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Piraten als nützliche Idioten

Kampf in Küstennähe: Wie die USA versuchen, das internationale Seerecht auszuhebeln

Von Peter Linke *

Glaubt man einer verbreiteten Wahrnehmung, dann sind Blackbeards Urenkel ganz plötzlich über uns hereingebrochen. Und zwar mit solcher Wucht, dass sich der Sicherheitsrat im Juni gezwungen sah, mit der Resolution 1816 - überschrieben mit "Akte von Piraterie und bewaffnetem Raub in den territorialen und internationalen Gewässern vor der somalischen Küste" - auf das Schärfste zu verurteilen.

Damit nicht genug: Auf Bitten des UN-Welternährungsprogramms (WFP) geht die NATO inzwischen vor Somalias Küste mit mehreren Fregatten auf Piratenjagd, auch die EU ist in der Region zu aktiver Nächstenliebe entschlossen und entsendet eine vereinte Seestreitmacht - ein beachtliches Aufgebot an militärischer Schlagkraft gegen die sich endemisch verbreitetende Piraterie.

Weshalb erst jetzt? Und warum nur mit Blick auf Afrika? Piraten sind seit gut zwei Jahrzehnten überall unterwegs - in der Malacca-Straße in Asien ebenso wie entlang der brasilianischen und argentinischen Küste, selbst im Mittelmeer, ohne dass sich politische Entscheidungsträger daran gestört hätten.

Offenbar gibt es einen Zusammenhang zwischen einer wachsenden Neigung der USA, der modernen Freibeuterei Paroli zu bieten, und der im Oktober 2007 verkündeten neuen US-Seekriegsstrategie. Die Cooperative Strategy for 21st Century Seapower bricht endgültig mit der Idee vom großen Krieg auf hoher See. Als zentraler Raum künftigen militärischen Handelns wird die küstennahe oder litorale Zone erkannt, was den Ruf nach Seestreitkräften belebt, die nicht nur Kriegsmarine, Marineinfanterie und Küstenwache verschmelzen, sondern auch international nach innovativen, hightech-basierten Vernetzungen streben. So stellt die Seekriegsstrategie von 2007 Flugzeugträgern, Zerstörern und Fregatten eine neue Klasse von ­Küstenkampfschiffen (LCS), kleinen, wendigen Korvetten sowie unbemannten Über- und Unterwasserfahrzeuge zur Seite.

Wer derartiges Kriegsgerät vorhält, verfolgt vorrangig ein Ziel: die Verwischung des Unterschieds zwischen hoher See und küstennaher Zone. Entstehen würde ein einheitlicher aquatorialer Kampfraum als Dreh- und Angelpunkt moderner Militärexpeditionen. Oder wie es der US-Militärtheoretiker Martin Murphy formulierte: "Die kontrollierten Gewässer bilden eine Art Kontinuum, das die Projizierung maritimer militärischer Macht entlang der Weltwasserwege ermöglicht: von einem beliebigen Punkt im Ozean bis tief hinein ins Herz eines jeden Kontinents."

Dies würde freilich bedeuten, die geltende internationale Seerechtskonvention von 1982 (UNCLOS III, s. unten) mit Füßen zu treten. Denn ungeachtet aller Privilegien, die sie den damals führenden Seemächten einräumte (inklusive des Rechts auf freien Transit ihrer Kriegsschiffe durch alle Meerengen), stärkte das Vertragswerk die Rechte der Küstenstaaten unabhängig von deren Größe und Bedeutung. Sehr zum Missfallen besonders der USA, schiebt die Seerechtskonvention doch bis heute maritimen Militäroperationen einen Riegel vor. Für eine Militärdoktrin wie die der Vereinigten Staaten, die präventive Schläge nicht ausschließt, heißt das: Flugzeugträger, schwere Zerstörer und strategische Atom-U-Boote sind zwar Trümpfe im globalen Machtpoker, aber sie stechen nicht unbedingt im Umgang mit rebellischen Meeresanrainern.

Mit ihrer Cooperative Strategy versuchen die USA, dieses Manko zu beheben. Die Neustrukturierung ihrer Seestreitkräfte sowie die Ausrüstung mit "küstenkampftauglichen" Waffensystemen laufen bereits auf Hochtouren: Ein Navy Expeditionary Combat Command probt seit geraumer Zeit den globalen Fluss- und Hafenkampf, erste Küstenkampfschiffe sollen demnächst in Dienst gestellt werden. Während sich Einkäufer des Pentagon in Deutschland, Israel, Italien, Schweden und Südkorea nach schnittigen Korvetten umsehen, arbeiten General Dynamics, Boeing und Lockheed Martin mit Hochdruck daran, serienreife maritime Robotertechnik anzubieten.

Somalias Küstenpiraten liefern Washington einen idealen Vorwand, beim Eindringen in afrikanische Territorialgewässer ein gutes Stück voranzukommen. Somalias schwache Übergangsregierung hat bereits signalisiert, auf aquatoriale Hoheitsrechte zugunsten ausländischer Piratenjäger verzichten zu wollen. Das ist Musik in den Ohren all jener, die ihre Hand nach Afrikas erheblichen Naturreichtümern ausgestreckt halten.

Ihrer Souveränität beraubte küstennahe Zonen erweisen sich wiederum als Türöffner für "humanitäre Interventionen". Sie anzustreben, wird in dem Maße aussichtsreicher, wie es Washington gelingt, UNCLOS III auszuhebeln. Zu den ersten, die dies begreifen mussten, zählten Burmas regierende Obristen. Mit ihrer Entscheidung vom Mai, fremde Hilfe für die vom Zyklon Nargis heimgesuchte Zivilbevölkerung weitgehend abzulehnen, reagierten sie wohl auch auf öffentlich geäußerte Ideen westlicher Politiker, die Krisensituation für "humanitäre" Aufmärsche entlang des Irrawaddy-Flussdeltas zu nutzen.

Auch die massive Präsenz von NATO-Schiffen vor der Küste Georgiens nach Saakaschwilis missglücktem Angriff auf Südossetien Anfang August dürfte kaum humanitäre Überlegungen geschuldet gewesen sein. Sehr zu Recht zeigte sich Russland damals beunruhigt darüber, dass ausgerechnet hochmoderne Raketenkreuzer Georgiens Bevölkerung mit Decken und Trinkwasser versorgen sollten. Um so seltsamer Moskaus Entscheidung, nun ebenfalls eine schwimmende Festung in somalische Gewässer zu entsenden. Offenbar will der Kreml nicht wahrhaben, dass sich die US-Operationen vor der ostafrikanischen Küste demnächst in der Barentssee wiederholen könnten.

Aber sind die USA eigentlich in der Lage, UNCLOS III auszuhebeln? Gewiss haben sie das Vertragswerk nicht ratifiziert, aber das kann sich ändern. Zumal unter einer neuen Administration. Was angesichts sich zuspitzender Kämpfe um die natürlichen Ressourcen nicht nur Afrikas, sondern auch der Arktis und des Kaspischen Meeres nicht wirklich überraschen kann. Wie kaum ein zweites UN-Abkommen reflektiert UNCLOS III die Bedeutung des Souveränitätsprinzips. Angesichts der US-Militärdoktrin, die sich auf ein globales Schlachtfeld bezieht, ist kaum zu erwarten, dass Washington mit seinem eventuellen Beitritt zu UNCLOS III das Souveränitätsprinzip stärken möchte. Vielmehr dürfte es darum gehen, als Vollmitglied der Seerechtskonvention alles daran zu setzen, durch "kreative Neuinterpretation" geltenden Seerechts die Hoheitsrechte kleinerer Meeresanrainer kräftig zu stutzen.

Zweifellos ist UNCLOS III in seiner heutigen Form keine große Hilfe im Anti-Piratenkampf, definiert es Piraterie doch sehr eng als eine "auf hoher See zu einem privaten Zwecke" stattfindende Aktion und klammert so die Abwehr von Küstenpiraterie und politisch motivierter Freibeuterei aus. Eine Novellierung scheint daher geboten, aber diese sollte nicht zu Lasten der territorialen Integrität von Küstenstaaten gehen. Auf keinen Fall darf der notwendige Kampf gegen Blackbeards Urenkel zu einem Kampf gegen den Geist des geltenden internationalen Seerechts werden.

* Peter Linke ist Politikwissenschaftler und Japanologe.

Aus: Freitag, Nr. 47, 20. November 2008



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