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Vom Offizier zum Pazifisten

Abschied von der Kriegskultur

Von Wolfram Wette (Freiburg)

1 Ein säkularer Bewusstseinswandel in der Einstellung zum Krieg

Das 20. Jahrhundert, das wir nun hinter uns gelassen haben, ist vornehmlich als ein Zeitalter der Katastrophen und der Extreme charakterisiert worden. Diese Sehweise hat gewiss ihre Berechtigung. Sie verleitet jedoch dazu, positive Entwicklungen eher gering zu schätzen, die in diesem Jahrhundert ebenfalls angelegt waren und die sich schließlich auch durchzusetzen vermochten. Ich meine damit u. a. den fundamentalen Bewusstseinswandel in der Einschätzung von Krieg und Militär. Er hat sich national und europaweit vollzogen, besonders in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts.
Der historisch gebildete Zeitgenosse weiß, dass sich in Deutschland in dem Zeitraum zwischen den Einigungskriegen und dem Ende des Zweiten Weltkriegs fast alles um Krieg und Militär drehte. Offiziere genossen ein hohes Ansehen. Sie waren die Vertreter der führenden gesellschaftlichen und politischen Schicht, an der sich andere orientierten. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bahnte sich dann in Deutschland auf diesem Feld ein Umdenken und ein breiter Mentalitätswandel an. (. . .)
Man kann sich ihm mit der Frage nähern, ob wir uns - als allgemeine Richtungsangabe gedacht - auf dem Weg von einer Kriegs- zu einer Friedenskultur befinden, welche Strecke wir dabei schon zurückgelegt haben - und welche noch nicht.
Nicht von ungefähr wird in der Regel angenommen, dieser Wandel sei in Deutschland als eine Folge des verlorenen Zweiten Weltkrieges eingetreten. Der sich anschließende Kalte Krieg habe letztlich in die gleiche Richtung gewirkt. (. . . )
Übersehen wird bei dieser, auf die Zeit nach 1945 abhebenden Betrachtungsweise, dass die geänderte Einstellung zu Krieg und Militär gerade auch in Deutschland ältere Wurzeln hat. Dabei denkt man gewöhnlich an die bürgerliche pazifistische Bewegung und an die sozialdemokratische Arbeiterbewegung. Nahezu unbekannt ist dagegen der Tatbestand, dass es in Deutschland schon vor dem Ersten Weltkrieg, mehr aber nach dem Erlebnis des Krieges 1914-18, Berufsoffiziere gab, die gegen die vorherrschende Kriegskultur opponierten, ja Widerstand leisteten.
Mit diesen außergewöhnlichen Offizieren werde ich mich in meinem Vortrag beschäftigen. (. . .) Einer von ihnen, der ehemalige preußische General Paul Freiherr von Schoenaich, wurde im Jahre 1929 sogar zum Vorsitzenden der Deutschen Friedensgesellschaft gewählt, was zu der - durchaus nicht nur ironisch gemeinten - Frage Anlass gibt, ob im militaristisch geprägten Deutschland nicht einmal die Friedensbewegung ohne einen General an der Spitze auskommen konnte.
Wie viele Offiziere es waren, die sich in den genannten Jahrzehnten dem militaristischen Milieu entfremdeten und gleichsam die Seiten wechselten, ist im Einzelnen nicht bekannt. Eine genaue Zahl wird sich auch kaum je exakt ermitteln lassen, da bei weitem nicht jeder Fall öffentlich wurde. (. . .)
Erforscht sind bislang lediglich die Lebensläufe von 17 Offizieren, die ihren Gesinnungswandel öffentlich machten und sich hernach in der Friedensbewegung aktiv engagierten. Berücksichtigt man den statistischen Befund, dass im preußischen Kriegsheer der Jahre 1914-18 etwa 24 000 Offiziere dienten, in der kaiserlichen Kriegsmarine etwa 3000, so wird deutlich, dass es sich bei diesen Abtrünnigen um eine verschwindend kleine Minderheit handelte. Doch ist hier letztlich nicht die statistische Aussage wichtig. Was zählt, ist der Tatbestand, dass es Militärs mit solchen Biografien überhaupt gegeben hat. Zudem ist daran zu erinnern, dass letztlich alle großen und geschichtsmächtigen Bewegungen einmal als kleine Rinnsale angefangen haben.
Gewiss: Rein machtpolitisch betrachtet, vermochten die wenigen pazifistischen Offiziere gegen den Mainstream der jüngeren deutschen Geschichte nicht sehr viel auszurichten. Sie spielten eher die Rolle von Außenseitern. Mit ihren Warnungen blieben sie seinerzeit "Rufer in der Wüste". Das heißt: Sie hatten zwar das Richtige erkannt und öffentlich ausgesprochen, aber bei vielen Politikern und Militärs keine dauerhafte Meinungs- und Verhaltensänderung bewirken können. Zumindest war es so, dass die Zahl derjenigen Menschen, die ihnen Beachtung schenkten und ihre Warnungen hörten, nicht groß genug war, um den fortgesetzten Weg der Gewaltpolitik zu verhindern. (. . .)
Die außergewöhnliche Leistung der pazifistischen Offiziere ist in angemessener Weise erst zu verstehen, wenn man sich die Umstände ihres Meinungswandels vergegenwärtigt. Damit ist zum einen die zu ihrer Zeit vorherrschende Kriegsideologie angesprochen, zum anderen der gesellschaftliche Status des preußisch-deutschen Offizierkorps und der militärische Korpsgeist. (. . .)

2 Die Kontinuität der Kriegskultur

Der Denkhorizont der Offiziere des preußisch-deutschen Machtstaats wurde von dem Glaubenssatz geprägt, dass kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Nationalstaaten die historische Normalität darstellten. Wechselweise oder gleichzeitig wurden Gott, die Geschichte und die Natur als Bürgen für diese Ansicht ins Feld geführt. Weil Kriegführen als normal galt, hatte sich das Militär darauf einzustellen, von Zeit zu Zeit kriegerische Konflikte auszufechten. Ebenso wie die anderen tragenden Kräfte des deutschen Kaiserreichs wünschten sich die Offiziere
den Staat als einen militärischen Machtstaat. (. . .)
Die Kontinuität dieses Gewaltglaubens über den Wechsel der Staatsformen hinweg ist ebenso auffallend wie erschreckend. (. . .)
Fazit: Die maßgeblichen Vordenker des preußisch-deutschen Militärs waren bei allen Unterschieden, die ansonsten zwischen ihnen bestanden, von einem durchgängigen ideologischen Grundmuster geprägt. Auch der Durchschnittsoffizier jener Zeit verachtete den Pazifismus als schwächlich, dekadent oder gar als krankhaft. Nicht selten wurde den Pazifisten eine landesverräterische Einstellung unterstellt, was einer Kriminalisierung gleichkam. Sich selbst stilisierte der Durchschittsoffizier in Kategorien wie stark, männlich, mutig, realistisch, königstreu und kriegerisch. Er lebte in dem Gefühl, einem besonderen, gesellschaftlich und politisch herausgehobenen Stand anzugehören.

3 Korpsgeist und geschlossenes Milieu

Für jene eigenständig denkenden Köpfe, die sich im Laufe ihres Lebens zu pazifistischen Offizieren wandeln sollten, stellte sich das geschlossene Milieu des Offizierkorps und die in ihm geltenden - geschriebenen und ungeschriebenen - Gesetze des Korpsgeistes als eine zweite, nicht minder restriktive Rahmenbedingung dar. Entlang der Selektionskriterien "erwünschte Kreise" und "Adel der Gesinnung" wurde in der preußischen Armee über viele Jahrzehnte hinweg eine Personalpolitik betrieben, welche die gesinnungsmäßige Homogenität des Offizierkorps garantierte. Sie überstand sogar das Ende der Monarchie im Jahre 1918, prägte das Offizierkorps der Reichwehr der Weimarer Republik in einem geradezu erstaunlichen Maße und wirkte sich, was das obere Führungspersonal angeht, selbst noch in der Zeit des Nationalsozialismus aus. (. . .)

4 Vom Offizier zum Pazifisten: Wandlungsprozesse

Wie gestalteten sich die Wandlungsprozesse, welche die zum Pazifismus konvertierten Offiziere durchmachten? Betrachtet man die geschilderten ideologischen und soziologischen Rahmenbedingungen, so drängt sich die Frage auf, woher diese Offiziere die Kraft nahmen, sich von den ideellen und mentalen Fesseln ihres Milieus zu befreien. Zunächst muss man den folgenden Tatbestand berücksichtigen: Ihre Lebenswege waren ebenso ungewöhnlich wie unterschiedlich. Sie agierten als aufrechte und mutige Individuen, kaum je in einem Gruppenzusammenhang. Unter ihnen existierten bestenfalls lockere Verbindungen. Daher erscheint es nach dem bisherigen Kenntnisstand nicht möglich, eine Gruppenbiografie dieser Offiziere zu schreiben. Jeder ging seinen eigenen Weg.
Gleichwohl gibt es einige Gemeinsamkeiten zu entdecken: Die meisten der später zu Pazifisten gewandelten Soldaten gehörten zum Typus des gebildeten Offiziers. Der bayerische Major Franz Carl Endres beispielsweise war ein hoch begabter Mann, der statt der Offizierslaufbahn auch die eines Musikers, Journalisten oder Schriftstellers hätte einschlagen können. Der ebenfalls aus Bayern stammende Oberst Alfons Falkner v. Sonnenburg nutzte seine Lehrtätigkeit an der Kriegsakademie, um sich eine umfassende Bildung anzueignen. Der preußische Oberstleutnant Moritz von Egidy, der Kapitän zur See der kaiserlichen Kriegsmarine Lothar Persius und Kapitänleutnant Hans Paasche, ein Sohn des nationalliberalen Reichstagsvizepräsidenten, traten schon als aktive Offiziere publizistisch hervor.
General Paul Frhr. von Schoenaich besuchte neben dem militärischen Dienst, der ihn geistig offensichtlich unterforderte, eine Universität und bildete sich dort weiter. Man wird sagen können, dass eine natürliche Intelligenz und die Bereitschaft zur Betätigung derselben auch außerhalb der durch Familie und Militär vorgegebenen Bahnen ein gemeinsames Kennzeichen der pazifistischen Offiziere war. Diese Entwicklung wurde auch dadurch nicht behindert, dass einige von ihnen aus alten Offiziersfamilien kamen - Endres und Fritz von Unruh hatten Generäle zu Vätern, Kapitänleutnant Heinz Kraschutzkis Vater war Militärarzt - und in einer eindeutigen Militärtradition aufgewachsen waren.
Die meisten dieser Offiziere hatten ihren geistigen Horizont durch Auslandserfahrungen geweitet. Der preußische Oberst Kurt von Tepper-Laski kam durch seinen Pferderennsport in ganz Europa herum; er sprach fließend französisch und fühlte sich als ein freigeistiger Internationalist. Oberst Falkner von Sonnenburg bereiste in seiner Militärzeit und später (1900-1914) als militärischer Zeitungskorrespondent die ganz Welt. Der bayerische General Max Graf Montgelas war deutscher Militärattache in China. Lothar Persius machte in der Marine eine Weltumsegelung, besuchte Asien, Afrika und Amerika und hatte in Korea ein denkwürdiges Zusammentreffen mit einem japanischen Offizier, der ihn über seine - sozialistisch geprägte - Sicht der Kriegsursachen aufklärte und damit sein Leben fundamental veränderte.
Der aus Baden stammende General Berthold von Deimling und der Marineoffizier Hans Paasche lernten in den deutschen Kolonialkriegen den afrikanischen Kontinent kennen. Deimling verfügte in den zwanziger Jahren über vielfältige internationale Kontakte. Der Bremer Offizier Georg-Wilhelm Meyer, genannt "Englischmeyer", der Handelsrecht und Nationalökonomie studiert hatte, erlebte durch einen längeren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten die demokratische Kultur.
Franz Carl Endres diente einen Teil seiner Militärzeit (1911-1915) als osmanischer Major in Istanbul. General v. Schoenaich pflegte jedes Jahr eine Weltreise zu unternehmen; er sprach englisch, französisch, spanisch und etwas russisch.
Die Auslandserfahrungen bewirkten, dass etliche der pazifistischen Offiziere das in der damaligen Zeit verbreitete nationalistische Scheuklappendenken abzulegen vermochten. Sie blickten über den Tellerrand nationaler Interessen hinaus und entwickelten die Fähigkeit, in internationalen Kategorien zu denken und sich in die Interessenlage anderer hineinzuversetzen. Gleichzeitig wussten sie um die Existenz und den Wert anderer Kulturen. Ihre Weltläufigkeit und ihre Fremdsprachenkenntnisse bewahrten sie schließlich vor einfältigem Freund-Feind-Denken, das im kaiserlichen Deutschland unter dem Einfluss militaristischer Ideologien eine dominante Erscheinung darstellte und das in den nationalistischen Kreisen auch nach dem Ersten Weltkrieg nicht abgelegt wurde.
Eine nähere Untersuchung verdiente die Frage, welchen Einfluss Frauen auf das pazifistische Engagement dieser Offiziere hatten. Die Ehefrau von Lothar Persius war eine Mitbegründerin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF). Es darf vermutet werden, dass sie ihn in friedenspolitischer Hinsicht beeinflusste. Hans Paasches Frau teilte mit ihm seine Begeisterung für das schwarze Afrika, das sie ebenso wie ihr Mann als ein bewundernswertes Gegenstück zum preußisch-deutschen Militarismus und zum verknöcherten Obrigkeitsstaat erlebte.
Von Hauptmann im Generalstab Hans-Georg von Beerfelde und von Kapitänleutnant Heinz Kraschutzki wissen wir, dass ihre Frauen ihr pazifistisches Engagement tatkräftig auch dann unterstützten, als dies mit konkreter Gefahr für Leib und Leben verbunden war.
General von Schoenaich machte für seinen Wandel vom Militär zum Pazifisten ein so genanntes "Damaskuserlebnis" geltend: in diesem Falle die von ihm als Desertion interpretierte Flucht Kaiser Wilhelms II. im November 1918 nach Holland. Ähnlich plötzliche Einschnitte hat es auch bei einigen anderen Offizieren gegeben. Persius' - bereits erwähnte - Bekanntschaft mit einem kriegskritischen japanischen Offizier und Paasches Konfrontation mit der Kultur Afrikas könnte man hier anführen. Vielfach bildete jedoch das Kriegserlebnis selbst das entscheidende Motiv, das kritische Köpfe unter den Offizieren zum Nachdenken über Krieg, Gewalt und Militarismus veranlasste. (. . .)
Für den Wandlungsprozess spielte auch die Kriegsschuldfrage eine große Rolle, die nicht erst nach Kriegsende entbrannte, sondern einige von ihnen schon während des Krieges 1914-1918 umtrieb. Nicht wenige kamen zu der sie erschütternden Erkenntnis, dass Deutschland im Sommer 1914 keineswegs, wie die Regierung nicht müde wurde zu behaupten, das Opfer fremder Aggression wurde, sondern selbst einen maßgeblich Anteil am Kriegbeginn hatte. Hauptmann i. G. Hans-Georg v. Beerfelde beispielsweise wurde auf Grund dieser Erkenntnis zum Pazifisten.
In der Mehrzahl der Fälle waren es also keine plötzlichen Erleuchtungen, die den Gesinnungswandel dieser Offiziere bewirkten, sondern es handelte sich um längere, oft quälende Entwicklungen, in denen es Zweifel, Unsicherheiten vielfältiger Art und auch Rückfälle in schon überwunden geglaubte Positionen gab, wie beispielsweise an der Vita des bayerischen Generals Graf Montgelas abgelesen werden kann. (. . .)
Im Prozess der Neuorientierung der hier vorzustellenden Offiziere spielte das persönliche Beispiel prominenter Pazifisten eine wichtige Rolle. Für Schoenaichs Werdegang beispielsweise war die Bekanntschaft mit dem streitbaren und energischen Pazifisten Fritz Küster von Bedeutung. Andere orientierten sich an Ludwig Quidde und Hans Wehberg. General v. Deimling sah in Friedrich Wilhelm Foerster ein großes Vorbild. Es versteht sich von selbst, dass die Offiziere auch von den Schriften zeitgenössischer pazifistischer Vordenker sowie von jenen Autoren, die sich kritisch mit der Kriegsschuldfrage auseinandersetzten, maßgeblich beeinflusst wurden. Aber dies war keine Einbahnstraße. Denn die pazifistischen Offiziere wirkten ihrerseits auf die Führungspersönlichkeiten der zeitgenössischen Friedensbewegung mit ihrem militärischen Sachverstand ein. Der Vorsitzende der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG), Ludwig Quidde, schrieb General von Deimling einmal anerkennend: Auf die Öffentlichkeit macht es immer "den stärksten Eindruck, wenn in dieser Frage Militärs sich auf unsere Seite stellen. Um das Publikum von der alle Vorstellungen übersteigenden Entsetzlichkeit künftiger Kriege zu überzeugen, besitzen Sie eine Autorität, die uns Laien fehlt."
In besonderem Maße wusste der Militarismuskritiker Friedrich Wilhelm Foerster den Sachverstand jener Offiziere zu schätzen, die mit ihm eng zusammenarbeiteten. In seinem Memoirenwerk setzte er ihnen gleichsam ein Denkmal, wenn er schrieb: "Es war eine große Ermutigung für mich, dass mitten im Ersten Weltkriege oder bald danach eine Reihe von hochgestellten deutschen militärischen Führern auf meine Seite traten und mir viele unschätzbare Informationen und Orientierungen zukommen ließen, die mir für meine ganze Arbeit von größtem Werte waren. Diese Männer verleugneten keineswegs ihre militärische Vergangenheit, noch wurden sie etwa Anti-Militaristen. Aber sie erkannten, dass eine Weltpolitik, die vom Generalstab diktiert war und demgemäß die Völkerfragen nur nach militärischen Gesichtspunkten beurteilte und behandelte, unrettbar dem Fluche verfallen müsse, der aus dem Missbrauch der militärischen Macht überall uns immer aufs Neue entstehen muss." (. . .)
Besser kann man die Leistung der genannten pazifistischen Offiziere kaum würdigen. Sie hatten das Grundübel erkannt, den Glauben an die Allmacht der Gewalt und das System des Militarismus.
Auch für die meisten anderen pazifistischen Offiziere der Zwischenkriegszeit war es typisch, dass sie den preußisch-deutschen Militarismus nicht primär als ein Problem der Truppenstärke oder des Standes der Waffentechnik ansahen, sondern als eine Frage des geistigen Zustandes der Menschen. Schoenaich argumentierte immer wieder in diesem Sinne. Daher war er über Jahre hinweg bestrebt, seinen alten Standesgenossen, den preußischen Berufsmilitärs, klarzumachen, dass es unabdingbar sei, "aus der im alten schwertgläubigen Preußentum wurzelnden Kaste herauszukommen". (. . .)
Diejenigen unter den pazifistischen Offizieren, deren Engagement in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg fällt, wurden in der Regel Mitglied einer pazifistischen Organisation und nahmen eine rege Vortrags- und Publikationstätigkeit auf. Darüber hinaus traten die meisten von ihnen einer politischen Partei bei, bevorzugt der DDP und der SPD, und etliche engagierten sich im republikanischen Reichsbanner Schwarz Rot Gold. Sie waren zugleich überzeugte Demokraten - und befanden sich damit in einem weiteren grundlegenden Gegensatz zur antidemokratisch eingestellten und wandlungsunfähigen Militärelite, für deren Angehörige die Militärmonarchie etwas Sakrales war und die Weimarer Republik "eine permanente Kränkung" darstellte. Für die "abtrünnigen" pazifistischen Offiziere dagegen gehörten Demokratie und Frieden zusammen.

5 Der Tabubruch und die Folgen

(. . .) Die sozialen Kosten eines Verstoßes gegen die vorherrschenden Denkmuster, zugleich gegen den Korpsgeist, waren vorhersehbar groß. Wer den "Schwertglauben" aufkündigte, beging einen schweren Tabubruch. Ein solcher brachte den jeweiligen Offizier in die unmittelbare Nähe jener "inneren Feinde", welche das Offizierkorps eigenständig bekämpfte. Die Folgen des Tabubruchs waren unterschiedlich. Sie reichten von Beschimpfungen und Verleumdungen über die systematische gesellschaftliche Ausgrenzung durch die ehemaligen Offizierskameraden bis hin zur Vertreibung ins Exil und zu Ermordung.
Generalmajor a. D. Freiherr von Schoenaich hat den - von ihm durchaus als schmerzlich empfundenen - Vorgang der Ausgrenzung genau beschrieben und analysiert. Schon das zaghafte Aussprechen von Wahrheiten, die mit den Denkstrukturen des militaristischen Milieus der früheren Offizierskameraden kollidierten, habe genügt, berichtet er, ihn in seiner früheren Umwelt "zum räudigen Schafe zu stempeln". Als er seine neu gewonnenen Erkenntnisse immer mehr fundierte, bei seinen früheren Offizierskameraden die Notwendigkeit ehrlicher Selbsterforschung anmahnte und schließlich seine neu gewonnene Überzeugung zu erkennen gab, dass der pazifistische Gedanke im heutigen Deutschland "nur in einer Linkspartei möglich sei", erklärte man ihn "in Acht und Bann".
Freimütig bekannte er: "Es ist mir bitter schwer geworden, mit dem Kreise zu brechen, an dem ich 37 Jahre mit glühender Liebe gehangen habe." Viele, denen er früher nur Gutes getan habe, würden jetzt miteinander darin wetteifern, ihn "zu schmähen".
Ähnlich erging es General Berthold von Deimling. Seine ehemaligen Kameraden schnitten ihn völlig und schlossen ihn aus einer Offiziersgesellschaft aus. Hauptmann von Beerfelde, der sich vor und während der deutschen Revolution von 1918/19 exponiert hatte, wurde von seinen ehemaligen Offizierskameraden für geisteskrank erklärt und immer wieder mit dem Tode bedroht. In Ruhe ließ man ihn erst, als er nach Tirol floh, um dort Apfelbäume zu pflanzen. Hauptmann a. D. Carl Mertens, der als Reaktion auf das militaristische Milieu der Freikorps zum Demokraten und Pazifisten wurde, musste seine Kritik der illegalen Geheimrüstungen anonym publizieren, da ihn sonst ein Fememord erwartet hätte.
Das Schicksal, ermordet zu werden, erlitt im Jahre 1920 der ehemalige Kapitänleutnant Hans Paasche. Er wurde von rechtsradikalen Freikorpsoffizieren der Nachkriegsjahre als ein Verräter an der Idee der nationalistischen Machtpolitik betrachtet und unter dem Vorwand, ein Waffenlager für Spartakisten bereitzuhalten, auf seinem Gut vor den Augen seiner Kindern "auf der Flucht" erschossen. Sein gewaltsamer Tod reiht sich ein in eine Vielzahl politischer Morde in den ersten Jahren der Weimarer Republik, die in der Regel von rechtsradikal eingestellten Offizieren verübt oder befohlen wurden. Sie ermordeten die Kriegsgegner Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1919 ebenso wie die "Erfüllungspolitiker" Matthias Erzberger und Walter Rathenau, die der Republik als Reichsminister dienten, sowie hunderte weniger prominente Opfer. Sie alle wurden von ihren Mördern als Verräter am deutschen Militär- und Machtstaat angesehen.
Führende Pazifisten wie Friedrich Wilhelm Foerster, Emil Julius Gumbel und Albert Einstein mussten Deutschland schon in der Weimarer Republik verlassen, weil sie hier ihres Lebens nicht sicher sein konnten.
Etliche der pazifistischen Offiziere teilten dieses Schicksal. Oberst a. D. von Sonnenburg wanderte ebenfalls schon Anfang der zwanziger Jahre in die Schweiz aus. Major a. D. Endres folgte ihm 1926. Im Jahre 1939 nahm er die schweizerische Staasbürgerschaft an. Kapitänleutnant a. D. Kraschutzki, als verantwortlicher Redakteur von "Das Andere Deutschland" mit mehreren Landesverratsprozessen überzogen, ging 1932 nach Spanien ins Exil, wurde dort später auf Veranlassung von Behörden des NS-Staates verhaftet und musste neun Jahre in spanischen Gefängnissen verbringen.
Der ehemalige Offizier und pazifistische Schriftsteller Fritz von Unruh, 1932 einer der Mitbegründer der republikanischen Kampforganisation "Eiserne Front", floh noch im gleichen Jahre vor den Nationalsozialisten ins Exil, zunächst nach Italien, dann nach Frankreich, Spanien und schließlich - mit Unterstützung von Albert Einstein und Thomas Mann - in die USA. In Deutschland wurden seine Bücher verbrannt.
Major a. D. Karl Mayr, ein "Vernunftrepublikaner" und gemäßigter Pazifist, der sich jahrelang im Reichsbanner Schwarz Rot Gold engagiert hatte, musste nach Paris emigrieren, wo ihn die Gestapo 1940 verhaftete. Er starb 1945 im Konzentrationslager Buchenwald. Die Generäle a. D. von Deimling und von Schoenaich blieben im Lande und konnten hier offenbar einigermaßen unbehelligt leben. Hans-Georg von Beerfelde wurde nach dem Reichstagsbrand verhaftet, von der SA zum Krüppel geschlagen und erst nach mehrmonatiger Haft entlassen. Bis zum Ende des NS-Staates unterlag er dauernder politischer Überwachung.
Zum Schluss möchte ich Sie mit einer denkwürdigen Personenkonstellation bekannt machen, die uns daran erinnert, welchen Weg die jüngere deutsche Militärgeschichte gegangen ist und welchen Weg sie hätte nehmen können, wenn man diese "Rufer in der Wüste" rechtzeitig gehört hätte. Die Rede ist von der "Crew 1910" der kaiserlichen Kriegsmarine.
Ihr gehörten an Karl Dönitz und Martin Niemöller sowie Heinz Kraschutzki, einer der später zu Pazifisten gewandelten Offiziere. Dönitz brachte es bis zum Großadmiral und Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine sowie zum Nachfolger Hitlers als deutsches Staatsoberhaupt. Das Nürnberger Internationale Militärtribunal verurteilte diesen Repräsentanten deutscher Gewaltpolitik als einen der Hauptkriegsverbrecher zu zehn Jahren Haft, die er in Spandau verbüßte.
Martin Niemöller, ebenfalls Angehöriger der "Crew 1910" und im Weltkrieg 1914-18 U-Boot-Kommandant, blieb auch in der Zwischenkriegszeit ein Anhänger von Krieg und Militär. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte er sich zum Pazifisten. In den fünfziger Jahren stieg er zum Kirchenpräsidenten der Evangelischen Landeskirche in Hessen und Nassau auf. In dieser Zeit stellte er einmal seinen alten Freund Kraschutzki folgendermaßen vor: "Das ist mein alter Crew-Kamerad Kraschutzki. Ihm hat schon der Erste Weltkrieg die Augen geöffnet über das Wesen des Militarismus. Bei mir war leider noch ein zweiter nötig."
Deutschland und der Welt wäre viel erspart geblieben, wenn diese "weißen Raben" rechtzeitig Gehör gefunden hätten. Ihr Wirken ist als ein Beitrag zur Gestaltung einer humanen und zivilen Gesellschaft zu würdigen, der unter widrigen Umständen geleistet werden musste. Sie können als "Vorkämpfer einer Friedenskultur" gelten. Denn sie haben auf die ihnen mögliche Weise dazu beigetragen, dass jener säkulare Bewusstseinswandel in Gang kam, von dem ich am Beginn meines Vortrages gesprochen habe.

Der Beitrag von Wolfram Wette ist auch in der Frankfurter Rundschau dokumentiert (09.08.2000).

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