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Kriege verhindern - zivile Prävention statt militärische Reaktion

Referat auf dem "kleinen friedensratschlag" im Juni 2001

Von Ulrich Albrecht*

Im Koalitionsabkommen der neuen Bundesregierung heißt es in der Einleitung zum außenpolitischen Teil (XI), die neue Bundesregierung
"wird sich mit aller Kraft um die Entwicklung und Anwendung von wirksamen Strategien und Instrumenten der Krisenprävention und der friedlichen Konfliktregelung bemühen."

Die Bundesregierung hat die Präventionspolitik nicht erfunden. Ihre neuerliche Bedeutung geht zurück auf die "Agenda für den Frieden" der UN aus dem Jahre 1992. Diese zeigt eine grundsätzliche Umkehr in der Konfliktverarbeitung durch die UN an: von der bisherigen ex-post Politik (peace-keeping nach Waffenstillständen) hin zum anderen Pol von Eskalationsskalen, dem Beginn von Gewalteinsatz. Der Auswärtige Ausschuß des Deutschen Bundestages hat diese Entwicklung aufgegriffen und 1994 eine erste Anhörung zu diesem Thema vorgenommen. Seither ist es um das Thema in Deutschland recht still gewesen.

Was ist Prävention?

Der Begriff wird zumeist übersetzt mit "Vorbeugung". In der "Agenda für den Frieden" heißt es:
"Vorbeugende Diplomatie bezeichnet Maßnahmen mit dem Ziel, das Entstehen von Streitigkeiten zwischen einzelnen Parteien zu verhüten, die Eskalation bestehender Streitigkeiten zu Konflikten zu verhindern und, sofern es dazu kommen sollte, diese einzugrenzen."
Diese Definition ist ungenau, sie gilt aber auch für UN-Handhabung des Problems allgemein.. Krisen, Konflikte gehören in offenen Gesellschaften zum Alltag, ja charakterisieren diese (Dahrendorf) nachgerade. Wollten die UN tatsächlich "das Entstehen von Streitigkeiten zwischen einzelnen Partnern" verhüten, bekämen sie unmäßig viel zu tun. Vernünftigerweise geht es um den Modus der Krisen- und Konfliktbearbeitung, vorrangig um die Prävention der Eskalation in offenen Gewaltaustrag. Später formuliert denn auch die "Agenda" genauer: "Die vorbeugende Diplomatie ist bestrebt, Streitigkeiten beizulegen, bevor Gewalt ausbricht". Auch ist die Rede davon, "zu versuchen, zum frühestmöglichen Zeitpunkt konfliktträchtige Situationen zu erkennen und auf diplomatischem Wege zu versuchen, die Gefahrenherde zu beseitigen, bevor es überhaupt zu Gewalt kommt."

Was hat die Bundespolitik bisher zur Einlösung des Koalitionsvertrages in dieser Hinsicht unternommen? Sie hat im Außenamt einen "Sonderbeauftragten für Konfliktprävention" berufen, von dessen Tätigkeit man kaum etwas erfährt. Im Sommer 2000 hat der Bundessicherheitsrat (ein Kabinettsausschuß, der sich ansonsten vor allem mit strittigen Waffenausfuhren beschäftigt) ein - für zweieinhalb Seiten ein stolzer Name - "Gesamtkonzept der Bundesregierung zu Krisenprävention und Konfliktbeilegung" verabschiedet. Dieses Konzept ist im Gegensatz zu den sonstigen Beschlüssen des Bundessicherheitsrates veröffentlicht worden (BMZ Spezial, "Krisenprävention und Konfliktbeilegung", Bonn, August 2000). Dem Dokument zufolge wird Deutschland künftig "sein politisches Gewicht für eine Stärkung ziviler Krisen- und Konfliktbewältigung nutzen." Die Bundesregierung will dazu beitragen, heißt es weiter, "in potentiellen Krisen- und Konfliktgebieten der gewaltsamen Austragung von Konflikten frühzeitig vorzubeugen." Ferner strebt sie für Nachkriegssituationen an, "durch effektive Maßnahmen der Friedenskonsolidierung und des Wiederaufbaus einen erneuten Ausbruch von Gewalt zu verhindern". Da wirkt sicher noch das Kosovo-Erlebnis nach. - Auch wird gefordert, strukturelle Ursachen von Gewalt abzubauen. Insider nennen das Konzept ein ungeliebtes Papier, es enthalte zuviel Kompromisse. In der Fachwelt wurde diese Konzeption allerdings breit und weitgehend positiv aufgenommen. Das Echo in den Massenmedien war dünn (Ministerin Wieczorek-Zeul: "Ich rätsele, warum das in der Öffentlichkeit sich nicht niedergeschlagen hat"). Aber auch im Ausland wurde dieses "Gesamtkonzept" nicht wahrgenommen. Der Leiter der einschlägigen EU-Abteilung in Brüssel äußert freimütig, er habe "dieses SPD-Konzept" mit einem Jahr Verspätung bei einem Besuch in Berlin in die Hand bekommen - und er hätte es liebend gern früher kennen gelernt.

Im Vordergrund der allgemeinen Aufmerksamkeit standen vielmehr die Beschlüsse des EU-Gipfels von Helsinki, die "Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" (GASP), welche der Vertrag von Maastricht einrichtet, in die Tat umzusetzen. Auch die EU ist nach den bitteren Lektionen in den Balkankriegen in jüngster Zeit bemüht, ihre Kapazitäten beim nichtmilitärischen Umgang mit Konflikten zu verbessern. So betonte Schweden während seiner Ratspräsidentschaft, die GASP "schließt Prävention ein". Unter dem Briten Niall Burgess wurde in Brüssel eine spezielle "Policy Unit" mit 300 zumeist jüngeren Mitarbeitern gebildet, die nunmehr in einem Hochsicherungstrakt Javier Solana, dem "Hohen Repräsentanten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU", zuarbeiten. Auf dem Göteburger Gipfel wurde am 16. Juni ein "EU Programme for the Prevention of Violent Conflicts" verabschiedet, welches vor allem schöne Sprache und heiße Luft enthält. Markig heißt es:

"Die EU wird:
  • klare politische Prioritäten für präventive Aktionen vorgeben,
  • die Frühwarnung, ihr Handeln und die Kohärenz ihrer Politik verbessern,
  • ihre Instrumente für lang- und kurzfristige Prävention weiterentwickeln, und
  • wirksame Partnerschaften für Prävention eingehen."
Überraschung wird die dritte Aussage zu "Instrumenten für Prävention" der EU auslösen, die, wenn sie weiterentwickelt werden sollen, ja wohl schon vorhanden sein müssen. Die Antwort gibt Mr. Burgess: dazu gehören Instrumente der Handelspolitik, Übereinkünfte zur Zusammenarbeit, die Leistungen der EU in der Entwicklungshilfe und anderen Formen wirtschaftlicher Unterstützung, Diplomatie sowie Einwirkungsmöglichkeiten über die Ressorts Justiz und Inneres. Auf vielen dieser Gebiete erfreue sich die EU "eines sehr beträchtlichen Einflusses". Immerhin sei die EU der weltgrößte Geber von Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe, und sie sei die größte Handelsmacht auf der Erde. Steht mithin eine neue Konditionalität der Leistungen der EU zu erwarten, strebt diese gar in von Krisen gefährdeten Regionen die Rolle eines Hegemons an?

Sehr viel manifester sind die Beschlüsse der EU zum Einsatz von Zwangsgewalt in Konflikten. 60 000 Soldaten sollen eine "Europäische Eingreiftruppe" bilden, daneben soll ein Kontingent von 5000 Polizisten aufgestellt werden. Eine Umkehrung dieses Zahlenverhältnisses - 60 000 Polizisten und 5000 Soldaten - wäre nach den Erfahrungen mit Friedenswahrung auf dem Balkan allerdings wünschenswerter. "Europäisch", etwa von US-Unterstützung unabhängig, wird diese neue Truppe auf die nächsten zehn Jahre hin nicht sein. Soll sie in Krisengebiete verlegt werden, bleibt die EU auf die Dienste des "Air Mobility Command" der US Air Force angewiesen, denn nur die verfügt über schwere Transporter (es sei denn, man least entsprechendes Gerät bei den Russen).

Für die neue Aufgabe der militärischen Intervention wird auch schon gerüstet. Die Bundeswehr mußte etwa mit ihren schweren Panzern die Erfahrung machen, daß sie sich im vormaligen Jugoslawien nur beschränkt bewegen kann - Brücken dort sind für diese 50-Tonner nicht ausgelegt, Eisenbahnunterführungen sind zu klein, um eine Durchfahrt zu gestatten. Es steht mithin Umrüstung an. Die und ihre medienmäßige Handhabung soll beispielhaft am aufwendigsten aktuellen transatlantischen Rüstungsprojekt aufgezeigt werden, dem "Medium Extended Air Defense System" (MEADS) erläutert werden. Als Projektsumme werden 20 Milliarden Dollar angegeben. Es handelt sich keineswegs um ein System zur allgemeinen Luftverteidigung, wie man aufgrund der Bezeichnung meinen könnte. Der "footprint", die gegen Raketen- und Flugzeugangriffe abgedeckte Fläche, ist vielmehr sehr beschränkt, nämlich hinreichend für eine sich am Boden bewegende Militärformation, etwa eine Interventionsarmee. Eric Chauvistré zufolge (taz vom 21.6.1996) baten gar Vertreter des Bundesverteidigungsministeriums ihre Kollegen aus anderen NATO-Staaten darum, die eine Interventionstruppe unterstützenden Fähigkeiten der neuen Rüstung nach außen hin nicht zu betonen. Sie befürchteten in der Bundesrepublik einen kritischen öffentlichen Diskurs über die neue "mobilere Streitkräftekultur".

Wenn die Friedensbewegung gegen weitere Schritte zu einem militärischen EU-Interventionismus plädiert, wie könnte dann die Alternative aussehen?

Als Fazit aus dem über die UN und das neue deutsche Gesamtkonzept ergeben sich für eine aktive Präventionspolitik drei Schritte. Es geht um
  • Früherkennung
  • diplomatische Folgeaktionen
  • die Beseitigung von Gefahrenherden.
"Prävention von Gewalt" hat in drei Bereichen Parallelen:
  • beim Präventivkrieg (Angriffskrieg, mit dem einem gegnerischen Angriff zuvorgekommen werden soll). Diese Option scheidet aus.
  • beim Recht: Prävention als Zuvorkommen, i.S. Vorbeugung. Strafen sollen nicht nur einzelne Rechtsbrecher, sondern alle abschrecken (Generalprävention).
  • näher an der Politik ist der medizinische Begriff: vorbeugend, verhütend, v.a., dem Ausbruch oder der Intensivierung einer Krankheit entgegen wirkend.
In der praktischen Umsetzung von Prävention als Konzept zur Vermeidung der gewaltsamen Austragung von Konflikten zeichnen sich die folgenden Dimensionen ab:
  • Früherkennung und -warnung
  • Factfinding
  • Vertrauensbildung
  • internationale Wahlbeobachtung
  • Einrichtung besonderer Zonen
  • präventives deployment von Sicherungskräften, auch Polizei.
Institutionelle Umsetzungen

Als Forum für Menschenrechtsschutz hat der Europarat eine gewisse Bedeutung erlangt. Eine Reformdiskussion thematisiert die Möglichkeit, Beschwerden von Minderheiten (Basken, Nordiren, Balkan-Minderheiten), etwa mit dem Europarat ein internationales Forum zu geben, wo diese Aussicht auf Gehör haben, ohne sogleich im Heimatstaat als Hochverräter gebrandmarkt zu werden. Zudem wird darüber nachgedacht, künftige Autonomiestatuten nicht wie bisher durch den Heimatstaat (der im Zweifelsfall von den Gegnern der Minderheit beherrscht wird), sondern durch übernationale Institutionen garantieren zu lassen, etwa die EU.

In vergleichbarer Weise läßt sich die International Law Commission zitieren (der Weiterentwicklung des Rechtssystems der UN verpflichtete Juristen, auf die etwa die Konzipierung des neuen Permanenten Internationalen Strafgerichtshofes zurückgeht)

Strittig bleibt die Anerkennung der Rolle von NGOs in der Konfliktbearbeitung, gar die Prävention. Die Bundesregierung streckt in ihrem "Gesamtkonzept" die Hand aus, freilich mit eingebauter Bremse: "Nichtstaatliche Akteure (Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaft, Kirchen u.a.) sollten so weit wie möglich einbezogen werden." Das Göteburger Dokument der EU-Chefs nennt unter den anzustrebenden neuen Partnerschaften für Prävention nach dem Roten Kreuz "relevante Nichtregierungs- und wissenschaftliche Organisationen", die "auch gestärkt werden sollen". "Relevant", "auch" verrät Verweisungen auf Zweitrangigkeit in der Wahrnehmung der Fürsten des EU-Gipfels. Sie begreifen die Welt zudem als ein Förderszenario: diese zweitrangigen Akteure "sollen gestärkt werden", absehbar mit EU-Mitteln. Solange die Herren (Frauen gibt es da kaum) in solchen Bahnen denken (die Kritik gilt verstärkt ihren Stäben, die solchen Herrschaftsschmus vorformulieren), das mögliche Potential nichtstaatlicher Akteure nicht eingeschätzt wird, bleibt Hoffnungslosigkeit geboten: Die EU, auch mit ihren neuen Stäben, das großsprecherische deutsche "Gesamtkonzept" werdens nicht bringen. "Partnerschaftlich" sind solche Ansätze nicht - solange sie etwa Nichtregierungsorganisationen in der Weise in den Blick nehmen, mit der Bauer seine Kühe betrachtet: wieviel Milch kriege ich von denen, die ich weiterverkaufen kann?

Selbst von der Bundeswehr sind nunmehr Stimmen zu vernehmen, die aufgrund der Alltagserfahrungen im Kosovo nach dem organisierten Einbezug der Nichtuniformierten in den militärischen Auftrag der Friedenssicherung verlangen. Ohne eine solche Kooperation würden die Bundeswehreinheiten ihren Auftrag, heißt es, nicht erfüllen können.

Fazit

Bei der Prävention handelt es sich wesentlich noch um ein Konzept, welches der Umsetzung harrt. "An einem internationalen Bereitschaftsdienst zur Krisenbewältigung führt nichts vorbei", so resümieren Lübkemeier/Gerster in einem Papier der Friedrich-Ebert-Stiftung einen sich ausweitenden Konsens der Macher.

Wichtige Fragen zur Prävention von Gewalt durch militärische Mittel bleiben zudem bislang ungeklärt, schon auf konzeptioneller Ebene. Eine solche Klärung ist aber erforderlich, soll etwa ein "internationaler Bereitschaftsdienst" ohne den Einsatz von Gewaltmitteln tätig werden. Zu fragen ist:
  • Wann, auf welcher Stufe der Eskalation eines Konfliktes hin zum Griff nach Gewalt, muß spätestens deren Prävention einsetzen?
  • Ist hinlänglich sicher bekannt, wann in den typischen Konfliktbögen gesicherte Chancen für solche Interventionen bestehen?
  • Ist genügend bekannt, welche Mittel nichtmilitärischer Intervention in welchen Eskalationsstufen am besten gewaltpräventiv wirken?
  • Welche Dauer müssen Präventionsmaßnahmen haben?
* Prof. Dr. Ulrich Albrecht, Friedensforscher, lehrt Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und ist Vorsitzender der AFK-Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung.

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