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Falsche Sicherheit in Lissabon

Das größte Militärbündnis der Welt wird sich eine neue Strategie verordnen / Washington will Drei-Stufen-Plan für Raketenabwehrsystem des Nordatlantik-Pakts vorlegen

Von Olaf Standke *

Die NATO will auf ihrem Gipfel in Lissabon eine neue Strategie verabschieden, die siebente in der Geschichte des Nordatlantik-Paktes.

»Lissabon im Belagerungszustand« titelte die Wochenzeitschrift »Visão« in ihrer jüngsten Ausgabe. Umleitungen, Sperren und Kontrollen vor allem rings um den Tagungsort, das Messegelände im Expo-98-Viertel Parque das Nações, haben schon vor dem NATO-Gipfel für Verärgerung in der portugiesischen Hauptstadt gesorgt. Im NATO-Hauptquartier dagegen zeigt man sich durchaus zufrieden mit den Vorbereitungen auf das laut Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen »historische« Treffen der 28 Mitgliedstaaten. Um die Streitpunkte des neuen strategischen Konzepts wird indes bis zuletzt gepokert. So lässt etwa die Bundesregierung offen, in welchem Umfang sie sich am geplanten Raketenabwehrsystem der Allianz – ein Kernstück des selbst für die meisten Bundestagsabgeordneten zur geheimen Kommandosache erklären Dokuments »NATO 2020« – beteiligen wird, ob Teile in Deutschland installiert werden und wie viel der wohl erst in zehn Jahren komplette Schirm den Steuerzahler kosten könnte.

Laut NATO-Botschafter Ivo Daalder werden die USA auf dem Gipfel einen Drei-Stufen-Plan vorlegen. Danach will Washington ab 2011 auf Schiffen im östlichen Mittelmeer mobile Raketenabwehrsysteme stationieren, vier Jahre später soll ein fest installiertes System in Rumänien folgen, 2018 ein weiteres in Polen. Während die Allianz den vermutlichen Preis gern kleinredet, schätzen Experten die Kosten für neue Abfangsysteme in den einzelnen Ländern auf mehrere Milliarden Euro. Allerdings will z.B. Ankara im Gegenzug für seine Zustimmung zum Projekt auch mitbestimmen. »Wenn sie das System bei uns installieren wollen, sollte das Kommando an uns gehen«, zitierten türkische Zeitungen Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

Prof. Michael Brzoska vom Hamburger Friedensforschungsinstitut sieht in der Fixierung auf diese vermeintlich »essenzielle Mission« der NATO eine deutliche Überbewertung der zugrunde gelegten Bedrohung durch Raketen aus »Schurkenstaaten«. In einem Punkt scheint sich die Türkei zumindest durchgesetzt zu haben: Laut Rasmussen werde man das Nachbarland Iran nicht namentlich nennen. Ankara ist zudem gegen das von der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton vor dem Gipfel unterstrichene Interesse der Union an »strategischer Partnerschaft« mit dem Nordatlantik-Pakt.

Berlin sieht in dem neuen Abwehrsystem vor allem eine Chance zur atomaren Abrüstung. Zwar soll im Strategischen Konzept tatsächlich allgemein auf das von Präsident Barack Obama verkündete Ziel einer atomwaffenfreien Welt verwiesen werden, doch wird die NATO zugleich am Prinzip der nuklearen Abschreckung festhalten. Damit ignoriert sie die Bundestagsforderung nach einem Abzug der rund 20 noch immer in Deutschland stationierten US-Atombomben. Auch die drohende Nichtratifizierung des START-Vertrages zwischen Russland und den USA durch den Washingtoner Senat würde alle Abrüstungsverheißungen ad absurdum führen.

Während osteuropäische Bündnisstaaten in Russland immer noch eine Bedrohung sehen, will die NATO-Führung Moskau unbedingt in die Raketenabwehr einbeziehen. Doch will man dort nicht Teil eines Systems »unter amerikanischer Regie« sein, sondern ein eigenes einbringen: »Wir werden zwei Systeme haben, die eventuell miteinander verbunden werden«, meint NATO-Botschafter Dmitri Rogosin. In Lissabon, wo Präsident Dmitri Medwedjew erwartet wird, könne jedenfalls »ein neues Kapitel« aufgeschlagen werden, wie man in Berlin hofft. Die Passagen zur künftigen Partnerschaft mit Moskau trügen einen »deutschen Stempel«. Dabei stehen weitere Kooperationsfelder wie Antiterrorkampf und Katastrophenschutz auf der Agenda. Vor allem jedoch sollen die Transitrechte der NATO durch Russland nach Afghanistan erweitert und die Bereitstellung russischer Hubschrauber für die afghanische Armee vorbereitet werden.

Der Krieg am Hindukusch wird überhaupt ein Schwerpunkt in Lissabon sein. Sein schnelles Ende steht jedoch nicht in Aussicht. Vielmehr will die Allianz die Übergabe der Sicherheitsverantwortung an Kabul bis 2014 formell einleiten. Trotz über 2000 getöteter NATO-Soldaten schließt der Pakt ähnliche Einsätze in Zukunft nicht aus. Das Grundprinzip der kollektiven Verteidigung nach Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrags von 1949 wird dabei interventionistisch und außerhalb des Bündnisgebietes auch auf vermeintlich neuartige Bedrohungen wie Raketen aus Iran oder Nordkorea, Angriffe von Terroristen und von Hackern aus dem Internet ausgeweitet. Nicht nur Paul Schäfer, verteidigungspolitischer Sprecher der linken Bundestagsfraktion, stellt da die Frage, ob es sich bei dieser Bedrohungsanalyse der NATO nicht doch nur um eine weitere Legitimationsstrategie handelt.

Dass es letztlich um die Durchsetzung von Machtambitionen und geostrategischen Zielen geht, hat Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg gerade noch einmal deutlich gemacht, als er die Bundeswehr in den Dienst deutscher Wirtschaftsinteressen stellte. Dagegen bleibt die NATO die Antwort schuldig, wie sie auf die aus Klimaveränderung, globaler Ungerechtigkeit, Hunger, Armut oder Flüchtlingselend erwachsenden und längst existierenden Risiken reagieren will. Berlin jedoch zeigt sich zufrieden mit dem neuen Konzept. Es sei gelungen, die NATO auf ein »zukunftsgerichtetes Fundament« zu stellen, hieß es aus Regierungskreisen.

* Aus: Neues Deutschland, 19. November 2010


Die Allianz will kein Weltpolizist sein

Staatsminister Werner Hoyer (FDP) über die künftige Rolle der NATO **

Werner Hoyer war schon von 1994 bis 1998 Staatsminister im Auswärtigen Amt, später dann in Oppositionszeiten von 2002 bis 2009 stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion. Seit Oktober 2009 ist der 59-Jährige erneut Staatsminister im Berliner Außenamt und Mitglied im zweiten Kabinett von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Mit ihm sprach für das "Neue Deutschland" (ND) Martin Lejeune.

ND: Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurde der Islamismus zum neuen Feindbild des Westens. Die NATO-Strategie, die jetzt in Lissabon beschlossen wird, will mit noch mehr hochmobilen und effizienten Einsatztruppen außerhalb des NATO-Gebietes den Terrorismus bekämpfen. Ist Al Qaida so stark, dass das größte Militärbündnis der Welt seine Strategie ändern muss?

Hoyer: Im neuen Strategischen Konzept wird genauso wenig die Rede von Feindbildern sein wie übrigens auch schon im derzeit gültigen Konzept von 1999. Es geht auch nicht um eine Rolle der NATO als Weltpolizist, wie sie von Ihnen skizziert wird – übrigens ausdrücklich nicht. Es geht darum, auf Grundlage einer Bedrohungsanalyse im NATO-Rahmen vernünftige Vorsorge zu treffen. Das neue Strategische Konzept wird hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Einen auf eine groteske Fehlinterpretation des Islam gegründeten Terrorismus werden wir auch weiterhin entschlossen bekämpfen.

Das NATO-Land Türkei beliefert Iran mit Uran, Iran nimmt an Großmanövern mit Russland teil, Sie befürworten die intensivere NATO-Kooperation mit Russland. Zugleich will sich die Allianz besser gegen potenzielle Raketen aus Iran wehren. Wie passt das alles noch zusammen?

Die Türkei beliefert Iran nach unseren Erkenntnissen nicht mit Uran. Richtig ist, dass sich die Türkei sehr um eine diplomatische Lösung des Nuklearkonflikts mit Iran bemüht hat, vor allem durch den Versuch, Iran zur Zusammenarbeit beim Teheraner Forschungsreaktor zu bewegen. Wir teilen mit der Türkei das Ziel, Iran zum Verhandlungstisch zurückzubewegen, damit Iran die begründeten Zweifel am rein zivilen Charakter seines Nuklearprogramms ausräumen kann.

Klar ist, dass man nicht alles in einen Topf werfen kann – auch wenn alles mit allem zusammenhängt. Russland bleibt für uns ein strategischer Partner. Euro-atlantische Sicherheit ist ohne Russland nicht zu denken. Die Flugkörperabwehr bietet die Möglichkeit, Russland aktiv einzubinden. Das möchten wir nutzen.

Welche Rolle wird die Krisenprävention in der neuen Strategie spielen, und wo liegen die Überschneidungen und Unterschiede mit Blick auf den Aktionsplan zur Krisenprävention der Bundesregierung?

Sie werden verstehen, dass ich hier noch nicht auf Einzelheiten eingehen kann. Generell lässt sich sagen: Krisenprävention erfordert das kohärente und koordinierte Handeln aller beteiligten staatlichen und nichtstaatlichen Akteure. Dazu gehört auch die verbesserte zivil-militärische Koordinierung. Die Erfahrungen zeigen, dass nur der Ansatz der »Vernetzten Sicherheit« langfristig zum Erfolg – zu Frieden und Stabilität – führen kann.

Weshalb braucht es überhaupt noch eine NATO, welche Existenzberechtigung hat das Bündnis im 21. Jahrhundert? Piraterie, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ähnliches können genauso gut von der UNO bekämpft werden.

Die NATO wird auch im 21. Jahrhundert gebraucht, weil auch dieses eine Vielzahl von Sicherheitsherausforderungen mit sich bringt, bei deren Bewältigung die NATO weiterhin eine zentrale Rolle spielen wird. Die NATO ist nicht nur ein erfolgreiches militärisches Verteidigungsbündnis, sondern immer mehr auch eine Sicherheitsorganisation, die auf dem Feld kooperativer Sicherheit ein wichtiges Instrument globaler Bemühungen um den Frieden in der Welt darstellt.

Vergessen wir nicht, dass die Vereinten Nationen es waren, die die NATO zum Beispiel in Kosovo, Afghanistan oder Bosnien damit beauftragt haben, im Namen der Weltgemeinschaft Sicherheit und Ordnung wieder herzustellen. Lesen Sie im NATO-Vertrag von 1949 nach! Dort wird im Artikel 7 die primäre Rolle des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen ausdrücklich betont, wie im Übrigen auch in allen Strategischen Konzepten der NATO seit Ende des Kalten Krieges. Es kann nicht um ein »entweder oder« gehen, sondern allein um ein »sowohl als auch«.

** Aus: Neues Deutschland, 19. November 2010

Hintergrund: Strategie Nr. 7

Die NATO legt in Lissabon die siebte Strategie seit ihrer Gründung 1949 fest. Die ersten vier strategischen Konzepte während des Kalten Krieges waren noch geheime militärische Dokumente. Die folgenden von 1991 und 1999 sind vor allem öffentliche politische Zielsetzungen.

Nach dem Ende des Korea-Krieges und dem bundesdeutschen NATO-Beitritt (1955) drohte die Allianz der Sowjetunion in der Strategie von 1957 mit »massiver Vergeltung« durch Atomwaffen. 1968 folgte die Strategie der »flexiblen Antwort«. Sie ließ den potenziellen Gegner über den Einsatz von Atomwaffen im Unklaren.

1991 reagierte die NATO auf das Ende des Warschauer Vertrages und erklärte ihre Bereitschaft zur Zusammenarbeit, insbesondere mit Russland. Dem folgte 1999 die jetzige Strategie, wonach auch »Kriseneinsätze« möglich sind, denen kein direkter Angriff auf ein Bündnismitglied gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags (Beistandsverpflichtung) vorausgeht. 2006 aktualisierte der Pakt die bestehende Strategie mit »Leitlinien«. Diese sehen unter anderem vor, dass das Bündnis nicht mehr für einen einzigen großen Krieg plant. Künftig sollten zwei große und bis zu sechs kleine Einsätze gleichzeitig bewältigt werden können. ND




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