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"Atalanta" demnächst auch an Land

EU-Piratenjagd wird erweitert *

Die Europäische Union will somalische Piraten auch an Land verfolgen. Die Pläne dazu liegen seit Wochen in den Safes der Militärs. Nachdem die EU-Außenminister der Verlängerung des »Atalanta«-Einsatzes bis 2014 bereist Ende Februar zugestimmt hatten, berieten gestern (22. März) die Verteidigungsminister über eine entsprechende Ausweitung der Mission am Horn von Afrika.

Im ostafrikanischen Somalia gibt es seit rund 20 Jahren keinen funktionierenden Staat mehr. Mehrere ausländische Militärinterventionen brachten keine Sicherheit. »Wir wollen den Erfolg von ›Atalanta‹«, sagte Christian Schmidt (CSU), Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium. Bislang konnte man Piraten nur auf See abwehren. Der neue Beschluss sieht auch militärische Einsätze gegen logistische Basen vor. Experten gehen vor allen von Hubschrauberattacken aus. Einzelheiten wie die Eindringtiefe werden geheim gehalten.

Über die Hälfte aller Piratenangriffe ereignete sich im vergangenen Jahr vor Somalia, heißt es im Jahresbericht des Internationalen Seeschifffahrtsbüros. 36 Prozent der weltweit gehandelten Güter müssen das Freibeutergebiet durchqueren. Jährlich geraten so 28 000 Handelsschiffe in Gefahr. Weder »Atalanta« noch Marineeinsätze der USA und weiterer Staaten werden der Piraterie Herr. Ende Februar hatten die EU-Außenminister beschlossen, den Einsatz bis 2014 zu verlängern. Deutschland beteiligt sich seit Dezember 2008 an der Mission und ist derzeit mit einem Schiff dabei. U-Boot-Einsätze sind im Gespräch.

Die in Brüssel erzielte Einigung wird voraussichtlich am Mittwoch im Bundeskabinett beraten, so dass der Bundestag Ende April über ein neues Mandat abstimmen kann. Bislang war von SPD und Grünen wenig Zustimmendes zu hören, da die Risiken der Operation größer sind als mögliche Erfolge. Die Linksfraktion, so bestätigte deren verteidigungspolitischer Sprecher Paul Schäfer, ist generell gegen den Einsatz.

* Aus: neues deutschland, 23. März 2012


Freibeuter-Rechnung

Von René Heilig **

Piraterie ist ein Verbrechen. Klar. Doch rechnen wir mal ganz nüchtern. Die Anzahl der Piratenangriffe vor Somalia ist trotz der Anwesenheit von Kriegsschiffen aus rund 30 Staaten weiter gestiegen. 2011 wurden 237 Frachter attackiert, bei mindestens 28 waren die Piraten erfolgreich. Die durchschnittliche Lösegeldsumme pro Schiff wuchs von vier auf rund fünf Millionen Dollar. Das sind »Peanuts«, gemessen daran, was die Somalia-Seeräuber die Weltwirtschaft indirekt kosten. Sieben oder gar zwölf Milliarden Dollar, heißt es. Jährlich. Die gehen drauf für mehr Sicherheitspersonal, die Umrüstung der Schiffe, Ausweichrouten ...

Wem aber nutzt die Piraterie? Die renommierte britische Denkfabrik Chatham House ermittelte unlängst einen »weit verbreiteten und signifikant positiven Effekt auf die somalische Wirtschaft«. Wie bitte? Ja, die Piraterie schafft Arbeitsplätze in einem bettelarmen Land voller Hunger und Tod. Vor allem im nordöstlichen Puntland. Da darf man nicht nur die rund 100 »Erwerbstätigen« rechnen, die pro gekapertem Schiff benötigt werden. Weil nach Clangesetz geteilt wird, profitieren viele vom Erlös der Organisierten Kriminalität. Die örtliche Wirtschaft hat wieder Aufträge, die Lebensmittelpreise stabilisierten sich.

Natürlich kann man nicht untätig bleiben, wenn Piraten immer brutaler zuschlagen. Doch wem nutzt eine militärische Eskalation? Wem nutzen nun auch noch Kommandoeinsätze (oder mehr?) gegen das logistische und damit familiäre Hinterland der Freibeuter? Statt auf Gewalt mit noch mehr Gewalt zu antworten, wäre es gescheit, die finanziellen Mittel direkt zur Entwicklung der somalischen Küstenregion auszugeben.

** Aus: neues deutschland, 23. März 2012 (Kommentar)


Luftangriffe auf den Strand

Die EU will den Kampfauftrag ihrer Atalanta-Mission im Indischen Ozean erweitern. SPD-Sprecher deutet Ablehnung im Bundestag an

Von Knut Mellenthin ***


Die EU will somalische Piraten künftig auch an Land angreifen. Das beschlossen die Außenminister der Union am Freitag in Brüssel. Dass an einer entsprechenden Erweiterung der Einsatzrichtlinien für die zwischen Nordostafrika und der Inselgruppe der Seychellen operierende EU-Mission Atalanta gearbeitet wurde, war schon im Dezember vorigen Jahres durch Presseberichte bekannt geworden.

Die Verhandlungen gestalteten sich offenbar schwierig. Dazu sollen insbesondere Einwände von deutscher Seite beigetragen haben. Entgegen Plänen, die von Großbritannien und Frankreich befürwortet wurden, sollen künftige Angriffe sich auf einen relativ schmalen – bisher noch nicht exakt definierten – Streifen am Land („Strand“) beschränken und nur aus der Luft durchgeführt werden. Dazu soll die Mission mit zusätzlichen Kampfhubschraubern ausgestattet werden. Der Einsatz von Bodentruppen ist beim gegenwärtigen Stand der Dinge nicht vorgesehen. Ob auf dieser Grundlage auch gegen Piratenstützpunkte in einigen Häfen vorgegangen werden kann und soll, scheint noch unklar.

Die Operation Atalanta wurde von der EU Anfang November 2008 beschlossen und befindet sich unter Beteiligung der deutschen Bundesmarine seit Dezember des selben Jahres mit mehreren Kriegsschiffen im Einsatz. Ihre Rechtsgrundlage ist die Resolution 1816 des UN-Sicherheitsrats vom 2. Juni 2008. Sie sieht vor, dass alle von der somalischen Übergangsregierung dazu ermächtigten Staaten auch in den Territorialgewässern des Landes operieren dürfen. Das zwar international anerkannte, aber nicht aus Wahlen hervorgegangene Regime in Mogadischu erteilt diese Genehmigung völlig wahllos an jeden, der sie haben will.

Auf Betreiben der USA weitete der Sicherheitsrat diese Legitimation mit seiner Resolution 1851 vom 16. Dezember 2008 so aus, dass sie auch Operationen an Land einschließt – so weit die beteiligten Länder dafür eine Lizenz der Übergangsregierung haben. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass die alljährlichen Beschlüsse des Bundestages zur „Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte“ an Atalanta unter den rechtlichen Grundlagen des Einsatzes zwar – unter anderem – die Resolution 1816, aber nicht die Resolution 1851 aufführen.

Auffallend sind am deutschen Mandat, das zuletzt am 1. Dezember 2011 vom Bundestag verlängert wurde, zwei weitere Punkte, die sich von anderen Kampfaufträgen unterscheiden. Erstens: Das Einsatzgebiet ist nicht statisch, sondern dynamisch formuliert. Das dort genannte riesige Seegebiet im Indischen Ozean „vor der Küste Somalias und benachbarter Länder“ (einschließlich des darüber liegenden Luftraums) kann jederzeit auf „angrenzende Räume und das Hoheitsgebiet anderer Staaten in der Region“ - also offenbar auch auf das Festland – ausgedehnt werden, sofern diese Staaten zustimmen. Zweitens: Die Personalobergrenze des deutschen Kontingents liegt weit über der Zahl der tatsächlich eingesetzten Soldaten, enthält also eine permanente große Reserve für nicht vorab geklärte zusätzliche Aufgaben: Die Obergrenze erlaubt den Einsatz von bis zu 1.400 Soldaten; tatsächlich im Rahmen von Atalanta tätig sind jedoch zur Zeit nur zwischen 270 und 280.

Der führende Militärexperte der SPD im Bundestag, Rainer Arnold, hat am Freitag angedeutet, dass seine Partei der geplanten Ausweitung des Kampfauftrags der EU-Mission vielleicht nicht zustimmen werde. Sicher scheint indessen nur die Ablehnung durch die Fraktion der Linken.

*** Aus: junge Welt, 24. März 2012


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