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"Sondersituation" vor Somalia

Anti-Piraten-Operation "Atalanta" kriecht an Land / Regierung will Zertifikate für Söldner ausgeben

Von René Heilig *

Das Bundeskabinett hat gestern die Ausweitung des Bundeswehr-Mandats für den Kampf gegen somalische Piraten auf den Weg gebracht.

Künftig soll das Militär Ausrüstungen von somalischen Seeräubern bis zu 2000 Meter ins Landesinnere hinein zerstören können, beschloss das Bundeskabinett am Mittwoch. Ein Bodeneinsatz von Soldaten bleibt - bis auf Ausnahmen - tabu. Das erweiterte Einsatzgebiet umfasst die somalischen Küstengebiete und die inneren Gewässer. Eingeschlossen sind Puntland und Somaliland. Somalias Küste ist rund 2720 Kilometer lang. Das heißt, das Aktionsgebiet der »Atalanta«-Mission erweitert sich um mindestens 5440 Quadratkilometer.

Das Gebiet ist nur wenig größer als die afghanische Provinz Kabul. Und abgesehen von den Städten Berbera, Bossasso, Mogadischu und Kismayo ist es nur dünn besiedelt. Doch es bietet kaum weniger internationalen Zündstoff. Vieles ist noch nicht oder nur im Geheimen geregelt. In die Ausweitung des Einsatzgebietes sind beispielsweise sogenannte innere Gewässer einbezogen. Näheres dazu hat die EU als vertraulich eingestuft, beschied man Jan van Aken, Bundestagsaußenexperte der Linksfraktion.

»Deutsche Einsatzkräfte dürfen bis zu einer Tiefe von maximal 2000 Metern gegen logistische Einrichtungen der Piraten am Strand vorgehen«, liest man im neuen Mandatstext. Dazu wird die Marine vor allem die auf den Kriegsschiffen stationierten Helikopter nutzen. Der aktuell zum Piratenkampf abgeordnete Einsatzgruppenversorger »Berlin« hat zwei mittlere »Seakings« an Bord.

Doch so einfach, wie es klingt, ist es nicht. Die Militärs, die die Mandatserweiterung für sinnvoll, weil effektiver als das Patrouillefahren auf hoher See halten, mosern ob der präzisen Angabe der Eingreiftiefe. Die Piraten müssten ihre kleinen Boote nur 2100 Meter ins Landesinnere ziehen, schon sind sie sicher. Oder sie versammeln ihre Familien und Nachbarn rings um die bestehenden Stützpunkte am Strand. Trotz bester Aufklärung - die mit den vorhandenen »Atalanta«-Kräften keineswegs zu leisten ist - wären sogenannte Kollateralschäden nicht auszuschließen. Zumal die Zivilbevölkerung nicht extra über die Modifikation von »Atalanta« informiert wird. Das überlässt die EU - laut Bundesregierung - somalischen Medien.

Der Bundestag wird vermutlich am 11. Mai über das neue Mandat entscheiden. Es wird mit schwarz-gelber Mehrheit gerechnet. Die Opposition lehnt die geplante Ausweitung des Bundeswehreinsatzes geschlossen ab. Neben der Linkspartei, die von Anfang an gegen den Auslandseinsatz stritt, wollen erstmals auch SPD und Grüne dem neuen Mandat nicht zustimmen.

Im Schatten von »Atalanta« wächst ein zweites Problem heran. Die Bundesregierung geht erste Schritte zur Legalisierung des Söldnerunwesens. Erarbeitet wird ein Gesetz, das den Einsatz von privaten bewaffneten Sicherheitsfirmen an Bord von zivilen Schiffen ermöglicht, die unter deutscher Flagge fahren.

Derzeit sind das 500. Im vergangenen Jahr wurde das Hochrisikogebiet im Indischen Ozean von 1243 zivilen Schiffen mit deutscher Flagge am Heck passiert. Die Regierung, so erfuhr der verteidigungspolitische Sprecher der Linksfraktion, Paul Schäfer, hält den Einsatz privater Sicherheitskräfte für »eine sinnvolle Ergänzung«. Bislang sei noch kein so bemanntes Schiff entführt worden.

Um nicht - wie bislang - vor allem britische Sicherheitsfirmen zum Zuge kommen zu lassen, will Schwarz-Gelb eine Neuregelung der Gewerbeordnung zur Zulassung von privaten bewaffneten Sicherheitskräften. Zuständig für die Erteilung soll das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) sein. Das ist konsequent, schließlich regelt das BAFA auch den Export deutscher Waffen. Beteiligt wären das Innen- und das Verkehrsministerium. Hilfreich soll die Bundespolizei sein.

Firmen, die sich auf diesem pekuniär lukrativen Marktplatz tummeln wollen, müssten gewährleisten, dass »nur fachlich geeignete und zuverlässige Personen eingesetzt werden«. Es ergeben sich unter anderem Perspektiven für jene, die die Bundeswehrreform freisetzt. Unter dem Kommando des jeweiligen Kapitäns können sie auf Piraten schießen, sie töten, verwunden oder - wenn möglich - festnehmen. Dass Deutschland so jegliche Bemühungen auf internationaler Ebene unterläuft, die Rolle von Söldnern und militärischen Dienstleistern zu beschränken, sieht die Regierung nicht. Es bestehe »kein Risiko für einen Präzedenzfall«, sagt sie, denn der Einsatz stelle ja »eine Sondersituation dar«.

* Aus: neues deutschland, Donnerstag, 19. April 2012

Das bisherige Mandat aus Sicht der Bundesregierung:

Die Operation ATALANTA

Auf Hoher See dürfen Kriegsschiffe aller Staaten ein Piratenschiff oder ein durch Piraterie erbeutetes und in der Gewalt von Piraten stehendes Schiff aufbringen, die Personen an Bord des Schiffes festnehmen und die dort befindlichen Vermögenswerte beschlagnahmen. Dies ergibt sich sowohl aus Art. 105 des VN-Seerechtsübereinkommens von 1982 als auch aus dem Völkergewohnheitsrecht. Mit seiner Resolution 1816 (2008) vom 2. Juni 2008 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen diese Befugnis auf die Küstengewässer von Somalia ausgedehnt; dies gilt für Schiffe derjenigen Staaten, die mit der Übergangsregierung von Somalia bei der Bekämpfung der Piraterie zusammenarbeiten und von ihr entsprechend der Initiative des Generalsekretärs der VN notifiziert wurden. Diese Notifizierung ist bereits für die EU-Operation als ganzes erfolgt.

Das Bundeskabinett hat am 10. Dezember 2008 beschlossen, dass sich die Bundeswehr an diesem Einsatz mit einer Fregatte beteiligen soll. Am 19. Dezember 2008 hat der Deutsche Bundestag der Beteiligung der Bundeswehr an der EU-geführten Operation ATALANTA zugestimmt.

Die Seewege sicherer machen

Somalia gehört zu den größten humanitären Krisengebieten weltweit. Aufgrund der schwierigen Sicherheitslage mussten viele Hilfsorganisationen ihre Arbeit in Somalia stark einschränken oder ganz einstellen. Die humanitäre Hilfe durch Lieferungen des Welternährungsprogramms erfolgt überwiegend auf dem Seeweg. Der Schutz durch die Operation ATALANTA ist daher für die Versorgung der somalischen Bevölkerung mit Lebensmitteln von zentraler Bedeutung.

Durch das Seegebiet vor Somalia und vor allem den Golf von Aden führt außerdem die wichtigste Handelsroute zwischen Europa, der arabischen Halbinsel und Asien. Deutschland hat als Exportnation an sicheren Handelswegen ein besonders großes Interesse. Als Industrienation ist es gleichzeitig auf den Import von Rohstoffen angewiesen, die zu einem großen Teil auf dem Seeweg ins Land gelangen. Darüber hinaus haben zahlreiche Kreuzfahrtveranstalter diese Route in ihren Katalogen. Mehrere Tausend deutsche Touristen fahren jährlich mit Kreuzfahrtschiffen verschiedener Flaggen durch den Golf von Aden.

Somalia bei der Piraterie-Bekämpfung helfen

Vor dem Hintergrund der eigenen Machtlosigkeit zur Bekämpfung der Piraterie hat die somalische Übergangsregierung im Februar 2008 den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen um Unterstützung bei der Bekämpfung der Piraterie gebeten. Der Sicherheitsrat forderte die internationale Gemeinschaft auf, Maßnahmen zur Piraterieabwehr auch in den Hoheitsgewässern Somalias zu ergreifen. Am 2. Dezember hat der VN-Sicherheitsrat durch Resolution 1846 (2008) die Ermächtigung zum Vorgehen gegen Piraterie in somalischen Hoheitsgewässern um 12 Monate bis zum 2. Dezember 2009 verlängert.

Der Rat der Europäischen Union hat zur Umsetzung dieses Auftrags am 10. November 2008 die Operation ATALANTA beschlossen. Dieser Einsat hat am 8. Dezember 2008 begonnen und sollte zwölf Monate dauern. Das Operations-Hauptquartier befindet sich im britischen Northwood.

Die Führung der Streitkräfte im Einsatzgebiet erfolgt von Bord eines Flaggschiffes, das als Hauptquartier der jeweiligen Führungsnation fungiert. Die Führung soll im viermonatigen Wechsel von Griechenland, Spanien und den Niederlanden gestellt werden.

Auftrag der Operation

Im Rahmen der durch die EU festgelegten Einsatzregeln und nach Maßgabe des Völkerrechts ergeben sich für die Bundeswehr im Rahmen der EU-geführten Operation ATALANTA folgende Aufgaben:
  • Gewährung von Schutz für die Schiffe des Welternährungsprogramms unter anderem durch die Präsenz von bewaffneten Kräften an Bord dieser Schiffe,
  • im Einzelfall und bei Bedarf Schutz von zivilen Schiffen im Operationsgebiet,
  • Überwachung der Gebiete vor der Küste Somalias, die Gefahren für maritime Tätigkeiten bergen,
  • Abschreckung, Verhütung und Beendigung von seeräuberischen Handlungen oder bewaffneten Raubüberfällen, auch mit Hilfe des Einsatzes von Gewalt.
Einzusetzende Kräfte und Fähigkeiten

Deutschland beteiligt sich wechselseitig mit einer Fregatte inklusive Bordhubschraubern und Bordingteam oder einem Einsatzgruppenversorger mit Bordhubschraubern.

Weiterhin werden Kräfte zur Verwendung in den zur Führung der Operation ATALANTA gebildeten Stäben und Hauptquartieren einschließlich der Kräfte zur Unterstützung der Führungsfähigkeit sowie - soweit erforderlich - Kräfte als Verbindungsorgane zu nationalen und internationalen Dienststellen, Behörden und Organisationen eingesetzt.

Bis zu 1.400 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr können an der Operation ATALANTA eingesetzt werden.

Quelle: Website des Verteidigungsministeriums; http://www.einsatz.bundeswehr.de


Die Bundesregierung zum künftigen erweiterten Mandat:

Ausrüstung somalischer Piraten am Strand zerstören

Mittwoch, 18. April 2012

Die deutsche Beteiligung an der Anti-Piraterie-Mission Atalanta wird erweitert. Bundeswehrsoldaten sollen künftig in einem Streifen von zwei Kilometer am Strand der Küste Somalias gegen Piratenlogistik vorgehen.

Die personelle Obergrenze von bis zu 1.400 deutschen Soldatinnen und Soldaten bleibt unverändert. Das Mandat soll bis zum 31. Mai 2013 verlängert werden. Das bisherige Einsatzgebiet wird um die Küstengebiete und inneren Küstengewässer Somalias erweitert. Damit soll gegen logistische Einrichtungen von Piraten am Strand vorgegangen werden. Der Deutsche Bundestag muss dem noch zustimmen.

Das jetzige Mandat gilt bis zum 18. Dezember 2012. Derzeit sind rund 340 Soldaten vor Ort. Der Einsatzgruppenversorger "Berlin" ist ausgestattet mit zwei Bordhubschraubern mit schweren Maschinengewehren. Dazu kommt noch ein Seefernaufklärungsflugzeug.

Ausweitung des Gebietes ins Landesinnere

Deutsche Einsatzkräfte dürfen aus der Luft gegen logistische Einrichtungen der Piraten am Strand vorgehen. Dazu zählen Boote, Waffenlager oder sonstige Ausrüstungen, die von Piraten für ihre Überfälle benutzt werden. Der Einsatz ist bis zu maximal 2.000 Metern vom Strand bis ins Landesinnere erlaubt.

Deutsche Soldaten werden hierfür nicht am Boden eingesetzt. Das gilt nicht, wenn Rettungsmaßnahmen durchgeführt werden müssen.

Die Ausrüstung der Piraten am Strand zu zerstören ist eine Erweiterung des Einsatzes. Das wurde seit längerem bereits auf See so praktiziert. Jetzt soll - bei sich bietender Gelegenheit - auch am Boden Piratenausrüstung unbrauchbar gemacht werden.

So soll die Handlungsfähigkeit der Piraten weiter eingeschränkt werden. Außerdem soll verhindert werden, dass die Piraten mit ihrer Ausrüstung die Hohe See erreichen können. Denn dann muss ein Seegebiet abgesucht werden, das 24-mal so groß ist wie Deutschland.

Die Hohe Vertreterin der EU hat am 20. Februar 2012 der Übergangsregierung Somalias ein Unterstützungsangebot unterbreitet. Danach soll Atalanta gegen Piratenlogistik in den somalischen Küstengebieten und in den inneren Küstengewässern vorgehen. Die Übergangsregierung Somalias hat das Unterstützungsangebot der EU angenommen. Das wurde mit Schreiben vom 1. März 2012 gegenüber dem Generalsekretär der Vereinten Nationen notifiziert.

Ziel: Das Völkerrecht durchsetzen

Die EU-Operation Atalanta soll am Horn von Afrika weiterhin die Piraten bekämpfen und abschrecken. Nur so können humanitäre Hilfslieferungen die Not leidende Bevölkerung Somalias erreichen. Auch gilt es, den zivilen Schiffsverkehr auf den dortigen Handelswegen zu gewährleisten. Geiselnahmen und Lösegelderpressungen werden dadurch unterbunden.

Die seeseitige Versorgung der von den Vereinte Nationen mandatierten und von der EU unterstützten Mission Amisom wird geschützt. Das ist ein wesentlicher Beitrag zur Stabilisierung Somalias. Damit können die Wurzeln der Piraterie bekämpft werden.

Atalanta ein erfolgreicher Einsatz v Seit Beginn des Einsatzes konnten mehr als 130 im Auftrag des Welternährungsprogramms durchgeführte Schiffstransporte ihre somalischen Zielhäfen sicher erreichen. Mehr als 850.000 Tonnen Nahrungsmittel und weitere wichtige Hilfsgüter erreichten somit Somalia. Das ist ein wesentlicher Beitrag zur Versorgung von insgesamt bis zu vier Millionen humanitär notleidender Menschen. Vielen Somalis konnte so das Leben gerettet werden.

Zum anhaltenden Erfolg der Piratenbekämpfung hat auch die EU-geführte Operation Atalanta beigetragen. Die Erfolgsquote der Piraten ist im Jahr 2011 gegenüber den vergangenen Jahren deutlich gesunken. Das Seegebiet des Golfs von Aden ist durch die durchgängige Anwesenheit von Kriegsschiffen für Handelsschiffe seit Ende 2008 sicherer geworden.

Somalia muss aufgebaut werden

Die Bekämpfung der Piraterie reicht aber nicht aus. Langfristig muss Somalia wieder funktionsfähig werden. Staatliche Strukturen werden mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft wieder aufgebaut. In erster Linie geht es dabei um stabile Sicherheitsstrukturen im Land.

Hierbei leistet Deutschland einen wichtigen Beitrag. Deutsche Soldaten nehmen auch an der EU-geführten Ausbildungsmission Eutm Somalia teil. Bislang wurden rund 1.800 Soldaten der somalischen Übergangsbundesregierung in Uganda ausgebildet. Bis Dezember 2012 sollen es etwa 3.000 somalische Soldaten sein. Das sind dann ungefähr 20 Prozent der Streitkräfte der somalischen Übergangsbundesregierung.

Quelle: Website der Bundesregierung; http://www.bundesregierung.de




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