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Krieg auch ohne Staat

Wolfram Beyers Buch über Pazifismus und Antimilitarismus

Von Gerd Bedszent *

Der Aussage »Deutschland führt heute Krieg« im vom Stuttgarter Schmetterling Verlag herausgegebenen Band Wolfram Beyers »Pazifismus und Antimilitarismus« wird nicht einmal mehr von konservativen Politikern widersprochen. Dem Autor, Mitglied im Vorstand der »War Resisters’ International« (WRI) und Redakteur der Zeitschrift Antimilitarismus-Information von 1971 bis 2003, kann uneingeschränkt zugestimmt werden, wenn er sich entschieden gegen pazifistisch verbrämten Bellizismus verwahrt, wie er spätestens seit dem Jugoslawien-Krieg von 1999 z. B. von Grünen- und SPD-Politikern vertreten wird. Beyer zitiert als besonders üble Beispiele den Sozialdemokraten Peter Struck, der 2004 die Bundeswehr als »größte Friedensbewegung Deutschlands« bezeichnete, und Joseph Fischer, der als deutscher Außenminister einen Angriffskrieg als »humanitäre Intervention« kaschierte. Angesichts solcher Begriffsverwirrung ist Beyers Arbeit zu den Wurzeln der Antikriegsbewegung nützlich. Der Autor beschränkt sich allerdings weitgehend auf den deutschsprachigen Raum.

Ökonomische Ursachen

Beyer unterscheidet zwischen Pazifismus und Antimilitarismus. Ersteren charakterisiert er zutreffend als ursprünglich aus der bürgerlichen Friedensbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervorgegangen, die an Immanuel Kant (1724–1804) und dessen Schrift »Zum ewigen Frieden« anknüpfte. Teile der pazifistischen Bewegung hätten sich später radikalisiert und dem Antimilitarismus angenähert.

Dessen Wurzeln sieht Beyer bei anarchistischen Theoretikern des 19. Jahrhunderts. Ihre radikale Ablehnung staatlicher Institutionen habe das Militär und insbesondere das stehende Heer eingeschlossen. Erstmals verwendet habe den Begriff »Antimilitarismus« der französische Ökonom Pierre Joseph Proudhon (1809-1865).

Sozialistischer und kommunistischer Antimilitarismus kommen bei Beyer kaum vor. Zu den wenigen Ausnahmen zählt die positiv bewertete »Junius«-Broschüre Rosa Luxemburgs zur »Krise der Sozialdemokratie« aus dem Jahr 1916. Karl Liebknecht, Symbolfigur der Antikriegsbewegung, die 1918 das Kaiserreich stürzte und das Völkergemetzel beendete, wird hingegen heftig kritisiert, weil er in seinem Werk »Militarismus und Antimilitarismus« 1907 den Kapitalismus als Haupt¬ursache für Kriege ausmachte und damit anarchistischen Theoretikern widersprach. Ökonomische Ursachen für Militarismus und Krieg spielen für Beyer offenbar eine geringe Rolle, er nennt lediglich die Rüstungsindustrie als Kriegsprofiteur. Der Autor zitiert den deutschen Anarchosyndikalisten Rudolf Rocker (1873–1958), der »ethische Empfindungen« als Kriegsursache ausmacht.

Beyer wirft der sozialistischen Bewegung mehrmals vor, das Militär nicht abschaffen, sondern nur reformieren zu wollen, obwohl er an anderer Stelle die auch von Marxisten vertretene Position vom künftigen Absterben des Staates in einer klassenlosen Gesellschaft wiedergibt. Dem angeblich autoritären und gewaltbereiten Sozialismus stellt er einen friedlichen und gewaltfreien, weil antistaatlichen Anarchismus gegenüber. Da die bewaffneten Kämpfe der von Anarchisten geführten Bauernheere und Volksmilizen z. B. in der mexikanischen Revolution von 1910 bis 1920, der russischen Revolution von 1917 und im spanischen Krieg von 1936 bis 1939 schwerlich in dieses Bild passen, werden sie wohl nicht erwähnt.

Es gibt weitere ärgerliche Lücken. Eine Darstellung der deutschen Friedensbewegung nach 1945 sucht man vergebens, nur einzelne Informationen sind im Text verstreut. Gänzlich unterschlagen werden vom Autor Antikriegsaktionen innerhalb von Streitkräften. Immerhin aber haben Soldatenmeutereien und Hungerrevolten wesentlich zum Ende des Ersten Weltkrieges beigetragen. Der US-Rückzug aus Vietnam war nicht nur der militärischen Gegenwehr, sondern auch der zunehmenden Zersetzung der Truppen geschuldet.

Praktisch widerlegt

Das in den letzten 20 Jahren verstärkt auftretende Phänomen der »Entstaatlichungskriege« wird ebenfalls nicht thematisiert. In immer mehr wirtschaftlich schwachen Regionen der Welt bricht der Staat zusammen oder wird auf eine funktionslose Hülle reduziert. Friedliche Zeiten treten damit jedoch nicht ein, eher das Gegenteil: Internationale Konzerne nutzen die Situation aus, um sich mit Hilfe von Warlords, Ethnomilizen oder Banden gewöhnlicher Krimineller der dort vorhandenen Rohstoffvorkommen zu bemächtigen. Der Anarchismus scheint vor allem in der Praxis widerlegt: Kapitalismus bedarf keiner Staatsgewalt, um Kriege zu führen.

Beyer stellt so zwar kenntnisreich und detailliert antimilitaristische Positionen von Anhängern des gewaltfreien Anarchismus dar. Er bleibt aber einen Nachweis schuldig, daß durch Mahnwachen und zivilen Ungehorsam jemals ein Krieg verhindert oder vorzeitig beendet wurde. Dem Antimilitarismus einen gebührenden Platz einzuräumen ist ehrenwert. Dem selbstformulierten Anspruch, »Klarheit in Begrifflichkeiten der Friedensbewegung zu bringen«, wird der Autor allerdings in weiten Teilen nicht gerecht.

Wolfram Beyer: Pazifismus und Antimilitarismus - Eine Einführung in die Ideengeschichte. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2012, 237 Seiten, 10 Euro

* Aus: junge Welt, Montag, 10. Dezember 2012


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