Dieser Internet-Auftritt kann nach dem Tod des Webmasters, Peter Strutynski, bis auf Weiteres nicht aktualisiert werden. Er steht jedoch weiterhin als Archiv mit Beiträgen aus den Jahren 1996 – 2015 zur Verfügung.

Vom Realopazifismus und dem Bündel an enttäuschten Erwartungen

Politiker müssen der Forderung nach nahezu unbedingtem Gehorsam widerstehen

Von Bischof Axel Noack*

Ein Pazifismus, der sich als politische Kraft versteht, dürfe sich vor der Realität von Gewalt und Terror in der Welt nicht drücken, argumentierte Ludger Volmer (Grüne), Staatsminister im Auswärtigen Amt, in der FR vom 7. Januar. Die daraufhin einsetzende Debatte hat auch Axel Noack, Bischof der Evangelischen Kirche in Sachsen, sowie Wolfgang Sternstein, Stuttgarter Friedens- und Konfliktforscher, Bürgerinitiativler und bekenennder Aktivist des zivilen Ungehorsams, zu Kritik an Volmers Thesen gereizt. Noack fordert mehr politische Aufrichtigkeit ein, Sternstein spricht von Preisgabe grüner Ehrenprinzipien.

Der Pazifismus hat es schwer in Deutschland - jetzt nach dem 11. September erst recht! Die Klagen darüber sind allgegenwärtig, und im Grunde genommen sind sie nicht neu. Auch das, was Ludger Volmer in der FR vorgetragen hat, ist bei aller feinsinnigen Unterscheidung verschiedenster Pazifismustypen kein neuer Einwand. Zu allen Zeiten schon hat gegolten, dass eine pazifistische Haltung eigentlich nicht gehe, denn "es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, solange es dem bösen Nachbarn nicht gefällt". Mit der Bergpredigt könne man nun einmal die Welt nicht regieren und die Menschen, die Verhältnisse oder beide sind nun mal nicht so, dass es irgendwie etwas bringen würde, wenn man geschlagen auf die rechte Wange auch noch die linke hinhalten wolle. Und also ist Pazifismus schon immer als nicht "politikfähig" kritisiert worden. Wie gesagt, daran hat sich nichts geändert. Was sich allerdings in den letzten Jahren deutlich geändert hat, ist, dass die Zahl derer, die sich selber als Pazifisten bezeichnen und die dies auch in der Öffentlichkeit zu erkennen gegeben haben. Die Pazifisten sind weniger geworden, langsam, aber nicht mehr übersehbar. Friedensgruppen haben erhebliche Verluste hinsichtlich ihrer Mitglieder hinnehmen müssen, und Pazifisten werden wieder einmal zu Außenseitern und Einzelkämpfern.

Es ist schon erstaunlich, wie leicht und ohne größeren Widerspruch Militäraktionen deutscher Soldaten im Ausland beschlossen und durchgeführt werden. Vor zehn Jahren hätte es noch einen Aufschrei durch das ganze Land gegeben, wenn irgendwo jemand gewagt hätte zu behaupten, die Bundeswehr würde sich von einer "Verteidigungsarmee" zu einer "Einsatzarmee" verändern. Heute scheint das niemanden mehr aufzuregen, man hat sich daran gewöhnt. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, warum so viele Menschen, die damals in der Friedensbewegung große Hoffnungen hegten und sich als Pazifisten engagierten, heute nicht mehr auf den Plan treten. Ist da Resignation im Spiel?

Freilich, die großen Hoffnungen der Friedensbewegung haben sich nicht erfüllt. Heute kann mit einigem Nachdruck behauptet werden, dass das eigentliche Ende des Ost-West-Konfliktes und der Zusammenbruch der Sowjetunion letztlich auf die deutliche Überlegenheit des Westens zurückzuführen sei und die schließt die waffentechnische Überlegenheit ein. Die Gegner der Nachrüstung in den 80er Jahren im Osten werden heute noch nostalgisch als "ehemalige Bürgerrechtler" einigermaßen positiv erwähnt, während die Gegner der Nachrüstung im Westen eigentlich nur noch Spott und Hohn für ihre damalige Haltung ernten.

Und auch nach der Wende und am Ende des Ost-West-Konfliktes haben sich viele Hoffnungen nicht erfüllt. Die Aussicht auf Konversion und weitestgehende Abrüstung haben sich gründlich zerschlagen. Zehn Jahre lang schien es so, als ob mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes auch ein Ende des Rüstungswettlaufs einhergehe. Nun scheint sich immer deutlicher herauszustellen, dass die Rüstungsspirale neuen Antrieb erhält, nur dass diesmal Europa und die USA zu einem Rüstungswettlauf miteinander angetreten sind. Diejenigen, die Rüstungsgüter herstellen und verkaufen, wird es letzten Endes freuen.

Zu den Enttäuschungen gehört auch, dass nun klar zu Tage getreten ist, dass der deutsche Rüstungsexport bei einer rot-grünen Bundesregierung keine deutliche Einschränkung erfahren hat. Der kürzlich vorgelegte 5. Rüstungsexportbericht für das Jahr 2001 der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung vom 17. 12. 2001 weist dies eindeutig aus. Besonders beim Export von so genannten "Großwaffen" in Entwicklungsländer liegt der Anteil der Lieferungen deutlich über dem langjährigen Schnitt. Überhaupt scheint durch den Eintritt der Bündnisgrünen in die Regierung die politische Stimme des Pazifismus deutlich geschwächt zu sein, denn dass alle aufrechten Pazifisten im Lande sich nur noch von der PDS vertreten fühlen sollen, wird man wohl nicht ernsthaft annehmen können. Die hoffnungslose Perspektive, dass einer Ächtung der Gewalt eine vernünftige Bindung an das Recht und die Schaffung eines Gewaltmonopols im Sinne einer "Weltinnenpolitik" vorausgehen könnte, hat wohl ebenfalls getrogen.

Selbst Ludger Volmer spricht noch von einer Weltinnenpolitik und erwähnt die UN als die rechtlich übergeordnete Instanz, der es möglich sein müsste, Waffengewalt und Militärgewalt an das Recht zu binden. Eine rechtlich verfasste internationale Ordnung kann nur Friedensordnung sein, wenn sie unter dem Recht steht, d. h. wenn das Recht in ihr als verbindlich anerkannt wird. Auch die Kirchen haben immer wieder ein UN-Mandat für die Entscheidung zum Einsatz militärischer Gewalt angemahnt. Dabei ist doch nicht zu übersehen, dass die UN in ihrer derzeitigen Verfassung gar nicht in der Lage ist, wirklich eine auch von den Mitgliedern getragene Weltinnenpolitik auch nur ansatzweise durchzusetzen. Die Schwäche der UN gründet natürlich auch darin, dass die USA zu den säumigsten Zahlern von Beiträgen gehören und, wie es auf der militärischen Tagung in München deutlich wurde, im Zweifelsfall immer alle Entscheidungen auch ohne die UN, ja sogar ohne die Mitsprache der Verbündeten in der Nato, zu treffen bereit sind.

Dass nun in der so nötigen Bekämpfung des Terrorismus von ernst zu nehmenden Menschen wieder über die Einführung der Folter nachgedacht wird, hätten sich die schwärzesten Pessimisten in ihren finstersten Träumen nicht vorstellen können. Selbst die von den demokratischen Staaten längst verinnerlichten Regeln der Behandlung von Gefangenen scheinen plötzlich auf Guantanamo auf Kuba nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt zu gelten. Hinzu kommt, dass auch die Hoffnung geschwunden ist, mit vereinter Anstrengung z. B. einer effektiven Gestaltung der Entwicklungshilfe in der Dritten Welt soweit Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, dass Kriegsursachen schon in der Wurzel bekämpft werden könnten. Schließlich darf nicht übersehen werden, dass sich auch für Christen und Vertreter anderer Religionen die Lage deutlich verändert hat: Religionen gelten - nicht zuletzt wegen des fundamentalistischen Islams - weithin als eine Quelle des Unfriedens in der Welt. Man braucht ja nur auf Israel oder Nordirland zu verweisen. Der für uns Christen so bewährte Satz: "Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein!" scheint angesichts der derzeitigen politischen Lage zu dem Satz: "Krieg soll nach Gottes Willen sein, wenn er der Verhinderung von Menschenrechtsverletzungen dient" zu mutieren.

Wir haben es also mit einem ganzen Bündel von Enttäuschungen, enttäuschenden Entwicklungen und Verunsicherungen zu tun, und das kann schon erklären helfen, warum so viele Menschen sich aus der Friedensbewegung zurückgezogen haben. Engagement setzt Hoffnung und Perspektive voraus, und wenn die verloren gehen, wird es um das Engagement auch deutlich stiller werden.

Angesichts dieser ernüchternden Lagebeschreibung rät Ludger Volmer nun den Schritt zum so genannten "politischen Pazifismus", den man sich als eine Art "Realo-Pazifismus" vorstellen muss, der sich deutlich von allen Fundamentalismen abgrenzt und unterscheidet. Er soll einerseits "normengeleitet" und andererseits sich "seiner historischen Bedingtheit bewusst" sein. So weit, so gut: Nur, ohne Pazifisten wird es auch keinen politischen Pazifismus geben, und die Frage muss daher auch lauten: Wie gelingt es, Menschen angesichts solcher ernüchternden Einsichten innerlich so stabil zu machen, dass sie mit den allgegenwärtigen Enttäuschungen umgehen können und nicht resigniert aufgeben? Sind etwa der Sisyphos aus der Mythologie und das Stehaufmännchen aus dem Kinderzimmer geeignete Vorbildfiguren? Woher nimmt jener seine Kraft zum jeweils neuen Aufstieg und dieses seine Fähigkeit, aus der Niederlage wieder emporzuschnellen? Beim Stehaufmännchen ist die Antwort relativ einfach. Es braucht eine fest gegründete Basis und einen leichten Kopf, um nach Niederlagen wieder hochzukommen. Über beides wird man reden müssen: über die Tragfähigkeit unserer Basis und über die Klarheit in unseren Köpfen.

Hoffnung auf ein Ziel, das in ganz weite Ferne rückt, ist schwer durchzuhalten. Die beständige Anspannung des Willens ohne Erfolg und Genugtuung zehrt an der Selbstachtung und macht müde. Die Quellen unserer Zuversicht stehen zur Diskussion. Als Christ habe ich keine Scheu zu behaupten, dass das die Geborgenheit, die ich in meinem Glauben habe, ist, die mich nicht mutlos werden lässt. Worauf gründen sich dann diejenigen, denen es nicht möglich ist zu glauben? Gibt es in der säkularen Welt verinnerlichte Grundsätze, deren Begründung in sich selbst ruht und die mich zu tragen in der Lage sind? Ich wäre der Letzte, der das bestreiten wollte. Ist es eigentlich erlaubt, danach zu fragen, was mich trägt und woran ich mich halte, wenn es ernst wird? Oder gehört das nicht, weil Religion eben "Privatsache" ist, in den Bereich der Intimsphäre? Es scheint ungewöhnlich und verwegen zu sein, solche Themen in einer Tageszeitung ansprechen zu wollen. Ich denke aber, dass die Pazifisten - auch diejenigen, die sich für "religiös unmusikalisch" halten - den ehrlichen Diskurs über den Grund ihrer Zuversicht und den Punkt, an denen sie ihr Engagement letztlich festmachen, wirklich brauchen. Man wird auch darüber reden müssen, ob unserer säkularen Welt nicht nur die religiöse Sprache abhanden gekommen ist, wie es Jürgen Habermas unlängst getan hat. Nein, man wird auch darüber zu reden haben, was wir verlieren, wenn Glaube und Religion als Motivationskraft weithin ausfallen. Nämlich als Motivationskraft, die es versteht, aus Enttäuschungen Klarsicht und aus Niederlagen neuen Schwung zu gewinnen.

Die viel gerühmten "Werte" und "leitenden Normen" schweben nicht im luftleeren Raum. Sie müssen in Leitlinien umgesprochen und diese in konkrete, auch erlernbare Lebensregeln umgesetzt werden. Ludger Volmer wird da meines Erachtens nicht konkret genug. Gerade ein "politischer Pazifismus" darf sich nicht scheuen, konkrete politische Ziele zu benennen. Es nützt nicht, so hohe ethische Ziele zu formulieren, dass ich im praktischen Alltag immer wieder bequem darunter hindurch- laufen kann.

Volmers Definition des politischen Pluralismus bewegt sich in solcher Höhe. Gerade die hier formulierten Richtungen lassen nun aber auch danach fragen, was daraus für das politische Handeln der Bundesregierung zu folgen hat: Wie verträgt es sich, z. B. das Primat der Politik und die Abwägung von wichtigen politischen Entscheidungen mit einer Vertrauensfrage zu koppeln. Das mag rechtlich legitim sein, trägt aber den deutlichen Makel, dass es hier nicht um sachgerechte, sondern um parteitaktische Entscheidungen gehen soll. In unserer Demokratie, die Meinungsvielfalt nicht nur zulassen muss, sondern diese zur Wahrheits- und Entscheidungsfindung dringend braucht, wurde die Zustimmung zur Position der Bundesregierung zur Bekenntnisfrage hochstilisiert. Wer an den Entscheidungen der Regierung Kritik übt, verweigert den Opfern des 11. September nicht seine Solidarität. Auch ein politischer Pazifismus muss der Forderung nach nahezu "unbedingtem Gehorsam" widersprechen. Falsche Entscheidungen werden nicht dadurch richtig, dass ich sie mit schlechtem Gewissen und unter "großen Bedenken" getroffen habe. Es gibt Situationen, in denen es nur um "Ja" oder "Nein" geht. Einschränkende Zusätze und die Betonung der "Bauchschmerzen" dienen allein dem eigenen Seelenfrieden.

Die Forderung nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel schließt die Forderung nach einer genauen Analyse des Erreichten nach erfolgten Militäreinsätzen und Bombardierungen zwingend mit ein. Solche Analysen stehen sowohl für den GolfKrieg als auch für die Bombardierung Jugoslawiens noch aus. Es ist einem demokratischen Staatswesen abträglich, wenn der Öffentlichkeit unter dem Argument der militärisch gebotenen Geheimhaltung Informationen, die zum Mittragen von Entscheidungen nötig sind, immer wieder vorenthalten werden.

Soll die militärische Gewaltanwendung als "Ultima Ratio" gelten, darf uns die Vernunft nicht unter die Räder kommen. Nichtrationaler feindseeliger Rhetorik ("Schurkenstaat", "Achse des Bösen", "Kreuzzug") nach außen ist genauso wie der verharmlosenden Redeweise ("Kolateralschaden") nach innen entschieden zu widersprechen.

Dass Bomben immer auch Unschuldige treffen, wird niemand bestreiten wollen. Und es muss auch gefragt werden dürfen, wie denn z. B. die Position gegen eine "verbrauchende Embryonenforschung" letztlich plausibel gemacht und durchgehalten werden kann, wenn die "verbrauchende Terrorismusbekämpfung", die es billigend in Kauf nimmt, Unschuldige zu Opfern zu machen, keine dauernde Kritik erfährt.

Die Forderung nach einer Weltinnenpolitik schließt auch rechtsstaatliche Methoden der Verbrechensbekämpfung ein: Schuldigen muss die Schuld nachgewiesen werden. Es reicht nicht, "die Geltung des humanitären Kriegsvölkerrechtes" zu fordern, aber das Reden zu Guantanamo Nichtregierungsorganisationen und Kirchen zu überlassen.

* Bischof der Evangelischen Kirche in Sachsen

Von der Dokumentationsseite der Frankfurter Rundschau, 20. Februar 2002


Weitere Beiträge zur Pazifismus-Debatte


Zur Seite "Kirche und Friedensbewegung"

Zurück zur Homepage