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Auf Feindsuche

Wer braucht noch die NATO?

Von Wolfgang Gehrcke *

Die NATO ist nicht in der Lage, überzeugend nachzuweisen, warum man das Bündnis heute noch braucht. Deutschland, Polen, Frankreich, Litauen – dieser Teil Europas ist von niemandem wirklich bedroht. Weder verbal noch konkret. Den letzten Krieg in Europa, den Krieg gegen Jugoslawien, hat die NATO selbst vom Zaune gebrochen.

Deutschland wird nicht am Hindukusch verteidigt. Ebenso wenig wie in Polen oder Tschechien. Deutschland führt Krieg am Hindukusch, und die NATO will diesen Krieg verschärfen. Und in Polen und Tschechien will sie Raketenabwehrsysteme stationieren. Die NATO will sich jetzt eine neue Strategie geben. Aber es sollen nur wenige wissen, was wirklich drin steht. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen, ein politischer Hardliner, hat das Dokument geheim gestellt. Von 622 Abgeordneten des Deutschen Bundestages durften lediglich 14 Kolleginnen und Kollegen das Papier sehen und das auch nur in der Geheimschutzstelle. Zu diesen 14 gehören mein Kollege Paul Schäfer von der LINKEN und ich.

Die NATO ist nicht in der Lage, überzeugend nachzuweisen, warum man das Bündnis heute noch braucht. Deutschland, Polen, Frankreich, Litauen – dieser Teil Europas ist von niemandem wirklich bedroht. Weder verbal noch konkret. Den letzten Krieg in Europa, den Krieg gegen Jugoslawien, hat die NATO selbst vom Zaune gebrochen, das sollten wir nicht vergessen. Welche Feinde benennt also die NATO, gegen die gerüstet werden müsse? Na klar, den »internationalen Terrorismus«. Terror ist abzulehnen, kein Zweifel, und zu überwinden. Die UNO muss endlich eine völkerrechtliche Definition des Begriffs Terror bzw. Terrorismus liefern. Terror ist, diese Definition hat Oskar Lafontaine mühsam der Bundesregierung abgerungen, die Durchsetzung politischer Ziele mit gewaltsamen Mitteln. Terrorismus ist ein globales Problem. Es ist möglich, den Kampf gegen den Terrorismus zu gewinnen, wenn Gerechtigkeit, Würde, Vielfalt der Kulturen dominieren. Der »Krieg gegen den Terror« jedoch ist gleichsam selbst Terror, ist Willkür. Gegen Selbstmordanschläge und Guerilla-Kämpfer helfen keine Raketen, keine Hightech-Waffen. Um die Aufstellung eines Raketensystems zu begründen, müssen schon andere Feinde her.

Auf dem NATO-Gipfel in Lissabon soll es beschlossen werden, gegen Iran gerichtet. Vieles in den Szenarien erinnert an den Irak-Krieg. Bis heute gibt es keinen Beweis dafür, dass Iran tatsächlich an der Atombombe arbeitet. Wie schon gegen Irak wird die Schraube der Sanktionen angezogen, werden politische Lösungen ausgeschlagen. Eine politische Lösung könnte die von der Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag vorgeschlagene Konferenz für eine atomwaffenfreie Zone in Nahost sein. Doch nur Israel hat dort die Bombe, und die soll nicht zur Disposition stehen. Also bleibt politisch nur der mühsame Weg – Abrüstung durch Sicherheit. Keine Frage, das politische Regime in Iran ist grundsätzlich zu kritisieren und die Person des iranischen Präsidenten Ahmadinedschad samt seiner Politik eignet sich, wie vordem bereits Saddam Hussein, zum Oberschurken. Nur – ein Kriegsgrund ist das nicht. Wenn also nicht Iran, vielleicht doch Russland?

Die Bedrohung aus dem Osten, das war der Anlauf Nr. 1, den Obama gestoppt hat. Und nun heißt es, Russland solle mitmachen (dürfen), beim Missile-Defence-Spiel. Das ist umstritten in der NATO, da wird das Konzept schwammig. Die Positionen sind nicht ausbalanciert, auch in Russland nicht. Führende NATO-Strategen wollen das riesige ökonomische und militärische Potenzial Russlands nicht draußen lassen.

Zwei Beispiele: Ohne Kooperation mit Russland müsste die NATO den Krieg in Afghanistan rasch beenden. Moskau gewährt der NATO Transportrouten für den Nachschub. Und Russland ist noch immer entscheidend für die Energieversorgung Europas. Die NATO braucht Russland. Ex-Verteidigungsminister Volker Rühe und der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses Naumann etwa wollen Russland als NATO-Mitglied. Nicht so schnell, bremst Bundeskanzlerin Merkel. Auch mit Blick auf die Diskussion um Russland und die Sorgen der östlichen NATO-Mitglieder.

Polen, die baltischen Republiken und andere empfinden »Phantomängste« aus der Vergangenheit und misstrauen westlicher Verbindlichkeit. Sensibilität und Vertrauensbildung auch und durch Russland wäre angesagt. Vater und Sohn Bush waren für die östlichen NATO-Mitglieder als bekennende Antikommunisten, auch wenn der Kommunismus weg war – berechenbar. Obama ist es für sie offenbar nicht. Zu Unrecht. Der NATO-Generalsekretär will Russland ohne große Mitsprache einbinden in Abstimmungs- und Verpflichtungsmechanismen. Es ist wünschenswert, dass Moskau seinen Vorschlag für ein neues europäisches Sicherheitssystem präzisiert. Sicherheit in Europa ist nicht Sicherheit vor Russland, sondern Sicherheit mit Russland.

Sinnvoll wäre eine neue Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – unter den heutigen Bedingungen, mit den USA, aber ohne die NATO. Für Abrüstung und Abrüstungsverhandlungen ist die Allianz nicht zuständig und auch völlig ungeeignet. Bislang war die NATO bei den Abrüstungsverhandlungen zwar indirekt dabei – aber nicht selbst am Verhandlungstisch. Wenn der NATO-Generalsekretär jetzt das Militärbündnis strategisch auch für die Abrüstung zuständig erklären will, geht es ihm darum, alle Bedingungen vom Bündnis setzen zu lassen. Über den Abzug der US-Atombomben aus Deutschland soll dann also die NATO entscheiden und nicht mehr der Bundestag. Obama kommt, Medwedjew kommt, Merkel kommt und ich komme auch nach Lissabon – um gegen die NATO zu demonstrieren.

* Wolfgang Gehrcke ist Mitglied des Parteivorstands DIE LINKE und Außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion.

Aus: Neues Deutschland, 12. November 2010 (Beilage)



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