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Der löchrige Raketenschild

Der Friedensforscher Götz Neuneck über die Rüstungsstrategie der NATO


Prof. Dr. Götz Neuneck ist Stellvertretender Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitk an der Universität Hamburg und leitet die Interdisziplinäre Forschungsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien. Das Mitglied des Pugwash Council beschäftigt sich seit langem mit Fragen der Raketenabwehr. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Olaf Standke.

ND: Die USA haben jetzt erstmals einen Lenkwaffenkreuzer als Teil des geplanten NATO-Raketenschilds ins Mittelmeer entsandt. Um welches System geht es dabei?

Neuneck: Die USA forschen seit langer Zeit an verschiedenen Systemen, wobei diese nicht alle Raketen gleichzeitig abfangen können, sondern immer nur bestimmte, entweder Kurz- und Mittelstrecken- oder Langstreckenraketen. Bekannt ist das Patriot-System, das einzige bisher im Einsatz befindliche. Es gibt zudem das landgestützte Thaad-System in der Einführungsphase.

Der Lenkwaffenkreuzer ist Teil des seegestützten Aegis-Systems, dessen Abfangraketen gegen Kurz- und Mittelstreckenraketen eingesetzt werden sollen. Wenn jetzt ein solcher Kreuzer von den USA in Bewegung gesetzt wird, dann wohl auch mit Blick auf Libyen, das Kurzstreckenraketen abfeuern könnte.

Im jüngsten Ballistic Missile Defense Review des Pentagon wird die Raketenabwehr der USA als »erprobt und effektiv« verkauft. Wenn man sich die Entwicklungen anschaut, scheint mir das eher eine Legende zu sein.

Auch die SM 3-Abwehrrakete des Aegis-Systems ist umstritten, weil ihre Funktionsfähigkeit insgesamt umstritten ist. Ein Gegner hat durchaus die Möglichkeit, solche Systeme in die Irre zu führen. Deshalb sollte man auch nicht von einem Schild sprechen. Man kann immer nur mit einer Rakete eine anfliegende Rakete abschießen. Und was die Tests angeht: Auch bei Aegis war stets bekannt, wann welche Rakete anflog. Es ist z.B. ein Unterschied, ob das Radar eine große Rakete identifizieren kann, oder ob es sich um einen einzelnen Sprengkopf handelt. Bei den bisherigen Tests ging es in erster Linie um bekannte Raketen. Aber selbst da ist eine Erfolgsquote nicht garantiert. Eine vom Washingtoner Bundesrechnungshof in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Schluss, dass die operative Fähigkeit des Aegis-Systems nicht gesichert sei.

Gibt es denn überhaupt Bedrohungen, die solche Systeme notwendig machen?

Das ist eine heiß umstrittene Frage. Die Befürworter verweisen gern auf die inzwischen rund 30 Länder mit Kurz- und Mittelstreckenraketen. Einige wie Nordkorea oder Iran entwickeln auch Mittelstreckenraketen, die dann eine wesentliche Bedrohung werden könnten, wenn sie mit Massenvernichtungsmitteln ausgerüstet sind – chemischen, biologischen, atomaren. Aber natürlich sind nicht alle 30 Staaten Feinde der USA und der NATO, eine Reihe sind sogar Alliierte.

Das heißt, der bessere Weg der Gefahrenabwendung wäre da, die Weiterverbreitung etwa von Kernwaffen zu verhindern und die Abrüstung voranzutreiben?

Es ist der bessere, der nachhaltige Weg, zu einer Ächtung von Massenvernichtungswaffen insgesamt zu kommen. Bei den B- und C-Waffen hat man das auch erreicht. Der Einsatz von Nuklearwaffen dagegen ist noch immer nicht gebannt. Vor allem die USA und Russland, die über 95 Prozent aller Arsenale verfügen, sind hier gefragt.

Was würden solche Systeme den Steuerzahler kosten?

Kostenangaben macht der Lissaboner NATO-Beschluss nicht. Konkrete Planungen fehlen noch. Bisher wurde im Wesentlichen Infrastruktur errichtet, und im Zweifelsfall wird man auf die US-Systeme zurückgreifen. Man darf nicht vergessen, dass das Projekt auch in der NATO kontrovers diskutiert wird. So ist es ein großer Unterschied, ob man nur einzelne Truppenkontingente und begrenzte Areale beschützen will oder die gesamte Bevölkerung.

Die ursprünglich von den USA bilateral mit Polen und Tschechien geplanten Anlagen haben die Beziehungen zu Russland stark belastet. Nun will die NATO Moskau einbeziehen.

Die Einführung von Raketenabwehr bedeutet eine Entwertung von nuklearer Abschreckung. Und das befürchtet insbesondere Russland, aber auch China, zumal deren Arsenale längst nicht so modernisiert sind wie jene der USA. Das alte Bush-System in Polen und in Tschechien hat Russland provoziert und zu erheblichen Spannungen geführt. Nun will man bis 2020 stufenweise ein aus see- und landgestützten Elementen bestehendes System einführen und Moskau dabei beteiligen.

Nur ist das schwierig, weil nicht genau definiert ist, wie die Raketenabwehrarchitektur in Europa aussehen soll und was das NATO-Angebot für Moskau konkret bedeutet. Russland verfügt ja selbst über eine Raketenabwehr. Wie also soll das Radar in die Frühwarnung einbezogen werden? Und wer drückt am Ende den Knopf? Auch hier ist der politische Wille zu einer Stufenlösung erforderlich.

Hintergrund

Am 23. März 1983 gab USA-Präsident Ronald Reagan mit einer »Sternenkriegsrede« den Startschuss für die Strategic Defense Initiative (SDI). Mit ihr sollte unter Verletzung völkerrechtlicher Vereinbarungen das Wettrüsten in den Weltraum getragen werden. Doch viele Komponenten erwiesen sich als unrealistisch und zu teuer. Das Programm lief 1993 endgültig aus. Doch arbeitete das Pentagon weiter an modifizierten SDI-Varianten. Noch zur Regierungszeit Bill Clintons wurde 1999 das Gesetz zur Nationalen Raketenverteidigung verabschiedet. Zur Umsetzung kündigten die USA zwei Jahre später den mit der UdSSR 1972 geschlossenen ABM-Vertrag auf. Die National Missile Defense, die auf landgestützte Systeme setzt, entwickelte sich zum teuersten Rüstungsprojekt der Bush-Ära. Auch in Polen sollten zehn Abfangraketen stationiert und von einer Radarstation in Tschechien geführt werden. Nach massivem Widerstand Moskaus gab Präsident Barack Obama diese Pläne auf. Auf ihrem Gipfel 2010 in Lissabon beschloss die NATO, bis 2020 stufenweise und bündnisweit die Fähigkeit zur Verteidigung gegen Raketenangriffe zu entwickeln und dabei aktiv mit Russland zu kooperieren. Sta



* Aus: Neues Deutschland, 12. März 2011


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