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Schneller einsatzbereit

Obama will Raketenabwehr in kürzerer Zeit, stärker und kosteneffektiver als Bush. Hoffnung auf russische "Gegenleistungen"

Von Knut Mellenthin *

Noch bevor Präsident Barack Obama seine Entscheidung selbst bekanntgeben konnte, war das Wall Street Journal am frühen Donnerstag (17. Sept.) schon mit der Meldung auf dem Markt: »Die USA legen Atomraketen-Schutzschild auf Eis«. Das Blatt ist Sprachrohr der Neokonservativen. Entsprechend tendenziös war die Einbettung der Nachricht: In Moskau werde Obamas Schritt »vermutlich bejubelt«, während er bei den osteuropäischen Verbündeten der USA Besorgnis auslöse. Die Entscheidung des Präsidenten beruhe »auf der Annahme, daß Irans Langstreckenraketen-Programm nicht so schnell vorangekommen ist wie zuvor eingeschätzt worden war und daß sich daher die Bedrohung der USA und der wichtigen europäischen Hauptstädte verringert«. Westliche Mainstream-Medien verkürzten die Botschaft zu einer »Neubewertung der Bedrohung durch Iran«.

Abwehrstärkung

Davon war allerdings nicht die Rede, als Obama am Donnerstag vormittag mit einer Erklärung vor die Presse trat, die in der vom Weißen Haus veröffentlichten Fassung die Überschrift »Bemerkungen des Präsidenten zur Stärkung der Raketenabwehr in Europa« trägt. Offenbar sollte mit dieser Wortwahl von vornherein der Absicht der Republikaner entgegengewirkt werden, Obamas Entscheidung als einen Ausdruck von Schwäche und mangelnder militärischer Bereitschaft anzugreifen. Die Formulierung ist aber darüber hinaus auch sachlich ernst zu nehmen und kommt den Tatsachen vermutlich näher als die Schlagzeile des Wall Street Journals, die vom gesamten westlichen Mainstream übernommen wurde und selbst bei russischen Politikern Zustimmung auslöste.

In seiner Stellungnahme vor der Presse erklärte Obama ausdrücklich, daß die Annahme seines Vorgängers George W. Bush, wonach »Irans ballistisches Raketenprogramm eine bedeutende Bedrohung darstellt«, richtig gewesen sei. Er selbst bleibe deshalb der Aufstellung »eines starken Raketenabwehrsystems, das an die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts angepaßt ist«, verpflichtet.

Dieses müsse jedoch gleichermaßen durch Tests erprobt wie auch kosteneffektiv sein. Deshalb habe er zu Beginn seiner Amtszeit eine Überprüfung der bisherigen Pläne angeordnet. Das Ergebnis liege nun vor, und nach einem gründlichen Diskussionsprozeß habe er die einstimmigen Vorschläge des Verteidigungsministers und des Generalstabs gebilligt. »Dieses neue Herangehen wird schneller Kapazitäten zur Verfügung stellen, wird auf einem erprobten System beruhen und wird größere Verteidigungsmöglichkeiten gegen die Bedrohung durch Raketenangriffe bieten als das Europäische Raketenabwehrprogramm von 2007.« Grundlage seiner Entscheidung sei die Betonung der von Irans Kurz- und Mittelstreckenraketen ausgehenden Gefahren. Ein Brennpunkt bleibe außerdem nach wie vor die Bedrohung durch das ballistische Raketenprogramm Irans, das heißt die unterstellte Entwicklung von Interkontinentalraketen, die auch die USA erreichen könnten.

Russische Hilfe

Obama ging mit keinem Wort auf die sachliche Bedeutung seiner Entscheidung ein. Weder sprach er von den Kosten des neuen Vorhabens, noch erläuterte er, um was für ein System es sich handeln soll, wann und wo es stationiert werden soll. Aufgrund von Äußerungen anonymer Quellen im US-amerikanischen Regierungs- und Militärapparat wird darüber spekuliert, daß es sich zunächst um eine große Anzahl von SM-3-Raketen handeln könnte, die schon im Jahr 2011 in der Nähe Irans, also vermutlich im Persischen Golf und im Arabischen Meer, auf Schiffen stationiert werden sollen. Sicher ist offenbar, daß das jetzt angekündigte System sehr viel schneller einsatzbereit sein wird als das unter Bush geplante, das eine Raketenstationierung in Polen erst im Jahre 2018 vorsah. [1]

Ein zentrales politisches Element der Umorientierung ist die Rücksichtnahme auf die Kritik Rußlands an den unter Bush auf den Weg gebrachten Raketenplänen. In dieser Hinsicht kam Obamas Entscheidung nicht überraschend. Schon im Frühjahr wurde über einen geheimen Brief des US-Präsidenten an seinen russischen Kollegen Dmitri Medwedew berichtet. Obama soll darin argumentiert haben, daß die geplante Stationierung eines Abwehrsystems in Polen und Tschechien lediglich eine Reaktion auf die von Iran ausgehende Bedrohung sei. Sollte sich diese dank russischer Mithilfe verringern, werde man im Licht der neuen Lage auch die Raketenabwehr-Pläne überprüfen.

Offensichtlich erwartet die US-Regierung jetzt für ihren »Verzicht« auf die Bush-Pläne russische »Gegenleistungen«. Vielleicht wird darüber schon in der nächsten Woche gesprochen, wenn Medwedew zur UN-Vollversammlung nach New York kommt. Gedacht ist in erster Linie an ein Einschwenken Rußlands auf die Forderung der USA und der EU nach drastisch verschärften Sanktionen gegen Iran. Vor diesem Hintergrund begrüßte der Vorsitzende der israelischen Weltraumbehörde Isaac Ben-Israel am Freitag in der Jerusalem Post die amerikanische Entscheidung. »Letzten Endes ist es gut für uns, daß es verbesserte Beziehungen zwischen Rußland und den Vereinigten Staaten gibt.«

* Aus: junge Welt, 19. September 2009

[1] Anmerkung AGF: Das von uns dokumentierte Fact Sheet des Weißen Hauses enthält Detailinformationen über die zu stationierenden Systeme sowie einen genauen Fahrplan über die Dislozierung der see- und landgestützten Systeme (Phase 1: 2001, bis Phase 4: 2020). Siehe: Fact Sheet on U.S. Missile Defense Policy.


Liebesgrüße nach Moskau **

Barack Obamas Abkehr von den »Raketenschild«-Plänen seines Vorgängers hat wieder einmal die Hoffnungen belebt, daß mit diesem US-Präsidenten vielleicht doch ein strategischer Wechsel, eine zumindest partielle Abkehr von der aggressiven Außenpolitik unter George W. Bush möglich sein könnte.

Wer mag, kann auch den gestrigen Aufruf des NATO-Generalsekretärs Anders Fogh Rasmussen zu einer »neuen strategischen Partnerschaft« der westlichen Militärallianz mit Rußland in diesem Sinn interpretieren. Gemeint ist aber eine Partnerschaft, die Rußland den westlichen, insbesondere den US-amerikanischen Interessen dienstbar machen soll. Oder in Rasmussens Worten: »Ich möchte, daß Rußland und die NATO sich darauf einigen, als feste Grundlage künftiger Kooperation eine gemeinsame Einschätzung der Herausforderungen für die Sicherheit im 21. Jahrhundert vorzunehmen.«

Das zielt auf gemeinsame Frontbildung im »Kampf gegen den Terrorismus« -- so, wie die führenden Kreise der USA diesen interpretieren --, auf logistische und politische Unterstützung Rußlands für den NATO-Krieg in Afghanistan, und nicht zuletzt auf eine russische Mitwirkung an der weiteren Eskalation des Konfrontationskurses gegen Iran. Es besteht also kein Anlaß zu unreflektierter Freude über die Liebesgrüße aus Wa­shington und Brüssel nach Moskau.

Wenn Rußlands Politiker wirklich Dialog mit Teheran statt Sanktionen und eine letztlich zum Krieg führenden Konfrontationsspirale wollen, sollten sie sich hüten, weiterhin Signale in entgegengesetzte Richtung zu unterstützen. Die gemeinsame Strategie des Westens gegenüber dem Iran sieht etwas anderes als dessen vollständige Kapitulation im Atomstreit nicht vor. Unter diesen Umständen droht das Treffen zwischen Iran und der Sechsergruppe am 1.Oktober von vornherein zu einer Alibiveranstaltung zu verkommen, die noch einmal die angebliche Verhandlungsunwilligkeit Teherans vorführen soll, um die nächste Stufe der Eskalation zu rechtfertigen. (km)

* Aus: junge Welt, 19. September 2009 (Kommentar)


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