ob dies ein Risiko für die strategischen atomaren Kräfte sein könnte. Damit signalisierte Russland der NATO erneut, dass die Regierung in Moskau Garantien erwartet. Wenn also ein Vertrag nicht möglich ist, was bleibt? Olivier Jehin:

O-Ton Jehin (overvoice)
„Man könnte sich ein System vorstellen, in dem die NATO ihre Selbständigkeit behält, aber der Partner Russland auch als Partner anerkannt wird. Auch wenn sich die NATO vorbehielte, selbständig auf den Knopf drücken zu können, ohne Genehmigung der Russen. Das heißt wenn man kooperieren möchte, dann muss man das offen tun. Bislang sagt die NATO zwar, dass sie kooperieren möchte, aber zur gleichen Zeit zeigt sie im Alltag, dass sie Russland nicht traut.“

Russland hatte auch einen Sektorenansatz ins Spiel gebracht. Bei diesem Verbundsystem würden die Partner die Welt in Blöcke teilen. Russland würde demnach einen nördlichen Sektor verteidigen, zu dem auch Polen und die baltischen Staaten gehören. Der Gedanke dahinter: Gerade Abwehrstellungen der NATO im nördlichen Raum könnten die russischen Raketen nutzlos machen, das Gleichgewicht der Mächte stören. Für diesen Vorschlag fand der russische NATO-Botschafter Rogosin das Bild zweier Ritter, die Rücken an Rücken stehen, um sich zu verteidigen.

Doch gerade im Baltikum und in Polen ist die Angst groß, den Russen die Abwehr von Raketen zu überlassen. Im Gespräch ist derzeit eine Zusammenarbeit beim Austausch von Daten – beispielsweise wenn eine Rakete aufsteigt. Dazu könnten die beiden Großmächte ihre Radaranlagen vernetzen.

Ob die Lösung des Streits in Brüssel gefunden wird, ist eher unwahrscheinlich. Die USA und Russland müssen einen Kompromiss finden. Bereits am kommenden Mittwoch und Donnerstag könnte über neue Vorschläge gesprochen werden, wenn sich in Brüssel die Verteidigungsminister des Bündnisses treffen. Eine Lösung des Konflikts ist wichtig, darüber sind sich die NATO-Mitgliedsländer einig. Das Bündnis will keine Konfrontation mit Moskau. Doch die Befürchtung ist groß, das Verhältnis zu Russland könnte sich verschlechtern, wie damals im Kalten Krieg.

* Aus: NDR-Forum "Streitkräfte und Strategien"; 4. Juni 2011; www.ndrinfo.de


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