Zerfleddern um der Macht und des Opportunismus willen
Wann, wenn nicht jetzt, ist Pazifismus gefragt. Von Reinhard J. Voß, Generalsekretär von Pax Christi in Deutschland
I. Sich wehren gegen Vereinnahmung
Die Denkfigur, dem gesinnungsethischen einen politischen Pazifismus an die Seite
zu stellen, stammt gar nicht von
Staatsminister Volmer, sondern ist in den letzten
Jahren schon unter Pazifisten diskutiert worden. Da wurde auf Grund der
Wiederaufbau-Erfahrungen in Bosnien gesagt (Christof Ziemer, Sarajevo 1999), der
konsequente "prophetische Pazifismus" brauche neben sich einen "weisheitlichen
Pazifismus", welcher davon ausgehe, dass "wir gegenwärtig hier in Bosnien das
Militär brauchen", der sich aber seinerseits politisch einmische, denn "das
Militärische muss durch gewaltfreie Methoden erweitert werden". Ich sprach
damals lieber von "prophetisch-religiösem" und "politischem Pazifismus". Letzterer
engagiert sich etwa durch zivile Konfliktbearbeitung, zivile Friedensdienste,
Trauma- und Versöhnungsarbeit im Umfeld politisch-militärischer Konflikte - in der
Prävention, im Konflikt selbst und in Nachsorge und Wiederaufbau.
In der Nachkriegszeit scheut er nicht den Kontakt zu den Militärs, achtet aber
darauf, sich nicht ideologisch, publizistisch, logistisch und praktisch von diesen
vereinnahmen und in deren Macht- und Militärlogik einbinden zu lassen. Gerade um
dieser Gefahr zu begegnen, braucht er den steten Halt und Einspruch des
religiös-prophetischen Pazifismus, den Volmer als fundamentalistisch,
"akstrakt-gesinnungsethisch" und "handlungsunfähig" abtut. Diese aus rot-grünen
Regierungskreisen versuchte völlige Aburteilung des prophetischen und vollständige
Vereinnahmung des politischen Pazifismus ist unannehmbar. Pazifismus ist
grundsätzlicher christlich, religiös oder humanistisch verortet, als dass er in der
Volmer'schen macht-opportunistischen Art definitorisch zerfleddert oder relativiert
werden könnte. Mag er die von ihm vertretene Politik friedenssichernd und -fördernd
nennen, aber das Recht, sie pazifistisch zu taufen, muss ihm abgesprochen
werden. Pazifismus und Antimilitarismus gehören heute zusammen.
II. Als Pazifisten die neuen Herausforderungen ernst nehmen
Der evangelische Sozialethiker Wolfgang Lienemann hat schon 1993 zum Schutz
vor "Gewalt, Not und Unfreiheit" für eine "UN-Streitmacht zur Durchsetzung des
Völkerrechts" bei gleichzeitiger Abrüstung der nationalen Armeen plädiert: "In
dieser Ordnung wären Soldaten ihrer Funktion nach von Polizisten nicht mehr zu
unterscheiden. Ich denke, ihre Legitimität würden auch Pazifisten anerkennen
können." Dies kann ich, wenn "Militär" und damit die Institution des Krieges als
politisches Mittel von nationalstaatlicher und auch blockbezogener Machtpolitik
wirklich aufgegeben wird. Wenn Erhard Eppler angesichts neuer Formen
"privatisierter Gewalt" im Prozess der Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols
oder überhaupt staatlicher Strukturen, sagt: "Der Pazifismus ist nicht tot, aber er
muss sich wandeln. Er muss zum Partner des Militärs werden" - so kann ich dem
so nicht zustimmen. Ich habe zwar erlebt, wie auf dem Balkan die Zusammenarbeit
problemlos im Bereich praktischer Hilfe lief, aber da handelte es sich faktisch nicht
mehr um Militär, sondern seiner Funktion nach um Polizei und technische
Hilfskräfte.
Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie unerklärte "gerecht(fertigt)e" Kriege
für die Menschenrechte geführt wurden, beschönigend "humanitäre Interventionen"
genannt. Der berechtigte Kampf gegen den "Terrorismus" - der noch allzu vage
definiert ist - darf künftig nicht weiter vermischt werden mit Kriegspolitik, die
ihrerseits wiederum machtpolitische Ziele hat. Daher ist dieser Kampf auch nur und
ausschließlich im Rahmen der UN legitimier- und führbar. Die Nato oder gar ein
oder mehrere hoch gerüstete Länder sind ungeeignet dazu und bauen neue,
weltweite Spannungen auf.
Gerade weil Krieg heute anders aussieht als früher und es keine klaren Fronten
mehr gibt, wenn der Krieg zumindest auf der einen Seite quasi privatisiert wird und
er sich nicht mehr auf ein klar definiertes Schlachtfeld begrenzen lässt, ist die
pazifistische Forderung von der "Abschaffung des Krieges als Institution" aktueller
denn je. Traditionelle Muster der Kriegsführung, auf die jetzt die Staaten wieder
verfallen, sind nicht mehr sinnvoll, ja gefährden den Weltfrieden mehr als alle
Terroranschläge. Man greift Staaten an, statt Banden und internationale Netzwerke
zu verfolgen. Dazu müssen juristische, polizeiliche und diplomatische neue Mittel
auf Weltebene - im Rahmen einer reformierten UN - entwickelt und angewandt
werden, die der Faktizität sich entwickelnder Weltinnenpolitik gerecht werden und
diese weiter befördern. Macht darf nicht länger Recht beugen, sondern muss sich
im Namen und Rahmen des Völkerrechts artikulieren, bewähren und begrenzen
lassen. "Nation-building" kann durch vorherige Bomben-Zerstörung ganzer
Landstriche und Länder nicht gerechtfertigt, sondern muss von unten aufgebaut
werden. Ein politischer Pazifismus, der Terrorakte und Rechtsbrüche mit
rechtlichen und polizeilichen Mitteln zu ahnden vorschlägt, ist höchst konstruktiv
und realistisch - dazu sind im Rahmen der UN in den letzten zehn Jahren enorme
Fortschritte erzielt worden. Allen Staaten und besonders den USA stünde es gut
an, die vielen entwickelten Vorschläge jetzt zu ratifizieren und sich vom
Unilateralismus der Macht zu verabschieden: vom Klimaprotokoll über die
Biowaffenkontrolle bis zum Internationalen Strafgerichtshof.
Dies geschähe zum Schutz der "Interessen der USA" wie sie die Studie "Global
Future" für Präsident Carter (1980) unter eben dieser Überschrift formulierte: "Der
Zusammenhang zwischen der nationalen Sicherheit der USA und den globalen
Problemen der Ressourcen, der Bevölkerung und der Umwelt betrifft vor allem die
politische Stabilität. Eine abwärts gerichtete Spirale von Armut und
Ressourcenverminderung und wachsende Unterschiede zwischen Reichen und
Armen könnten das Potential an Enttäuschung und Zorn derer, die bei der
Aufteilung des Wohlstandes benachteiligt sind, vergrößern und sie empfänglicher
für Ausbeutung durch andere und für die Anwendung von Gewalt machen."
So ist denn unsere Regierung zu fragen: Wo bleibt die wirklich "energische"
Förderung ziviler Konfliktbearbeitung und ziviler Friedensdienste, wo die Umrüstung
der Bundeswehr statt zu einer Interventionsarmee zu UN-Polizeikräften und der
Aufbau einer Blauhelmausbildung? Wo bleibt eine konsequente
Menschenrechtspolitik beispielsweise in der Türkei (Kurdistankonferenz), in der
Demokratischen Republik Kongo oder in Kolumbien?
Wo bleibt eine glaubwürdige und dringliche Initiative der EU für ein Zusammenleben
von Israel und Palästina? Wo bleibt der konsequente Rückbau der
Rüstungsexporte und die Verdoppelung der Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent des
Bruttosozialprodukts?
III. Alternativen aufzeigen, die wir als christlich motivierte Pazifisten
politisch wichtig finden
Ich nenne fünf Leitbilder:
-
das Leitbild des gewaltfreien Jesus, die Vision der "Pax Christi", des
jesuanischen Friedensstiftens durch radikales Verstehen und manchmal auch
Provozieren des "Gegners". Das derzeit oft abschätzig zitierte Hinhalten der
"anderen Wange" (Mt. 5,39) deuten wir neu: "Die Person, die die andere Backe
hinhält, sagt damit: Versuch es noch einmal! Dein erster Schlag hat sein
eigentliches Ziel verfehlt. Ich verweigere dir das Recht, mich zu demütigen." (W.
Wink) Solch gewaltfreier Widerstand ist nicht passiv, sondern eine sehr aktive,
erlernbare, und sogar taktisch und strategisch einsetzbare Haltung und Handlung.
Sie setzt aber eine spirituelle Vertiefung voraus, eine ständige innere Wachheit.
- das Leitbild des "gerechten Friedens", das sich der grundsätzlichen "vorrangigen
Option für Gewaltfreiheit" der Ökumenischen Versammlungen der Kirchen in der
DDR (1987/88) verdankt, basierend auf der tiefen Einsicht, dass Gewalt allzu leicht
nur Gewalt gebiert und in Form einer Spirale sehr schnell politisch unkontrollierbar
wird. Die christlichen Kirchen unseres Landes stützen jetzt dieses Leitbild, ohne
sich schon alle pazifistisch zu nennen. Sie lehnen erstmals seit Jahrhunderten den
"gerechten Krieg" in jeder Form ab und sehen auch die in allerschwersten Fällen
zugestandene Anwendung von Gewalt als "Ultima Ratio" nur noch als "Übel". Alle
Kriege der letzten Jahre für die Menschenrechte halten m. E. diesen Kriterien des
gerechten Friedens nicht stand.
- das Leitbild der zivilen Konfliktbearbeitung, des zivilen Friedensdienstes und des
"Schalomdiakonats". Pazifisten entwickelten dazu eine Vielfalt gewaltfreier
Aktionsformen von der Sozialen Verteidigung und der Mediation bis zu
internationalen Missionen in präventiver und auch konfliktvermittelnder Absicht. Der
amerikanische Ex-Präsident hat mit seinem "Carter-Institute" Vorbildliches in
dieser Hinsicht geleistet.
In der Tat haben wir in diesem Bereich in den letzten Jahren politisch relativ gut
kooperiert beim Aufbau eines Zivilen Friedensdienstes, der Alphabetisierung in
gewaltfreier Konfliktbearbeitung und besserer Vorbereitung zivilen Personals von
OSZE- und UN-Missionen.
- das Leitbild einer Kultur des Friedens und der Toleranz, ein dialogischpolitischer
Ansatz der Anerkennung unterschiedlicher Interessen und Positionen jenseits
eines simplen Gut-Böse-Schemas. Dieses Leitbild verweist auch auf die eigenen
negativen Anteile und wird dadurch konsens-, kompromiss- und versöhnungsfähig.
2001 bis 2010 haben die Kirchen eine "Dekade zur Überwindung von Gewalt" und
die UN eine solche für eine "Kultur des Friedens" ausgerufen! Auch Initiativen wie
"Weltethos" und "Erdcharta" dienen diesem Ziel; interreligiöser und interkultureller
Dialog sind Wege dahin.
- das Leitbild des Völkerrechts im Sinne von Kants "Ewigem Frieden", nämlich
einen weltweit koordinierten und kodifizierten juristischen Weg der Gewaltkontrolle
durch Entwicklung weiterer UN-Instrumente zur Bekämpfung und Bestrafung
internationaler Gewalttäter. Der nächste Schritt dazu ist nun die rasche
Ratifizierung des in Rom 1998 beschlossenen Internationalen Strafgerichtshofes -
ein Begriff, den man in Volmers Beitrag übrigens vergeblich sucht.
Der Beitrag erschien in der Frankfurter Rundschau vom 16. Januar 2002
Weitere Beiträge zur Pazifismus-Debatte
Zurück zur Seite "Pazifismus"
Zurück zur Homepage