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USA setzen sich im Osten fest

Manöver- und Ausbildungsprogramm nimmt NATO-Partner in gefährliche Haftung *

Anders Fogh Rasmussen verabschiedete sich als NATO-Generalsekretär. Fünf Jahre lang führte er das Amt im geopolitischen Interesse der jeweiligen US-Regierung. Beim jüngsten NATO-Rat verschärfte er noch einmal die »Ostorientierung« des Bündnisses, forderte höhere Rüstungsausgaben und mehr Einsatz der Partner an der Grenze zu Russland.

Ob der neue Generalsekretär, der Norweger Jens Stoltenberg, diesen Prozess aufhalten und zur »strategische Partnerschaft« mit Russland zurückkehren will und kann? Nicht ohne Grund veröffentlichte das US-Verteidigungsministerium im Vorfeld der Amtsübergabe eine Art Dossier zum aktiveren aktuellen Engagement der NATO-Führungsnation in Europa. Angesichts der andauernden russischen Intervention in der Ukraine, so heißt es da, würden die Vereinigten Staaten »ihr Engagement für die kollektive Sicherheit unserer NATO-Verbündeten und Partner in Europa demonstrieren«. Codename: »Operation Atlantic Resolve«.

Auf acht Seiten listet das US-Europa-Kommando demonstrativ die diesjährigen Übungen und Trainingsmissionen auf. Ursache dafür seien allein Russlands »aggressive Maßnahmen« sowie die Beistandsverpflichtungen gemäß Artikel V des NATO-Vertrages.

Die USA sind wieder massiv militärisch in Europa vertreten. Auf vorgeschobenen Posten, mit Einheiten des Heeres, der Luft- und der Seestreitkräfte sowie sogenannten Special Operation Trainings. Ein Spiel mit dem Feuer. Denn jenseits der Grenze zieht Russland gleich, verstärkt Garnisonen, hält Manöver ab.

Das Pentagon gibt kund und zu wissen, man werde die NATO-Pläne verbessern und anhaltend präsent sein. Man freue sich »auf weitere Zusagen von unseren Verbündeten, um eine koordinierte und kontinuierliche Land-, Luft- und Seepräsenz in der Region zu gewährleisten«, heißt es süffisant. hei

* Aus: neues deutschland, Mittwoch 1. Oktober 2014


Neuer Frontmann der NATO

Jens Stoltenberg setzt auf militärische Stärke und Dialogbereitschaft

Von Olaf Standke **


Im Unterschied zu seinem Vorgänger Anders Fogh Rasmussen gilt der neue NATO-Generalsekretär als besonnener Politiker. Aber steht er auch für eine neue Politik?

Ein bisschen wehmütig klang es schon, als Jens Stoltenberg am Wochenende über seinen letzten Talkshow-Auftritt in Norwegen twitterte – »bevor ich meine Aufgaben bei der NATO übernehme«. Was die anbetrifft, hatte sich das neue politische Gesicht der Allianz ein Schweigegelübde auferlegt. Es könne nun mal keine zwei Generalsekretäre geben, ließ er in den letzten Monaten der Rasmussen-Amtszeit wissen. So war nicht viel mehr von ihm zu hören, als dass er gute Debatten mit US-Präsident Barack Obama und dem britischen Premierminister David Cameron auf dem NATO-Gipfel in Newport Anfang September geführt habe.

Dort schlug noch einmal die Stunde des Anders Fogh Rasmussen. Der ehemalige dänische Ministerpräsident und Vorsitzende der rechtsliberalen Venstre-Partei präsentierte sich als Frontmann eines Militärbündnisses, das knapp zwei Jahrzehnte nach der NATO-Russland-Akte und dem damit besiegelten Ende des Ost-West-Konflikts den alten Erzfeind wiederentdeckt hat.

Rasmussen ist ein beinharter Konservativer, sein Buch »Fra socialstat til minimalstat« etwa ein Plädoyer für das Aus des dänischen Wohlfahrtssystems. Unter seiner Regierung wurden die Entwicklungshilfe wie die Umweltausgaben massiv gekürzt, die Ausländer- und Asylpolitik drastisch verschärft. Außenpolitisch stand Rasmussen stets in unerschütterlicher Treue an der Seite des »Großen Bruders«, auch im so verheerenden Irak-Krieg der USA.

In Washington hat man ihm das nie vergessen. Er war der Mann der letztlich entscheidenden Bündnismacht, als 2009 ein neuer Generalsekretär gebraucht wurde. Er drängte danach die europäischen NATO-Staaten zum umstrittenen Libyen-Krieg und zu höheren Militärausgaben, und das in einem Ton, der schon mal empörte NATO-Botschafter aus dem Sitzungssaal des Nordatlantikrates trieb. Wenn die Beziehungen der Allianz zu Moskau wieder auf ein Niveau gesunken sind, das an Zeiten des Kalten Krieges erinnert, dann ist das auch ein Resultat seiner »verantwortungslosen Politik des Verbalradikalismus«, so Eberhard Sandschneider, Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Für Rasmussen bilden Russland und die Terrormiliz Islamischer Staat »einen Bogen der Krisen und Instabilität vom Osten bis zum Süden«. Er sieht die Allianz heute »an der Front einer neuen Schlacht«.

Stützpunkte und Manöver in Polen, Rumänien sowie den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sollen zur quasi-permanenten NATO-Präsenz vor den Toren Russlands ausgeweitet werden. Eine in wenigen Tagen einsatzbereite Schnelle Eingreiftruppe (Nato Response Force) mit 3000 bis 5000 Soldaten wird aufgebaut, von Rasmussen zur »Speerspitze« des Nordatlantik-Paktes ernannt. Für ihn sei die Frage nicht länger Warum NATO?, sondern: Wie viel mehr NATO brauchen wir?

Was wird, was kann sein Nachfolger überhaupt aus diesem Erbe machen? Aufgewachsen in einer Diplomaten- und Politikerfamilie – sein Vater war u.a. norwegischer Außen- und Verteidigungsminister – engagierte sich Jens Stoltenberg schon früh politisch. Er protestierte gegen den Vietnam-Krieg und forderte als Vorsitzender der Jungsozialisten vehement den Austritt Norwegens aus dem Nordatlantik-Pakt.

Drei Amtszeiten als Regierungschef später lobte die Allianz seine bündnispolitische Haltung bei der Bekanntgabe der Nominierung zum Generalsekretär über den grünen Klee. Unter ihm habe Norwegen seinen Verteidigungsetat stetig erhöht und sei heute das Land mit den höchsten Pro-Kopf-Militärausgaben aller Mitgliedstaaten. Norwegens Beteiligung am Krieg in Afghanistan und an den Luftangriffen gegen Libyen sicherte Stoltenberg Pluspunkte vor allem in den USA.

Er selbst habe aus dem »Bedürfnis nach Frieden, Sicherheit und Stabilität« und »aus Pflicht gegenüber unseren Verbündeten« Ja zur NATO gesagt, erzählte der 55-Jährige im Frühjahr der Zeitung »Politiken«. Er verstehe das Dilemma, wenn es um die ökonomischen Prioritäten gehe, doch müssten die NATO-Staaten ihre kollektive Verteidigung verstärken, denn »wir sind Nachbarn einer Großmacht mit wachsender Militärkapazität und -aktivität«. Gemeint ist Russland.

Stoltenberg verweist aber zugleich auf das traditionell pragamatische Verhältnis seiner Heimat zu Moskau: »Selbst in den kältesten Tagen des Kalten Krieges waren wir in der Lage zusammenzuarbeiten.« Unter seiner Regierung unterzeichneten beide Seiten wichtige Abkommen über die gemeinsame Grenze in der Barentssee, die einen 40-jährigen Streit beendeten, über Visa-Ausnahmen für die Grenzbevölkerung und Fischfangquoten. NATO-Insider glauben sogar, dass diese Erfahrungen für Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Regierungen in Paris und London ein wichtiger Grund waren, sich in der Ukraine-Krise für Stoltenberg zu entscheiden.

Sicher hat es ihm nicht geschadet, dass eine Frauenzeitschrift einmal schrieb: »Jens hat Sexappeal«. Vor allem aber schätzt man den Sozialdemokraten in Norwegen als eloquenten, ruhigen und verständnisvollen Politiker. Kritiker nennen das allerdings auch kompromissbereit bis konfliktscheu. Hoch angerechnet aber wird Stoltenberg wohl von allen Landsleuten seine besonnene, vermittelnde Reaktion auf das grausame Massaker des rechtsextremen Attentäters Anders Behring Breivik im Juli 2011, die alle Rachegelüste im Keim erstickte.

Selbst der Vorsitzende der Sozialistischen Linkspartei, Audun Lysbakken, ist der Meinung, dass Stoltenbergs Ernennung zum NATO-Generalsekretär eine Anerkennung für die Art sei, wie er Norwegen regiert habe. Er sei ein »verantwortungsbewusster Führer« – von dem Lysbakken hofft, dass er sich auch der Frage der atomaren Abrüstung in der Allianz annehmen werde. So sind mit dem Neuen in Brüssel sehr unterschiedliche Erwartungen verbunden. Doch wie schrieb die Osloer »Aftenposten« zu seinem Amtsantritt: »Der Job des Generalsekretär ist oft mehr der eines Sekretärs als der eines Generals.«

** Aus: neues deutschland, Mittwoch 1. Oktober 2014

Die wichtigsten Institutionen des Nordatlantik-Paktes

Der Generalsekretär der Allianz ist das politische Gesicht des Militärbündnisses

Die NATO (englisch North Atlantic Treaty Organization – Organisation des Nordatlantikvertrags) ist das größte Militärbündnis der Welt mit derzeit etwa 3,4 Millionen Soldaten und Militärausgaben von über einer Billion Dollar. 1949 von zwölf Staaten gegründet (Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, USA) zählt die Allianz heute 28 europäische und nordamerikanische Mitgliedstaaten, darunter neun einstige Mitglieder des Warschauer Vertrages bzw. ehemalige Republiken der Sowjetunion. Die BRD trat dem nordatlantischen Bündnis 1955 bei. Kernpunkt des NATO-Vertrages ist Artikel 5, der jedem Mitglied für den Fall einer Bedrohung den militärischen Beistand der anderen Verbündeten verspricht.

Das Bündnis ist in militärischen wie zivilen Verwaltungsstrukturen organisiert, wobei alle Entscheidungen nach dem Konsensprinzip einstimmig getroffen werden müssen. Höchstes Entscheidungsgremium ist der Nordatlantikrat (North Atlantic Council, NAC) mit Sitz in Brüssel, der für die politische Konsultation und Koordination verantwortlich ist und als einzige NATO-Institution im Nordatlantikvertrag genannt wird. Der Ausschuss für Verteidigungsplanung (Defence Planning Committee) ist in seinem Rahmen das zentrale Forum für militärpolitische Angelegenheiten, vor allem mit Blick auf die Struktur der Streitkräfte und ihre Integration. Der Rat tagt mindestens einmal pro Woche auf der Ebene der Ständigen Vertreter und zweimal pro Jahr auf Ebene der Außenminister (Foreign Ministers Meeting) sowie der Verteidigungsminister (Defense Ministers Meetings). Alle zwei bis drei Jahre treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten zu Gipfeltreffen, zuletzt Anfang September in Wales.

Der Generalsekretär ist als Vorsitzender des Rates, der den Internationalen Stab (International Staff) leitet, das öffentliche Gesicht der NATO. Von allen Mitgliedstaaten einstimmig für eine vierjährige Periode berufen, kann seine Amtszeit um ein Jahr verlängert werden. Der NATO-Generalsekretär stammt immer aus einem europäischen Land. Zu seinen Aufgaben gehört auch der Vorsitz des 1966 installierten Ausschusses für nukleare Verteidigungsfragen (Nuclear Defence Affairs Committee) und der ein Jahr später geschaffenen Nuklearen Planungsgruppe (Nuclear Planning Group).

Der militärische Oberkommandeur der NATO (Supreme Allied Commander Europe – SACEUR) mit Sitz im NATO-Hauptquartier Europa (SHAPE) in Mons (Belgien) ist stets ein General oder Admiral aus den USA, derzeit Luftwaffengeneral Philip Breedlove. Daneben gibt es mit dem französischen General Jean-Paul Paloméros einen Oberkommandierenden des NATO-Hauptquartiers Transformation im US-amerikanischen Norfolk.

Höchstes militärisches Entscheidungs- und Beratungsorgan innerhalb des Bündnisses ist der NATO-Militärausschuss (Military Committee). Er ist dem Nordatlantikrat unterstellt und tagt zweimal pro Jahr auf der Ebene der von den Stabschefs ernannten Nationalen Militärischen Vertreter. Vor wenigen Tagen wurde mit dem tschechischen Generalstabschef Petr Pavel erstmals ein Spitzenmilitär aus den früheren sozialistischen Ländern zum Vorsitzenden des Ausschusses bestimmt.

Als ausführendes Organ verfügt der Militärausschuss über einen Internationalen Militärstab (International Military Staff) mit diversen weiteren Abteilungen. Im Rahmen der Reform und Transformation wurde die militärische Struktur der NATO in den vergangenen Jahren weiter verschlankt und die Zahl der Kommandostellen reduziert. sta


Generalsekretäre der NATO

  • Lord Ismay Großbritannien (1952–1957)
  • Paul Henry Spaak Belgien (1957–1961)
  • Dirk Stikker Niederlande (1961–1964)
  • Manlio Brosio Italien (1964–1971)
  • Joseph Luns Niederlande (1971–1984)
  • Lord Carrington Großbritannien (1984-1988)
  • Manfred Wörner Deutschland (1988–1994)
  • Sergio Balanzino Italien (1994)
  • Willy Claes Belgien (1994–1995)
  • Sergio Balanzino Italien (1995)
  • Javier Solana Spanien (1995–1999)
  • Baron George Robertson Großbritannien (1999–2003)
  • Alessandro Minuto Rizzo Italien (2003)
  • Jaap de Hoop Scheffer Niederlande (2004–2009)
  • Anders Fogh Rasmussen Dänemark (2009–2014)
  • Jens Stoltenberg Norwegen (2014–)



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