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Ein bisschen Krieg

Wolfgang Gehrcke (PDS) antwortet auf die Pazifismus-Thesen von Ludger Volmer (Bündnis 90/Grüne)

Pazifismus könne militärische Gewalt als letztes Mittel der Politik nicht leugnen, schrieb Ludger Volmer, Mitglied der Grünen und Staatsminister im Auswärtigen Amt , in der FR vom 7. Januar. Deutschland bleibe nichts anderes übrig, als den international erwarteten eigenen militärischen Beitrag zur Lösung regionaler und globaler Konflikte zu entrichten. Diese Position hat Widerspruch provoziert: Wir dokumentieren Entgegnungen von Wolfgang Gehrcke, dem außenpolitischen Sprecher der PDS-Bundestagsfraktion, und von Reinhard J. Voß, Generalsekretär der deutschen Sektion der katholischen Friedensbewegung Pax Christi.

Der Rüstungsexport boomt. Aufrüstung und ein bisschen Krieg - das ist, was unter Rot-Grün vom Pazifismus bleibt. Statt geradeheraus zu sagen, der Pazifismus hat ausgedient, wertet Ludger Volmer in der FR vom 7. Januar 2002 den Begriff um und schreibt: "Pazifismus heute kann militärische Gewalt als Ultima Ratio, als letztes Mittel, nicht leugnen . . ." Wenn Pazifismus zu einem bisschen Krieg wird, wenn Begriffe einen anderen bis entgegengesetzten Inhalt bekommen, dann sind Worte zum Notnagel einer Politik geworden, die sich verloren hat.

Die Grünen haben ihre Grundwerte so gründlich ramponiert, dass wenigstens die Begriffe gerettet werden müssen, damit ihre Partei nicht unkenntlich wird, überflüssig. Deshalb konstruiert Ludger Volmer, aus Vergangenem dialektisch geschult, einen "neuen politischen Pazifismus", in dem es gelte, "Verantwortung und Risiken mitzutragen". Der dürfe "nicht die Realitäten verdrängen".

Schon Bertha von Suttner, Carl von Ossietzky oder Helene Stöcker mussten sich anhören, dass ihre Politik untauglich sei für die Realität, als Idealisten wurden Albert Schweitzer, Albert Einstein, Bertrand Russell, Martin Luther King, Mahatma Gandhi und die ungezählten Pazifistinnen und Pazifisten der vergangenen 100 Jahre abgestempelt. In dieser Hinsicht sagt Ludger Volmer nichts Neues. Er kommt sogar der These von Heiner Geißler bedenklich nah, der auf dem Höhepunkt der Bewegung gegen den Nato-Doppelbeschluss behauptete, der Pazifismus habe Auschwitz erst möglich gemacht, weil er die Verteidigungsbereitschaft der westlichen Demokratien gegenüber Hitler geschwächt habe. Der CDU-Politiker Geißler wollte damals die Friedensbewegung insgesamt diffamieren; er erntete übrigens heftigsten Widerspruch.

Anders der Grünen-Politiker Volmer heute. Er will die Traditionen der Friedensbewegung für die Politik der Bundesregierung vereinnahmen. In seiner Argumentation wird der Jugoslawien-Krieg zur Konsequenz aus "Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg". Dem "neuen politischen Pazifismus", dem Pazifismus mit ein bisschen Krieg, entspricht der "humanitäre Krieg", auch so eine Erfindung der rot-grünen Bundesregierung. Im "humanitären Krieg" ist der Feind nicht ein anderes Volk, sondern einzelne Machthaber, Milosevic, die Taliban, bin Laden . . . Im "humanitären Krieg" geht es angeblich nicht um Macht, Einflusssphären, Reichtum oder Rohstoffe, sondern um - Menschlichkeit. Das war der Fall in Kosovo, als deutsche Soldaten für Auschwitz sühnten, das ist so in Afghanistan, wo sich, laut Bundesregierung, "Bündnistreue", "Bündnisfähigkeit" und "uneingeschränkte Solidarität" zu erweisen haben.

Seitens Rot-Grün erhält jede neuere deutsche Kriegsbeteiligung die höhere Weihe eines Handelns bar jeglichen Eigeninteresses, Militäreinsätze sind altruistisch. So hat die jetzige Bundesregierung Kriege wieder führbar gemacht. Die Konservativen hätten damit mehr Schwierigkeiten gehabt, ihnen mangelt es an Glaubwürdigkeit auf dem Gebiet der Menschenrechte, und Kriege als Fortsetzung der Friedensbewegung mit anderen Mitteln hätte den erklärten Gegnern des Pazifismus ohnehin keiner abgenommen.

Unter Rot-Grün hingegen wird deutsche Kriegsbeteiligung zu einer Sache der Moral, und über Interessen wird nicht mehr geredet. Das entmündigt den Bürger, das schadet der Demokratie. Sie wird zur "wehrhaften Demokratie", die dem Bürger misstraut, die den Souverän zum verdächtigen Subjekt macht.

Einst war die "wehrhafte Demokratie" die konservative Alternative zu Willy Brandts "mehr Demokratie wagen". Bis der damalige Kanzler dem Zwischenrufer Rainer Barzel in einer Bundestagsdebatte entgegnete: "Sie brauchen uns nicht zum Jagen zu tragen" - und die Berufsverbote initiierte. Heute hat die "wehrhafte Demokratie" erneut das Schicksal der freundlichen Übernahme durch Rot-Grün ereilt, die Konservativen sind dabei, die Plätze weiter rechts zu besetzen. Die Mitte der Gesellschaft gerät aus dem Lot. Auch das ist Folge deutscher Kriegsbeteiligung.

Unter realistischer Außenpolitik versteht Rot-Grün etwas, was sich auf eigene Machtambitionen gründet, Bündnisverpflichtungen berücksichtigt oder Koalitionszwängen unterliegt. Das greift aber viel zu kurz. Außenpolitik muss vom Zustand der Welt ausgehen. Darin liegt ihre Radikalität, Realität ohnehin. Die Büchse der Pandora ist weit offen nach Ende der Blockkonfrontation. Der Nord-Süd-Konflikt ist ungelöst, die Kluft zwischen Arm und Reich tief. Massenvernichtungswaffen bedrohen den Globus, Bürgerkriege, Zerfall von Staaten und Staatlichkeit, ökologische Zeitbomben, Seuchen, Hunger, Armut.

Interessenkonflikte entzünden sich an den Fragen, wer die endlichen Naturressourcen nutzen kann, wer das Wasser, die weltweite Kommunikation, wer Zugang zum Welthandel hat. Der globale Terror ist hinzugekommen, seine Netzwerke sind älter. Diese Probleme hat der Neoliberalismus, der beansprucht, die moderne Antwort auf den Sozialismus zu sein, nicht gelöst, sondern verschärft. Interessanterweise gab es in Europa in den 90er Jahren andere politische Antworten. Sie gingen in Richtung von mehr Sozialstaatlichkeit, eine mehr auf Ausgleich bedachte Verteilung von Reichtung und Macht, Auflösung der Militärblöcke, Abrüstung statt Umrüstung. Doch Europa ist dabei, seinen eigenen Weg zu verlassen, der den Frieden sicherer gemacht und die Welt stabilisiert hätten. Die Auseinandersetzung um konkrete, realistische Alternativen spart Ludger Volmer aus und vertritt stattdessen mit Joseph Fischer, moderne Außenpolitik sei Weltinnenpolitik.

Für eine Weltinnenpolitik scheint zu sprechen, dass in weiten Teilen ein Machtvakuum entsteht, weil die klassischen Ordnungsmächte, die Staaten, zerfallen oder staatliche Macht erodiert. Das ist der Fall in Afrika, Asien, Lateinamerika, im Nahen und Mittleren Osten. Viele dieser Staaten waren willkürliche Produkte der Kolonialmächte. Weitere Zonen hoher Unsicherheit hat der Zusammenbruch des Ostblocks hinterlassen, so auf dem Balkan, in der kaukasisch-kaspischen Region, in Zentralsien. Die Auflösung von Staatlichkeit bei geringer Bindewirkung internationaler Kooperation setzt zusätzliche Gefährungspotenziale frei.

Die fängt die vermeintliche Weltinnenpolitik nicht auf; im Gegenteil. Sie spielt mit der Souveränität von Staaten, täuscht weltweite gemeinsame Rechts- und Wertevorstellungen vor. Statt internationale Arbeitsteilung und Kooperation zu fördern, fördert sie den Anspruch auf weltweite Intervention und verwischt dabei die Grenzen zwischen Militäraktionen und Polizeieinsätzen.

Fischer und Volmer müssen sich fragen lassen, wo und wie sie eine Weltregierung ansiedeln und wer sie demokratisch legitimiert hat. Die Faktische Weltregierung von heute sind nicht die UN, sondern die G 8, der durch nichts anderes als durch wirtschaftliche Macht legitimierte Zusammenschluß der großen Industrienationen. In dieser Champions-League der Welt will Deutschland als relativ kleine Macht ganz groß sein. Ist das das Ziel rot-grüner Weltinnenpolitik? Sicherer könnte die Welt werden durch Stärkung und Reform der Vereinten Nationen, durch Internationalismus statt Interventionismus.

Faktoren der Stabilisierung könnten regionale Ordnungsmächte und -pakte sein wie die OSZE, EU, die Organisationen Amerikanischer und Afrikanischer Staaten, der Asean-Pakt. Über eine Voraussetzung einer solchen Politik muss man sich völlig im Klaren sein: Sie braucht die Bereitschaft abzugeben, zu teilen, auf Machtzuwachs zu verzichten. Sie braucht eine Glaubwürdigkeit. Die fehlt Rot-Grün. Ein Beispiel: Deutschland traut seinem Nato-Partner Türkei so wenig, dass es nicht bereit ist, ihm voraussetzungslos Waffen zu verkaufen. Zu Recht. Gleichzeitig ist die Regierung bereit, deutsche Soldaten der Schutztruppe für Afghanistan unter türkisches Kommando zu stellen. Ein anderes Beispiel: Warum muss Deutschland gerade heute einen ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat beanspruchen, wo doch Europa deutlich über-, Afrika, Lateinamerika und Asien hingegen unterrepräsentiert sind? Und mehr: Warum darf Russland nicht weiter wegen Tschetschenien kritisiert werden, wie es Ludger Volmer meint? Wann wird endlich Abschied davon genommen, dass ein Feind meines Feindes mein Verbündeter zu sein hat? Alle Gewächse des modernen Terrorismus waren Verbündete der USA. Die Anti-Terror-Koalition hat für kurze Zeit Feuer und Wasser zusammengebracht. Eine tragfähige Perspektive für internationale Sicherheit ist sie nicht.

Die Anti-Terror-Koalition ist kein Ausdruck für einen Multilateralismus der USA. Die Weltmacht Nummer eins entscheidet allein und entsprechend ihrer Interessen. Die uneingeschränkt solidarische Bundesregierung, noch nicht einmal die Nato, hat keinen Einfluss auf die Kriegsführung, Kriegsziele, auf die eingesetzten Waffen. Ob nach Afghanistan Somalia oder Irak dran sind, welche Rolle dort deutsche Soldaten spielen werden - all das liegt allein in den Händen Washingtons.

Die UN werden dann und insofern billigend in Kauf genommen, wenn sie beschließen, was man erwartet. Sie werden in die Rolle gebracht, die Scherben zusammenzufegen, die andere zerbrochen haben.

An diesen Wirkungen ist die neue deutsche Außenpolitik beteiligt. Die Gründe dafür nannte Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung vom 11. Oktober 2001, als er ausdrücklich betonte, die Etappe deutscher Nachkriegsgeschichte, als man von Deutschland in Kriegen nur "sekundäre Hilfsleistungen" erwartete, also Geld und Infrastruktur, sei "unwiderruflich vorbei". Jetzt hätten die Deutschen die Pflicht, sich direkt an militärischen Aktionen zu beteiligen. Wer, wie der Kanzler oder Ludger Volmer, meint, um seiner Großmachtrolle willen auch Krieg führen zu müssen, kann dies derzeit nur an der Seite der USA. Dabei wird die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik gefährdet.

Wenn in Europa die Großen gleicher sein wollen als die Kleinen, hat die Gemeinschaft schon verloren. Dieser Drang, bei den Großen am Tisch zu sitzen, hat auch etwas Tragisches. Deutschland ist immer zu spät gekommen. Wenigstens dieses Mal soll es von Anfang an die neue Weltordnung mitbauen. Die Angst vor dem Zuspätkommen verhindert, dass Deutschland eine andere große Rolle spielt: die des ehrlichen Maklers.

Als ehrlicher Makler könnte der Pazifismus wieder eigene Gestaltungsräume füllen. Darum bemühen wir Sozialisten uns. Wir haben Strategien neu bestimmt. Wir wollen soziale Differenzen nicht mehr zuspitzen, sondern ausgleichen. Unser Ziel ist nicht mehr die Instabilität, sondern Stabilität für ökologische, ökonomische und soziale Reformen. Dafür stellt nicht der Staat ein Hindernis dar, Rechtsstaatlichkeit wird vielmehr zur Voraussetzung für internationale Kooperation, für regionale Sicherheit und Abrüstung. Sozialisten engagieren sich für Armutsbekämpfung, ökologischen Umbau, ökonomische Umverteilung, gewaltfreien Interessenausgleich, Stärkung des internationalen Rechts. Krieg gehört für uns nicht zu den Mitteln der Politik. Die Grüne Antwort ist anders. Sie heißt: Ein bisschen Krieg - kein bisschen Pazifismus.

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