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"Rotstift als bedrohlicher neuer Gegner der NATO"

Interview in der Landeszeitung Lüneburg mit dem Experten Dr. Markus Kaim *

Lüneburg (ots) - Elf Jahre ist es her, dass die NATO ihr letztes strategisches Konzept verabschiedet hat. Mittlerweile wuchs der Pakt auf 28 Mitgliedsstaaten an, China erstarkte zum weltpolitischen Rivalen der USA und auch der virtuelle Raum wird zum Schlachtfeld. Wie wird die "NATO 3.0" aussehen? Experte Dr. Markus Kaim antwortet.

Ist die geräuschlose Vorbereitung des NATO-Strategiegipfels ein Indiz für gelöste bündnisinterne Konflikte?

Dr. Markus Kaim: Nein, es hat Annäherungen gegeben, aber in manchen Punkten wird es bei einem grundsätzlichen Dissens bleiben. Dieser wird mit Formelkompromissen und diplomatischer Sprache übertüncht werden. Man darf nicht vergessen, dass dies das erste strategische Konzept der NATO nach den großen Erweiterungsrunden sein wird. Insgesamt ist das Bündnis heterogener geworden, so dass es schwieriger geworden ist, Einvernehmen herzustellen. Strittig sind zum Beispiel das Verhältnis zu Russland, die Zukunft der nuklearen Abschreckung, eine eigene Raketenabwehr und die Frage, ob Cyberattacken ausreichen, um den Bündnisfall auszulösen.

Wie könnte ein Formel-kompromiss lauten, der das Misstrauen neuer Mitglieder gegenüber Russland und das Kooperationsinteresse der anderen verknüpft?

Dr. Kaim: Eine typische Formulierung findet sich im Abschlussbericht einer Expertengruppe unter der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright, der im Mai vorgelegt wurde. Darin heißt es, gegenwärtig sei nicht von einem konventionellen oder nichtkonventionellen Angriff Russlands auf das NATO-Territorium auszugehen. Gleichwohl blieben Zweifel an den Intentionen Moskaus. Diese Formulierung trägt denjenigen Rechnung, die in Moskau eher einen Partner sehen und denjenigen, die in Russland einen unkalkulierbaren Akteur sehen.

Auf dem Gipfel im November soll von allen NATO-Mitgliedern eine Raketenabwehr verabredet werden. Soll Russland mit ins Boot geholt werden oder zählt zunächst nur Einigkeit im Bündnis?

Dr. Kaim: Sollte beschlossen werden, eine Raketenabwehr aufzubauen, wird es ein Angebot an Russland geben, sich daran zu beteiligen. Das würde also ein Projekt werden, das dann auch im NATO-Russland-Rat diskutiert wird. Nach derzeitigem Stand sollte man allerdings vorsichtig mit der Erwartung sein, dass alle Akteure tatsächlich an einem Strang ziehen. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen geht derzeit mit sehr optimistisch berechneten Kosten von 200 Millionen Euro hausieren, die das Projekt angeblich kosten soll. Dabei geht er davon aus, dass existierende Elemente einer Raketenabwehr in einzelnen Mitgliedsländern zusammengeführt werden können. Für die Bundesrepublik und andere Staaten würde das allerdings erhebliche Investitionen notwendig machen - angesichts der aktuellen finanziellen Engpässe eine kaum zu überspringende Hürde. Im Zeichen der Finanzkrise sind alle NATO-Mitglieder zurückhaltend damit, solche Projekte anzugehen. Sicherheitspolitisch ist die Zustimmung Berlins jedoch unzweideutig, vor allem, weil das Raketenschutzschild unter Barack Obama kein US-Projekt mehr ist, sondern eines der NATO. Und, weil es konkrete Abrüstungsschritte bei den Atomwaffen erlauben würde.

Sind die geäußerten Zweifel am militärischen Nutzen einer gegen den Iran gerichteten Raketenabwehr hinfällig?

Dr. Kaim: Das kann ich in technischer Hinsicht nicht beurteilen. Meine Kritik setzt früher ein - bei der Bedrohungswahrnehmung. Ich räume ein, dass ich mich in einer Minderheitenposition befinde, aber mir leuchtet immer noch nicht ein, warum der Iran Raketen auf das NATO-Territorium schießen sollte. Schließlich droht ihm dann ein nuklearer Gegenschlag. Allerdings hat ein funktionierendes Raketenabwehr-sys"tem einen Wert. Es würde erhebliche Schritte bei der nuklearen Abrüstung ermöglichen.

Großbritannien plant radikale Einschnitte bei der Rüstung, auch Deutschland zückt den Rotstift. Kann die NATO die selbstgestellten Aufgaben erfüllen?

Dr. Kaim: Die drei Atommächte der NATO, die USA, Großbritannien und Frankreich halten an der nuklearen Abschreckung fest. Diese dürfte nur am Rande von der Finanzkrise berührt werden. So überlegen zum Beispiel die Briten, eines von vier mit ballistischen Raketen ausgerüsteten U-Booten auszumustern. Der Lissabon-Gipfel im November wird sicherlich eine Absichtserklärung für eine Raketenabwehr verabschieden. Ob sie angesichts allgemeiner Finanznöte aber umgesetzt wird, bleibt abzuwarten. Fast alle Bündnis-Mitgliedsstaaten stehen mittelfristig vor zum Teil erheblichen Kürzungen, müssen diese auch noch unter einem großen Zeitdruck vornehmen. Was deshalb ausbleibt, ist eine Koordination im Bündnis. Die Einzigen, von denen ich weiß, dass sie ihre Kürzungen angemeldet haben mit der Bitte, diese bündnisweit abzustimmen, sind die Tschechen. Weil nun aber jede Nation souverän vor sich hinkürzt, verfügen die Mitgliedsstaaten am Ende nicht mehr über Fähigkeiten, die sich ergänzen. Meine Befürchtung ist, dass wir in zwei Jahren nach einer Bestandsaufnahme feststellen, dass die NATO einige Aufgaben nicht mehr übernehmen kann, weil den Mitgliedern wegen der Kürzungen nicht genügend militärische Fähigkeiten verblieben sind.

Unterstreicht Ihre Diagnose die These von der gesunkenen Bedeutung der NATO, sogar vom Ende des politischen Westens?

Dr. Kaim: So weit würde ich nicht gehen. Die Bedeutung der NATO bemisst sich nicht an einem neuen strategischen Konzept oder wie immer man das Papier letztlich betiteln wird. Der wichtigste Beweis für die Bedeutung des Bündnisses ist das Interesse vieler Staaten, Mitglied zu werden. Oft übersehen wird, dass die NATO nicht nur ein Beistandspakt bei einem Angriff von außen ist, sondern eine Sicherheitsgemeinschaft, die zunächst für Frieden zwischen den Mitgliedern sorgt. Die Alternative zur NATO wäre eine Renationalisierung der Verteidigungspolitik. Und ob wir das wollen angesichts erheblich höherer Kosten und erheblich verminderter Sicherheit, wage ich zu bezweifeln. Von daher behält die NATO ihre Daseinsberechtigung. Sie wird aber aufgrund der finanziellen Einschränkungen und der Erfahrungen in Afghanistan in den nächsten Jahren zurückhaltender mit Auslandseinsätzen sein und sich auf die Kernaufgabe des Artikel 5, der Bündnisverteidigung, beschränken. Den Artikel 5 will Estland um die Cyberattacke ergänzen.

Ist der Bündnisfall bei einer Hacker-Attacke sinnvoll - zumal die Urheber schwer zweifelsfrei festzustellen sein dürften?

Dr. Kaim: Ich halte nichts von dem Vorstoß. Angriffe aus dem Cyberraum sind heute zwar eine wichtige sicherheitspolitische Herausforderung. Sie sind aber kein Fall für das Bündnis. Zum ersten kann man den Angreifer nicht lokalisieren. Da können Server in Russland im Spiel sein, die aber von jemandem in Algerien benutzt werden, der seine Daten über Belize umgelenkt hat. Und wie bei der Stuxnet-Attacke auf iranische Atomanlagen zu sehen, ist nicht mal der Beginn eines Angriffs zweifelsfrei festzustellen. Zudem ist die NATO als Militärallianz für diese Herausforderung nicht richtig ausge"rüs"tet. Bomber gegen Hacker loszuschicken, wäre keine angemessene Antwort. Richtig ist, dass die NATO derartige Herausforderungen diskutiert und sich mit Hilfe eines neugegründeten Cyber-Security-Centers in Tallinn wappnet, aber gefordert sind hier andere Institutionen - etwa die EU und vor allem die jeweiligen nationalen Sicherheitsbehörden.

Verliert Deutschland an Einfluss im Bündnis, wenn es seine Rüstungsanstrengungen nicht steigert; etwa was die Fähigkeit zur Verlegung von Truppen ins Ausland angeht?

Dr. Kaim: Ich würde den Fokus nicht auf Deutschland legen. Denn im gesamten Bündnis wird das amerikanische Ansinnen nach Lastenteilung ungehört verhallen. Aufgrund der Finanzkrise werden viele NATO-Staaten nicht imstande sein, die Truppenkontingente und die militärischen Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen, die für ein effektives Bündnis im Sinne Washingtons notwendig sind. Im Ergebnis brauchen wir uns dann auch nicht darüber wundern, dass die NATO zwar als Organisation erhalten bleibt, die USA aber zugleich ihre sicherheitspolitischen Partner an anderer Stelle suchen. Es wird zu Koalitionen der militärisch Fähigen kommen, an denen Deutschland dann auch nur noch bedingt beteiligt sein wird.

Das Interview führte Joachim Zießler

* PD Dr. Markus Kaim ist Leiter der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

Originaltext: Landeszeitung Lüneburg Digitale Pressemappe; 14.10.2010; www.presseportal.de/



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