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"Und nichts erfordert mehr Charakter..."

Vor 125 Jahren wurde der antimilitaristische Schriftsteller Kurt Tucholsky geboren

Von Kurt Pätzold *

Wie kann ein Angehöriger der vierten Generation der Nachgeborenen, falls ihn sein Deutschlehrer oder sein einschlägiges Lesebuch aus der Schulzeit nicht mit ihm bekannt gemacht haben, auf Kurt Tucholsky stoßen? Wenn er ein Berliner ist und sich in Stadtmitte auskennt, durch ein Straßenschild mit dessen Namen. Die Straße hat ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel und hieß vordem zuletzt Artilleriestraße. Die Umbenennung erfolgte im Jahre 1951, also in Frühzeiten der DDR, und der Tausch eines Namens, der eine Waffengattung bezeichnet, gegen den eines Antimilitaristen kann durchaus als programmatisch und als ein Ausweis jener gesehen werden, die da Namensgeber und Taufpaten waren.

In öffentlichen Räumen

Ähnliche Begegnungen sind auch im Berliner Norden denkbar. Dort hatte in dem im bundesrepublikanischen Sprachgebrauch unter der Bezeichnung Pankoff bekannten Stadtteil, gelegen im Zoffjetsektor, eine Schule den Namen Tucholskys er- und dann auch behalten. Die »Musikalische Grundschule« in Berlin-Moabit ist ebenfalls nach ihm benannt. Die Internetauftritte beider Einrichtungen lassen nicht erkennen, dass die Namensgebung für das Schulleben irgendeine Bedeutung haben würde. Doch täuscht der Eindruck. Als 2012 die vor dem Schulgebäude in Pankow befindliche Tucholsky-Büste offenkundig von Metallsammlern gestohlen wurde, engagierten sich Schüler dafür, am Orte andere Gedenkzeichen aufzurichten und sie dort zu belassen, bis ein Duplikat des gestohlenen verfügbar sei.

In Pankow gibt es auch eine Bibliothek, die nach Kurt Tucholsky benannt ist, die der Bezirk derzeit jedoch materiell nicht so stellt, dass sie sich hauptamtliches Personal leisten könnte. Sie wird von einem Verein ehrenamtlich betrieben. Was Geld für das Gedenken an Tucholsky anlangt, so war es seit vielen Haushaltsjahren auch in Moabit knapp oder nicht vorhanden. Das seit Jahrzehnten betriebene Vorhaben, in der Lübecker Straße im Geburtshaus des Schriftstellers, auf das dort eine Tafel mit seinen Lebensdaten aufmerksam macht, eine Gedenkstätte einzurichten, ist gescheitert. Nicht jedoch die Anbringung einer Tafel in Berlin-Charlottenburg, die an der Wand eines Gebäudes daran erinnert, dass in dem darin einst befindlichen Büro der Zeitschrift Weltbühne auch Tucholsky arbeitete. Dass es in Berlin für diesen seiner Söhne kein Denkmal gibt, etwa analog jenem, das in Berlin/DDR für Carl von Ossietzky errichtet wurde, lässt sich bedauern. Doch ist es auch irgendwie ehrlich, denn in einem Augenblick, da die Bundeswehr weltweit immer mehr »Verantwortung« übernimmt, würde es heuchlerisch wirken, einen Antimilitaristen, noch dazu dieses Formats, auf einen Sockel zu stellen – und sei der auch noch so niedrig.

Genug der Durchmusterung der Erinnerungen an Tucholsky in öffentlichen Räumen, wenn noch gesagt ist, dass es Straßen seines Namens auch in Frankfurt am Main, Nürnberg und Hohen Neuendorf gibt. Diese Aufzählung ist unvollständig, doch ist die Summe gewiss erheblich geringer als die der in deutschen Ortschaften anzutreffenden Straßen, die nach Paul von Hindenburg benannt wurden und blieben (siehe jW-Schwerpunkt vom 31.12.2014).

Der Antimilitarist

Zwischen den beiden Männern besteht übrigens eine wenn auch entfernte, so doch eigenartige Beziehung. Der eine war ein paar Jahre der höchste und befehlsgewaltige Vorgesetzte des anderen. Die Rede ist von den Zeiten des Weltkrieges. Der ältere, schon deaktiviert, wurde bald nach dem Beginn des Zweifrontenkrieges wieder ins Kaiserheer gerufen. Der jüngere, 24jährig, war am Ende seines Jurastudiums angelangt, das er an den Universitäten von Berlin, Jena und Genf absolviert hatte. Bis ins Jahr 1915 und zur Promotion zum Doktor der Rechtswissenschaften wurde ihm noch Zeit gelassen, dann rief auch ihn Seine Majestät zu den Waffen. So wurde Hindenburg, damals schon der Held von Tannenberg, als ihn Wilhelm II. zum Chef der Obersten Heeresleitung bestimmte, auch Tucholskys Vorgesetzter. Der wurde darob nicht von Stolz oder Eifer gepackt.

Tucholsky zog, wie er mehr als sieben Jahre nach Kriegsende schrieb – da war sein einstiger Oberbefehlshaber gerade Staatsoberhaupt der Republik geworden –, in den Krieg mit dem festen Vorsatz, weder erschossen zu werden noch selbst zu schießen. Beides gelang ihm. Und dass er bei Kriegsende bis zum Dienstrang eines Vizefeldwebels gelangt war, rührte nicht von einem Karrierewillen her, sondern von der Hoffnung, auf diese Weise manchen Vorteil zu gewinnen. Auch das gelang ihm. Jedenfalls kam er um die vielen tödlichen Situationen herum, den Graben- und Stellungskrieg im Westen, die Großoffensiven in Russland und auf dem Balkan. Tucholsky wurde in den dreieinhalb Jahren seiner Kriegsteilnahme als Armierungssoldat, Kompanieschreiber, Redakteur einer Feldzeitung und schließlich als Feldpolizeikommissar verwendet. Nach diesen Jahren, verbracht in Polen, Lettland und schließlich in Rumänien, kehrte im Herbst 1918 ein Antimilitarist in die Heimat zurück. Sein späteres Fazit lautete: »Ich habe mich dreieinhalb Jahre im Kriege gedrückt, wo ich nur konnte.« Das wurde zu Zeiten bekannt, da der »Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten«, der »Reichsbund jüdischer Frontsoldaten« und verschiedene Offiziersbünde der »Helden« des Weltkrieges gedachten, in Kolonnen, uniformiert, mit Fahnen ausgerüstet und ordengeschmückt durch die Städte marschierten, die Kriegsteilnahme als Verdienst galt und in Ostpreußen das Monstrum des Tannenberg-Denkmals errichtet wurde. Zu alledem lag Tucholsky quer. Dagegen schrieb er an, scharfsinnig, unerschrocken, ausdauernd und, da er schon vor dem Kriege literarische Bedeutung und Aufmerksamkeit gewonnen hatte, nicht ohne Einfluss. Und so wurde er einer der meistgehassten Schriftsteller im eigenen Lande.

Von jener Zeit, in der Hunderttausenden deutscher – und nicht nur deutscher – Männer Jahre ihres Lebens gestohlen wurden, die sie bei Weib und Kindern oder alten Eltern, bei sinnvoller Arbeit oder Beschäftigung hätten verbringen können, trennt uns eben ein volles Jahrhundert. In seinem Verlauf ist, nimmt man das aus diesem Anlass Geschriebene und Gesagte zum Maßstab, den Deutschen eine Anzahl von Wörtern und Begriffen verlorengegangen, die Tucholsky geläufig waren und uns in seinen Schriften und Gedichten begegnen. Diesen Verlust nur eine Verarmung der Sprache zu nennen, scheint nicht hinreichend. Wo eigentlich war in diesem Jahr 2014 noch von »Kriegsgewinnern« die Rede, die Tucholsky in dem 1922 in der Weltbühne veröffentlichten Gedicht »Drei Minuten Gehör« erwähnte und die er im 1926 in der republikanischen und pazifistischen Zeitung Das andere Deutschland erschienenen Poem »Der Graben« mit den Namen »Junker«, »Staatswahn« und »Fabrikantenneid« belegte? Es gibt keine Lügen, auf die er häufiger zurückgekommen wäre als auf die von der Vaterlandsverteidigung und vom Heldentod. Wiewohl auch ihm das beschönigende Wort Gefallene gelegentlich noch in die Feder kam, gehörte er zu jenen, die dem die Wahrheit vom elenden Sterben auf Schlachtfeldern entlarvend entgegensetzten.

Jene unter dem Titel »Jemand besucht etwas mit seinem Kind« aufgeschriebene, 1925 ebenfalls in der Weltbühne veröffentlichte Geschichte von jenem französischen Vater, der mit seinem Sohn eine Gegend besucht, in der er einst im Feuer des Krieges sich vis-à-vis der deutschen Linien befand, gehört in jedes deutsche und französische Schullesebuch. Stockend nur erzählt er seinem Jungen die Geschichte vom Tod seines Kameraden und Freundes Blanchard, der zwischen den Frontlinien tagelang nach seiner Mutter und seinen Freunden schrie, die ihm nicht einmal durch eine eigene Kugel das Sterben verkürzen konnten.

Wie der Vater in dieser Erzählung seinem Sohn verdeutlichen will, was das ist: der Krieg, so hat Tucholsky sich in vielen seiner Texte wieder und wieder an die Heranwachsenden gewandt. Sie waren – obgleich er auch Männer, die Krieger von gestern, Frauen, die Witwen von heute ansprach, beispielsweise in »Drei Minuten Gehör« – seine bevorzugten Adressaten. Das besaß mindestens einen doppelten Grund. Er wusste diese Mädchen und Jungen einer Erziehung durch Lehrer ausgesetzt, von denen sie großenteils nicht auf das Leben, sondern für das Opfern und Sterben vorbereitet wurden. Er wusste in ihren Schultaschen und Händen Bücher, die ihnen alles vorenthielten, was sie zu ihrem Nutzen aus diesem jüngsten Kriege lernen konnten.

In Tucholskys Erzählung »Die Verteidigung des Vaterlandes« (Weltbühne, 1921) las sich die Jugenderziehung, literarisch »verlegt« in den erfundenen Katerstaat Angora, so: »Und in den Schulen (...) lehrt man die Lehre von der Herrlichkeit des Krieges. Man lehrt: Du sollst nicht töten! und man lehrt: Du musst töten! – und weil niemand in der Geschichtsstunde an die Religion denkt, so hat beides in den jugendlichen Gehirnen sehr wohl Platz, um so mehr, als ja das staatliche Töten mit vielen herrlichen, leuchtenden, bunten Farben verbunden ist, mit Musik und Ehren, mit Feiern und Orden und mit sehr viel Kaisern, die man ganz aus der Nähe ansehen darf.«

Dagegen suchte Tucholsky Menschen zu wappnen. Er warnte und ermutigte sie, wie jener französische Vater, der, den Blick auf das einstige Schlachtfeld gerichtet, seinem Sohn sagt: »Nein, Nein! Das ist nur in deinen Lesebüchern so. Du musst nicht glauben, was in deinen Geschichtsbüchern steht – es ist alles nicht wahr. Dies hier – das ist wahr, Junge ...«

Es lohnt sich, einen Moment darüber nachzudenken, warum Tucholsky diesen Ausflug in die Geschichte nicht von einem deutschen Vater und dessen Sohn und also an die andere Seite der Front unternehmen lässt. Gewiss nicht, weil er meinte, der »Erbfeind« hätte einen besonderen und stärkeren Grund gehabt, über den Krieg nachzudenken. Nein, er war vielmehr der Auffassung, dass auf beiden Seiten der einstigen Front das gleiche Pensum an Lehren zu bewältigen sei und dies am besten geschehe, wenn man sich über den »Graben« die Bruderhand reichte.

Leicht hat sich Tucholsky diese Aufgabe nicht vorgestellt und eindringlich vor Illusionen über die Mittel gewarnt, die zum Frieden führen und ihn dauerhaft sichern würden. Er besaß eine klare Vorstellung von jenen Kräften und deren Einfluss, die nach wie vor den Krieg für edel hielten und »das Sterben der anderen loben«. Und er wusste, wie schwer es war, Menschen aus dem Zustand der Bequemlichkeit herauszureißen und zur Verfechtung ihrer eigenen Interessen zu bewegen. Es ließe sich bis auf den heutigen Tag und noch auf längere Sicht der Satz an Wände unserer Schulräume schreiben, der aus der Erzählung »Die Verteidigung des Vaterlandes« herrührt: »Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.« Das sei nicht nur gefährlich, fährt der Text fort: »Es ist ja so schön, im großen Strom der Masse mitzuschwimmen (...)« Und dann: »Es ist auch bekömmlicher, sich der Macht zu unterwerfen (...)«

Es müsse etwas geschehen, meinte Tucholsky, was bis dahin nie unternommen worden war, etwas, das vor dem Weltkrieg, der damals noch nicht der Erste genannt wurde, von der Elterngeneration unterlassen wurde. Denn, wie es im Text »Die brennende Lampe« (Weltbühne, 1931) heißt: »Man hat ja noch niemals versucht, den Krieg ernsthaft zu bekämpfen.« Folglich fehle es auch an Erfahrungen bei der Abwehr der Kriegsgefahr. »Man weiß also gar nicht, wie eine Generation aussähe, die in der Luft eines gesunden und kampfesfreudigen, aber kriegablehnenden Pazifismus aufgewachsen ist.«

Er wollte nicht von der Hoffnung lassen, dass eines Tages der Staat seine Bürger nicht länger würde herum- und auf Schlachtfelder kommandieren können. Das werde freilich dauern, »bis die einzelnen, die unter ihm seufzen, sich hochrichten und klar und bestimmt sagen: Wir wollen nicht mehr.« (»Die Verteidigung des Vaterlandes«) Sie, die Jungen, sollten den Einberufungsordern nicht mehr folgen. »Keine Wehrpflicht! Keine Soldaten! (...) Wenn ihr wollt, seid ihr alle frei! (...) Wenn ihr nur wollt: bei euch steht der Sieg! Nie wieder Krieg!« (»Drei Minuten Gehör«)

Von diesem Tucholsky hat Erich Kästner geschrieben, sein Verdienst rühmend und zugleich sein Scheitern bezeugend, er habe mit einer Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollen. Das viel zitierte Bild ist aber falsch. So naiv war Tucholsky nicht. Er hat freilich geglaubt, und wie hätte seine Unermüdlichkeit auf diesem Felde sich sonst nähren und rechtfertigen lassen, Menschen mobilisieren zu können, die dann in ihrer großen Zahl nicht mehr oder weniger bewirken müssten als eine zweite Revolution, nachdem die von 1918 ihre Ziele verfehlt hatte.

Der Antifaschist

Welche Position Tucholsky gegenüber der Partei mit dem Hakenkreuz einnahm, ging allein schon aus seiner Haltung zu Krieg und Frieden hervor. Ein »Führer«, der das Buch »Mein Kampf« und darin geschrieben hatte, das kaiserliche Führungspersonal sei zu friedfertig gewesen, habe den Krieg zu spät begonnen, während das deutsche Volk ihn geradezu begehrt habe, konnte dem Pazifisten nur ekelhaft sein. Dazu die abgrundtiefe Verlogenheit der Braunhemden. Niemand konnte den Schwindel spitzer und kürzer abfertigen als er. Ein Beispiel. In der Geschichte »Herr Wendriner steht unter der Diktatur« (Weltbühne, 1930) trifft der Bürger Wendriner in der Kinologe seinesgleichen und sagt, dass er mit diesem Hitler ganz zufrieden sei. Seine Begründung – berlinisch. »Er geht eim nich ann Safe.« Sechs Worte, aber es ist klargestellt: Sozialismus und Revolution sind Reklame- und Etikettenschwindel, dieser »Revolutionär« wird die Eigentums- und damit im wesentlichen auch die Machtverhältnisse unangetastet lassen.

Seine Wirkung erzielte Tucholsky nicht nur durch die Tatsache, dass er die Hitlerleute demaskierte, sondern auch dadurch, wie er das tat. Er machte nicht nur deren politischen, sondern auch deren geistigen Zuschnitt deutlich. Da sprach aus nahezu jedem Satz, ja jeder Nebenbemerkung: Ihr geistiges Lumpenpack seid es im Grunde nicht wert, dass man sich mit euch auch nur einen Augenblick abgibt. Hitler, »der Führer«, in einem »Schulaufsatz« neben Goethe gestellt (Weltbühne, 1932) – was für ein Einfall! Und dazu einleitend die, wenn auch nicht ausgemalte Vorstellung, wie es denn sein würde, wenn nicht Goethe, sondern Hitler tot wäre. Diesen Umgang konnten sie am wenigsten vertragen, und es konnte als sicher gelten, dass ein einziger dieser Aufsätze genügte, Tucholsky einen Stammplatz in einem Konzentrationslager zu sichern, wenn sie ihn denn hätten ergreifen können.

Auf der gleichen Ebene lag die Geschichte, wie Tucholskys Anton, »Ein älterer, aber leicht besoffener Herr« (Weltbühne, 1930), von einer feucht-fröhlichen Tour durch die Wahlversammlungslokale zurückkehrt und von einem Besuch bei einer NSDAP-Kundgebung erzählt, dessen Rede ins Schriftliche so übertragen ist: Er war bei den »Nazzenahlsosjalisten«. In diesen Texten fehlte nichts. Nicht der Vergleich von Hitlers Bart mit dem Chaplins und nicht der Spott auf die »Kampflieder« der Sturmabteilungen. Waren aber die, die da marschierten, nicht zu sehr auf die leichte Schulter genommen worden? Was da auch immer an Hohn und Spott ausgegossen wurde, es ging stets um die Demaskierung der Volksbetrüger, und weder der hasserfüllte Antisemitismus noch der brutal zuschlagende Antikommunismus fehlten, und auch nicht die Ankündigung, dass Goethe nach deren Sieg »abgeschafft« werden würde, ein Bild dafür, was eines Tages aus Deutschlands Kultur werden könnte.

Tucholsky ist von Schriftstellern, Germanisten, anderen Zeitgenossen und Nachkommenden auf ganz verschiedene Weise politisch eingeordnet worden. Hier eine unvollständige Aufzählung: ein »Vorkämpfer für die Demokratie«, ein »linker Demokrat«, mitunter mit der Heraushebung »standhafter linker Demokrat«, ein »Präzeptor der Linken«, »Anwalt der Volksfront«, auch »politischer Pessimist«, »Linksintellektueller«, »unabhängiger Linker«, »linker Sozialist« und »Alliierter der kommunistischen Arbeiter«.

Merkwürdig, dass eine Kennzeichnung nicht auftaucht: Nirgendwo ist Tucholsky Antifaschist genannt worden. Indes, so merkwürdig wiederum auch nicht. Denn was haben in der Geschichte eines Staates, in dem es nach offizieller (beispielsweise Schulbuch-) Version keinen Faschismus gab, eigentlich Antifaschisten zu tun gehabt? Haben sie gegen ein Phantom gekämpft? Vermochten sie nicht zu erkennen, wer ihre Gegner waren, an denen sie ihre Kräfte verbrauchten und denen sie schließlich unterlagen? Was Tucholsky anlangt, muss darüber Streit nicht entbrennen. Im Jahr seines Todes, am 15. April 1935, bekannte er aus dem fernen Schweden in einem Brief: »Ich bin Antifaschist.«

In öffentlichen Büchereien

Weniger zwiespältig als der Befund beim Blick in öffentliche Räume fällt die Inspektion von Tucholskys literarischem Erbe, das in Berliner Bibliotheken zu finden ist, aus. Wer den Katalog der Staatsbibliothek nach dem Stichwort »Tucholsky« fragt, dem werden mehr als 500 Druckerzeugnisse genannt. Im ganzen aber wird deutlich, dass bald nach Kriegsende 1945 im besetzten, verarmten und ruinierten Deutschland begonnen wurde, Bücher zu drucken, die freilich mehr Heften ähnelten. Zeitig besannen sich Verleger dabei auch auf Schriften Tucholskys. Die Geschichte von den Verliebten in Rheinsberg und von Gripsholm waren, soweit der Papiervorrat reichte, wieder die Renner, neudeutsch: Bestseller jener Nachkriegsjahre. Sie lasen sich nun als Rückblick in friedliche und normale Zeiten, deren Wiederkehr noch in unbestimmter Ferne lag, mit dem man sich aber in sie schon einmal hineinträumen konnte. Während Tucholskys eigene Schriften in deutschen Landen nach Kriegsende vergleichsweise rasch wieder bekannt gemacht wurden, dauerte es rund gerechnet ein Vierteljahrhundert, bis Veröffentlichungen auf den Büchermarkt gelangten, die von seinem Leben und Arbeiten erzählten und auf Forschungen beruhten.

Wieder und wieder hat die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft Experten zu Tagungen gerufen, die sich speziellen Fragestellungen zu Leben und Schaffen des Schriftstellers widmeten. So sind Publikationen zu den Themen wie Tucholsky und die Sprache, die Medien, die Justiz, der Staat, das Judentum und weitere entstanden. Der Mann könnte den Deutschen 125 Jahre nach seiner Geburt und 80 Jahre nach seinem Tode noch immer ein Wegbegleiter und Ratgeber sein. Nicht nur mit denjenigen seiner Schriften, auf die hier – einseitig – der Blick gerichtet wurde.

* Aus: junge Welt, Freitag, 9. Januar 2015


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