Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Raketenabwehr für Europa – technisch noch nicht ausgereift, aber trotzdem schon fast beschlossene Sache?

Ein Beitrag von Jerry Sommer aus der NDR-Reihe "Streitkräfte und Strategien"


Ulrike Bosse (Moderatorin)

Das Haushaltsdefizit der Vereinigten Staaten zwingt auch den US-Verteidigungsminister zum Sparen. Mit Standortschließungen und einem Stellenabbau will Robert Gates in den kommenden fünf Jahren rund 100 Milliarden Dollar erwirtschaften – um die Ausrüstung der Truppe verbessern zu können, so Gates. Nicht gespart werden soll offenbar bei der Raketenabwehr. Das alte Konzept einer US-Raketenabwehr in Europa von George W. Bush ist zwar Geschichte, aber ein neues Konzept nimmt Gestalt an. Im November soll es beim NATO-Gipfel auch von der Allianz abgesegnet werden. Jerry Sommer über die Wiederauferstehung der Raketenabwehrdebatte:

Manuskript Jerry Sommer

Vor fast einem Jahr strich US-Präsident Obama das von seinem Vorgänger beschlossene Raketenabwehrprogramm für Europa und ersetzte es durch eine andere Variante. Über das neue Programm sagte er:

O-Ton Obama (overvoice)
„Das neue System wird uns schneller und mit erprobten Systemen einen besseren Schutz gegen Bedrohungen von Raketen bieten als das europäische Raketenabwehrprogramm von 2007“.

Inzwischen hat die Regierung Obama neue Verträge zur Stationierung von Raketenabwehrwaffen mit Rumänien und Polen abgeschlossen. Im US-Haushalt für das Jahr 2011 sind allein 10 Milliarden Dollar für Raketenabwehr eingeplant, 700 Millionen mehr als 2010. In der NATO drängt Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen darauf, Raketenabwehr für Europa zu einem neuen großen Projekt des Bündnisses zu erklären. Rasmussen:

O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Die Zeit ist gekommen, mit der Raketenabwehr voranzuschreiten. Wir müssen beim NATO-Gipfel im November beschließen, dass Raketenabwehr für unsere Bevölkerung und unser Territorium eine Aufgabe der Allianz ist.“

Die US-Regierung hat dargelegt, wie das neue, vierstufige Raketenabwehrprogramm für Europa aussehen soll, das mit der möglichen Bedrohung durch iranische Raketen gerechtfertigt wird. Ab 2011 sollen im Mittelmeer auf Schiffen so genannte SM-3 – Raketen stationiert werden, die Kurzstreckenraketen abfangen können sollen; ab 2015 werden dann modernere Versionen dieser Raketen zu Wasser und zu Land in Rumänien aufgestellt; ab 2018 sollen noch modernere SM-3-Systeme unter anderen in Polen stationiert werden, die ganz Europa gegen Angriffe mit Mittelstreckenraketen beschützen können sollen. In einer weiteren Stufe ist geplant, ab 2020 noch weiterreichende SM-3-Raketen in Europa aufzustellen. Diese sollen in der Lage sein, auch auf die USA gerichtete Interkontinentalraketen abzufangen. Damit würden sie die schon in den USA vorhandenen 30 Raketenabwehrbatterien gegen weitreichende Interkontinentalraketen ergänzen.

Die USA haben ebenfalls vor, SM-3-Raketenabwehrsysteme über Europa hinaus auch im Mittleren Osten und in Asien zu stationieren.

Die Pläne sind weitreichend. Doch Fragen sind angebracht.

Zum Beispiel äußern Fachleute erhebliche Zweifel daran, dass die für Europa geplanten Systeme überhaupt die technischen Fähigkeiten besitzen, die ihnen von der US-Administration zugesprochen werden. Das Pentagon behauptet zum Beispiel, bei den Testversuchen mit der gegenwärtigen Generation von SM-3-Systemen wären die angreifenden Sprengköpfe zerstört worden. Der US-Physiker Theodore Postol vom renommierten Massachusetts Institute of Technology hat die vom Pentagon veröffentlichten Videoaufnahmen analysiert und kommt zu einem ganz anderen Ergebnis. Theodore Postol:

O-Ton Postol (overvoice)
„Wir haben die Aufnahmen von den auf den Abfangraketen montierten Infrarotkameras analysiert. Wir stellten fest, dass niemals der Sprengkopf, sondern immer nur der Raketenkörper dahinter getroffen wurde. Aber jeder weiß, dass man den Sprengkopf treffen muss.“

Sonst nämlich fliegt der Sprengkopf mit seiner tödlichen Ladung weitgehend ungehindert weiter. Postol und andere Wissenschaftler kritisieren auch, dass bisher keine Tests unter realen Bedingungen stattgefunden haben. Denn die Abfangraketen waren genau programmiert, sie wussten aus welcher Richtung die Rakete angreift und welche Form der Sprengkopf hat. Wenn eine angreifende Rakete zum Beispiel neben dem Sprengkopf auch gleich aussehende Attrappen in die Umlaufbahn schickte, könnten diese von den Sensoren der Abfangrakete nicht unterschieden werden.

Die Behauptung des Pentagon, die schon in den USA stationierten Abfangraketen würden Angriffe aus Iran oder Nordkorea abfangen können, sind deshalb nach Meinung von Theodore Postol falsch. Dass solche falschen Informationen über die technischen Fähigkeiten der Raketenabwehr vom Pentagon an den Präsidenten weitergegeben würden, hat laut Postol folgende Ursachen:

O-Ton Postol (overvoice)
“Das hat mit Geld zu tun und auch mit Karriereplanungen: Es ist ein Anreiz von einem Zwei-Sterne-General zu einem Drei-Sterne-General und Chef der Raketenabwehrorganisation befördert zu werden.“

Ein hundertprozentiger Schutzschirm ist auch nach Meinung des Physikers Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik nicht möglich – weder für die USA, noch für Europa:

O-Ton Neuneck
„Deswegen ist es kein Schutzschirm. Dieser Begriff taucht immer wieder in der Presse auf. Es ist sicherlich kein Schutzschirm, an dem alles abprallt, das ist eindeutig und das wird auch die nächsten Jahrzehnte so bleiben.“

Zu berücksichtigen ist auch, dass der vermeintliche Gegner Iran, gegen den die europäische Raketenabwehr aufgestellt werden soll, gegenwärtig weder Atomsprengköpfe noch Raketen mit einer Reichweite besitzt, die Europa treffen können. Raketen, die Zentraleuropa oder gar die USA erreichen könnten, wären nach einer Studie des angesehenen und NATO-nahen Londoner Instituts für Strategische Studien vermutlich frühestens in sechs bis zehn Jahren einsatzbereit - wenn der Iran denn überhaupt beschließen sollte, solche Raketen sowie Atomsprengköpfe herzustellen.

Fraglich ist auch, warum der Iran denn überhaupt Westeuropa mit atomar bestückten Raketen bedrohen sollte, selbst wenn er die technischen Fähigkeiten dazu irgendwann in der Zukunft haben sollte. Immerhin ist die EU Irans zweitbester Handelspartner. Und der Iran müsste bei einem Angriff mit seiner eigenen sofortigen Vernichtung durch den Gegenschlag der militärisch völlig überlegenen USA rechnen. Wenn sich allerdings der Iran durch die Gewissheit der eigenen Auslöschung nicht von einem Angriff abschrecken ließe, dann ist kaum zu erwarten, dass ihn Raketenabwehrsysteme von einer Attacke abhalten würden.

Da ein 100 prozentiger Schutz nicht möglich ist, ist auch nicht anzunehmen, dass ein US-Präsident sich jemals auf die Raketenabwehr verlassen würde. Wenn die Gefahr eines Angriffs akut wäre, würde er wahrscheinlich stattdessen präventiv handeln und die gegnerischen Raketen noch am Boden zerstören. Das allerdings könnte er auch ohne Raketenabwehr.

Statt mit unausgegorenen technischen Systemen gegen eine gegenwärtig nicht vorhandene iranische Gefahr zu rüsten, tritt der Konfliktforscher Götz Neuneck dafür ein, diplomatische Aktivitäten zu intensivieren:

O-Ton Neuneck
„Man soll die diplomatischen Anstrengungen verzehnfachen, den Mittleren Osten frei von Nuklearwaffen zu machen. Das muss das eigentliche Ziel sein.“

Die US-Raketenabwehrpläne werden in der Bundesrepublik unterschiedlich bewertet. CDU/CSU sprechen sich dafür aus. Henning Otte, CDU-Politiker und Mitglied des Verteidigungsausschusses des Bundestages befürwortet sie, vor allem mit Blick auf den Iran:

O-Ton Otte
„Wer kann denn ausschließen, dass Trägersysteme in zehn Jahren nicht auch die Reichweite haben, mitten ins Herz Europas zu treffen. Wir sind eine westlich orientierte Gesellschaft, die der Gefahr ausgesetzt ist, vom Iran aus bedroht werden zu können.“

Demgegenüber hat Bundesaußenminister Westerwelle betont, dass die Bundesregierung sich noch keine abschließende Meinung gebildet habe. In ihrem Wahlprogramm hatte die FDP noch letztes Jahr formuliert:

Sprecher:
„Die Pläne für ein US-Raketenabwehrsystem in Polen und Tschechien lehnt die FDP ab.“

Damals warnte die FDP vor einer neuen Rüstungsspirale. Es ist allerdings kaum anzunehmen, dass sie ihre Position beibehält. Demgegenüber wird von den heutigen Oppositionsparteien nach wie vor Kritik geübt, zum Beispiel vom verteidigungspolitischen Sprecher der „Linken“ im Bundestag, Paul Schäfer:

O-Ton Schäfer
„Leider kranken die modifizierten Raketenabwehrpläne an demselben Übel wie die alten. Diese Vorrüstung wird natürlich Konsequenzen haben, einen neuen Rüstungswettlauf anreizen. Und schließlich ist es eine unnötige Konfrontation mit Russland, eventuell auch mit China, wenn man jetzt einseitig solche Raketenabwehrsysteme stationiert.“.

Tatsächlich hat sich Russland erneut deutlich gegen die unilateralen US-Raketenabwehrpläne ausgesprochen. Denn die zukünftigen US-Raketenabwehrsysteme könnten die nukleare Zweitschlagsfähigkeit Russlands infrage stellen, zumal auch die Obama-Administration jegliche vertragliche Begrenzung bei der Raketenabwehr ablehnt. Damit wiederum könnten weitere Schritte nuklearer Abrüstung Richtung Null erheblich erschwert werden. Auch sieht Russland gegenwärtig wie auch für die absehbare Zukunft keine Gefahr vom Iran ausgehen.

Eine gemeinsame Raketenabwehr wird von Moskau zwar befürwortet, aber man bezweifelt, ob die USA an einem tatsächlich gemeinsamen Programm unter gemeinsamer Kontrolle interessiert sind. Solche Zweifel werden noch dadurch genährt, dass auch Obama nicht einmal einen Beschluss der NATO abgewartet hat, sondern die Verträge mit Rumänien und Polen eigenmächtig und ohne Absprache geschlossen hat.

Gleichwohl ist es wahrscheinlich, dass trotz technischer Mängel und politischer Gefahren die Raketenabwehrpläne auf dem NATO-Gipfel im November durchgewinkt werden.

* Aus: NDR-Sendereihe Streitkräfte und Strategien, 14. August 2010; www.ndrinfo.de


Zurück zur Seite "US-Raketenabwehr"

Zur EU-Europa-Seite

Zurück zur Homepage