Durfte Berlin der neuen NATO-Strategie zustimmen? Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht
Fischer und Scharping haben gegen die PDS-Argumente einen schweren Stand
Worum es geht
Am 19. Juni fand vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungs-
gerichts die mündliche Verhandlung in dem Organstreitverfahren über die Zustimmung der Bundes-
regierung zu den Beschlüssen über das neue Strategische Konzept
der NATO. Dieses Strategische Konzept des Militärbündnisse war von dem auf der Ebene
der Staats- und Regierungschefs tagenden NATO-Rat im April 1999 beschlossen
worden. Es behandelt unter anderem die Möglichkeit von sog. "Krisenbewältigungen"
bis hin zu militärischen "Krisenreaktionseinsätzen", und zwar außerhalb des im NATO-Vertrag ursprünglich abgegrenzten Bündnisgebiets. Die neue NATO-Strategie sieht also Militäreinsätze "out of area" und ohne Legitimation durch die Vereinten Nationen vor.
Die PDS-Fraktion im Deutschen Bundestag hatte im Herbst 1999 den Antrag gestellt
festzustellen, dass die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zu diesen
Beschlüssen, ohne das verfassungsmäßig vorgeschriebene
Zustimmungsverfahren beim Deutschen Bundestag einzuleiten, gegen
Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG verstoßen und damit Rechte des Deutschen
Bundestages verletzt hat. Die PDS sieht in dem neuen Strategischen
Konzept eine unzulässige Ausweitung des Bündniszweckes über
die Verteidigung im Sinne des Art. 5 NATO-Vertrag hinaus, die vom NATO-Vertrag
und vom dazu ergangenen Zustimmungsgesetz des Bundestages nicht gedeckt sei.
Die Bundesregierung sei zur Wahrung der Rechte des Bundestages verpflichtet
gewesen, vor Erteilung der Zustimmung die gesetzgebenden Körperschaften
gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz1 GG zu beteiligen.
Im Zentrum der mündlichen Verhandlung am 19. Juni 2001 ging es nun unter anderem um
die Frage, wie der Vertragsbegriff des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG
im Hinblick auf die Fortentwicklung eines bestehenden Systems
gegenseitiger kollektiver Sicherheit durch die Staats- und
Regierungschefs zu verstehen ist. Es wurde erörtert, ob aus
Art. 24 Abs. 2 GG Beteiligungsrechte des Bundestages abzuleiten sind, wenn
die Bundesregierung an nicht nur unwesentlichen völkerrechtlichen
Vertragsfortbildungen mitwirkt. Nach Ansicht der PDS ist es
der Bundesregierung verwehrt, auf diesem nichtförmlichen Weg
völkerrechtliche Verpflichtungen entstehen zu lassen, die vom Bundestag
nicht mehr oder nur noch unter erschwerten Bedingungen korrigiert
werden können.
Mit anderen Worten: Das Bundesverfassungsgericht sollte in diesem Fall nicht die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des neuen strategischen Konzepts der NATO oder gar des NATO-Kriegs gegen Jugoslawien feststellen, sondern "nur" darüber befinden, ob die Zustimmung der Regierung zum neuen NATO-Konzept ohne Votum des Parlaments Rechtens sei. Es ging also auch darum, das Verhältnis zwischen Exekutive und Legislative bei der Entscheidung über außenpolitischen Grundsatzfragen zu klären. Umso skandalöser, dass der Bundestag in einem Akt vorauseilender Selbstentmachtung dem Organstreit auf Seiten der Bundesregierung, also der Exekutive, beigetreten ist. Ausgerechnet Verfassungsrechtsausleger Rupert Scholz (CDU) vertrat in seiner Eigenschaft als Vorsitzende des Bundestags-Rechtsausschusses die Sache der Legislative. Und wie er das tat! Seine Stellungnahme gipfelte darin, dass alle übrigen Fraktionen ihre Mitspracherechte, die sich bei
völkerrechtlichen Verträgen aus dem Artikel 59 GG ergeben, nicht verletzt sähen. Das Konzept sei im Plenum "eingehend" beraten und in die Ausschüsse überwiesen worden. Niemand im Bundestag habe ein Interesse gehabt, einen förmlichen Beschluss zu fassen. Im übrigen hätte die
PDS-Fraktion selbst die Möglichkeit gehabt, ein Zustimmungsgesetz zu beantragen, was aber unterblieben sei.
Bundesregierung in Argumentationsnöten: Unterschrieben oder nicht unterschrieben?
Hauptakteure auf Seiten der Bundesregierung waren die Minister Fischer und Scharping. Beide verteidigten vehement die Billigung des NATO-Konzepts durch die Bundesregierung. Außenminister Fischer sagte aus, dass die neue NATO-Strategie weder ein Vertrag noch eine Vertragsänderung, sondern ein politisches Dokument sei, ein schlichtes "Kommuniqué" eben. Zwischen den Bündnispartnern habe ausdrückliches Einvernehmen darüber bestanden, dass eine politische Absprache und keine vertragliche Bindung gewollt sei. Die "neuen politischen Absprachen" hätten sich also nach Fischer im Rahmen der alten NATO-Verträge bewegt und bedürften deshalb nicht der Zustimmung durch den Bundestag. Die neue NATO-Strategie sei im Übrigen nicht von den Staats- und Regierungschefs unterschrieben worden. Warum diese Feststellung, Herr Fischer? Wenn es so ist, wie zuvor behauptet wurde, dass sich das neue - "politische" - NATO-Konzept ohnehin nur im Rahmen des alten Vertrags bewegt, dann hätte die Bundesregierung doch ruhig unterschreiben können. Legt der Außenminister aber Wert darauf, dass die Regierung "nicht unterschrieben" hat, so könnte der Verdacht entstehen, sie hätte gerade deshalb nicht unterschrieben, weil der Text über den Rahmen des NATO-Vertrags hinausgehe und deshalb vor einer Unterschrift eine Entscheidung durch den Bundestag hätte herbeigeführt werden müssen.
Ganz davon abgesehen war die Erklärung Fischers, die Bundesregierung hätte gar nicht unterschrieben, eine typische Fischer-"Wahrheit". Der Völkerrechtler Professor Dr. Norman Paech, der die Klageschrift der PDS ausgearbeitet hatte, hatte genau das Gegenteil behauptet und damit für "gewaltige Unruhe auf den
Regierungsbänken" gesorgt (SZ, 20.06.2001). Paech: Das neue NATO-Konzept
sei in Washington von den Regierungschefs "nicht nur abgenickt,
sondern unterzeichnet worden". Ein Konzept, das die Unterschriften der Staats- und Regierungschefs trägt, hat natürlich eine andere rechtliche Bedeutung als ein lediglich zustimmend zur Kenntnis genommenes Kommuniqué. Was stimmte nun? Minister Scharping wusste später eine Antwort, die Professor Paech nicht widerlegt, aber auch seinen Ministerkollegen Fischer nicht desavouierte: Beim NATO-Gipfel in Washington, im April 1999 sei "nur eine Erklärung", nicht aber das Konzept als solches unterzeichnet worden.
"Vertragszweck" und "politisches Konzept": Zwei paar Schuhe?
Sehr überzeugend wirkte Verteidigungsminister Scharping ansonsten aber auch nicht. Nach seinen Worten bekräftigt das neue NATO-Konzept den "fortdauernden Zweck des
Bündnisses". Eine Veränderung sei dabei nur im "politischen
Umfeld" eingetreten und nicht beim "Zweck" des Bündnisses. Zur Erinnerung: Zweck des NATO-Bündnisses war nach dem Vertrag von Washington von 1949 immer gewesen, die Vertragsstaaten vor einem militärischen Angriff zu schützen und im Fall eines Angriffs gegenseitig Beistand zu leisten. Wenn nun der Zweck des Bündnisses auch darin besteht, "Nicht-Artikel-5-Aufgaben" wahrzunehmen, neben der "Verteidigung" also auch Angriffsoptionen vorzusehen, dann ist das in unserem Verständnis nicht nur eine Veränderung im "politischen Umfeld", wie Scharping sagt, sondern es ist eine Erweiterung des NATO-Vertrags in seinem Wesensgehalt. Auf die Scharpingsche Unterscheidung von "Vertragszweck" und "politischem Konzept" lässt sich der Kern der Argumentation der Bundesregierung vor dem Verfassungsgericht reduzieren. Dies geht auch aus der Presseerklärung der Bundesregierung vom 19. Juni hervor, in der dieser Punkt hervorgehoben wurde: "Das neue strategische Konzept der NATO sieht vor, dass die
Allianz notfalls auch außerhalb des Bündnisgebietes in Krisen
eingreifen darf. Erster Zweck der NATO bleibt jedoch weiterhin,
die Sicherheit ihrer Bündnispartner zu gewährleisten."
Dazu gab es eine kuriose Antwort Fischers auf eine Frage der Gerichtspräsidentin Jutta Limbach. Sie wollte von Fischer wissen, ob mit dem neuen NATO-Konzept nicht eine "substanzielle Aufgabenerweiterung" der NATO stattgefunden habe. Fischer stritt nun nicht nur eine "substanzielle" Aufgabenerweiterung ab, sondern er wollte - im Gegensatz zur eben zitierten Presseerklärung der Bundesregierung - überhaupt keine Aufgabenerweiterung sehen. Im Gegenteil: Er sehe "im Saldo eher eine Aufgabenminderung"!
Eine weitere Unstimmigkeit in der Argumentation ergab sich aus Fischers Behauptung, die neue NATO-Strategie sei rechtlich völlig unverbindlich. Die Außenpolitik eines Staates, das heißt die Exekutive müsse auf Entwicklungen reagieren können, ohne "gleich völkerrechtliche verbindliche Vertragsänderungen" beschließen zu müssen. Auf der anderen Seite wurden er und Scharping nicht müde darauf hinzuweisen, wie schädlich die von der PDS-Fraktion angezettelte Diskussion sei. Falls das Gericht der Klage stattgebe, befürchten beide "verheerende" außenpolitische Schäden. In einem Interview äußerte Fischer gegenüber der Frankfurter Rundschau sogar die Befürchtung, dass die USA ihr europäisches Engagement aufgeben könnten, wenn die NATO-Verträge in Deutschland einem neuen Ratifizierungsverfahren unterworfen würden. Fischer wörtlich: "Mir ist es wichtig nochmals zu betonen, wie bedeutsam die Entscheidung des Gerichts für die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Bundesrepublik ist, gerade auch im Hinblick auf unseren wichtigsten Bündnispartner, die USA." (FR, 20.06.2001) Auch hier kann nur eines richtig sein: Entweder die neue NATO-Konzeption ist eine nicht bindende politische Erklärung, die - im Sinne der außenpolitischen Flexibilität der Exekutive - jederzeit verändert werden kann, oder sie ist doch ein so felsenfeste Verabredung, dass eine Diskussion darüber im Rahmen eines Ratifizierungsverfahrens die USA irritieren könnte.
In der Verhandlung stellten die Verfassungsrichter/innen jede Menge gescheiter Fragen, die von den Regierungsvertretern mehr oder weniger gescheit beantwortet wurden. Das Bundesverfassungsgericht wird sein Urteil frühestens im Herbst 2001 verkünden. Man darf gespannt sein, ob es auf diese Argumentation herein fällt oder ob es sich von der hervorragend ausgearbeiteten Klageschrift von Norman Paech beeindrucken lassen wird.
Peter Strutynski
Quellen:
Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 58/2001 vom 5. Juni 2001
Bundesregierung, Pressemitteilung vom 19. Juni 2001
Tageszeitungen vom 19. und 20. Juni 2001 (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Rundschau, Tagesspiegel, junge welt)
Pressestimmen
Insgesamt hat das Ereignis den deutschen Blätterwald kaum zum Rauschen gebracht. In der Regel wurde über den Inhalt der Klage und über die Argumente von Regierung und Bundestag(smehrheit) knapp berichtet - lediglich die Frankfurter Rundschau räumte der Verhandlung in Karlsruhe eine halbe "Extra"-Seite ein. Leitartikel und Kommentare waren eher selten. Im Folgenden geben wir eine Auswahl aus Reportagen und Kommentaren.
Die Frankfurter Rundschau hält den Streit vor dem Verfassungsgericht nicht nur für eine reine Juristensache. Richard Meng stellt in seinem Kommentar "Kriegs-Recht" u.a. fest:
Rein vom Anlass her ist dieses Karlsruher Verfahren ein reiner Juristenstreit. Denn
es gibt keinen Zweifel daran, dass der Bundestag das 1999 beschlossene
Nato-Konzept zur Öffnung für Konfliktprävention und Krisenreaktion mit breiter
Mehrheit gebilligt hätte, wenn er denn formal gefragt worden wäre. Aber trotzdem
geht es jetzt vor dem Verfassungsgericht um eine wichtige Klärung. Denn wie so
oft bei den langfristigen Trends in der internationalen Politik stellt sich die Frage, ab
wann aus vielen kleinen Wandlungen eine neue Qualität wird. Und ob die "neue
Nato", wie sie sich im Zuge ihrer ersten Erweiterungsrunde zur Beruhigung der
Russen so gerne nannte, tatsächlich in juristischer Hinsicht so ganz die alte ist,
wie die Regierung es für den deutschen Hausgebrauch sieht.
... Die Transparenz kann gar nicht groß genug sein. Parlament und Öffentlichkeit sollten
sich einmischen, so oft es geht. Nur so kann internationale Politik aus dem
Halbschatten reiner Regierungskontakte herauskommen. Das freilich kann
Karlsruhe nicht richten. Es bleibt Sache des Volkes und seiner Vertreter, die
bisher oft allzu desinteressiert waren. (FR, 20.06.2001)
Der Süddeutschen Zeitung ist die Klage kein eigener Kommentar wert. Warum, verdeutlicht ein Hintergrundartikel von Peter Münch, in dem er die neue NATO-Strategie als vollkommen in Ordnung und im Grund alternativlos hinstellt. Auszüge aus dem Artikel mit dem bezeichnenden Titel "Hüter von Sicherheit und Stabilität":
Die Sinnkrise der Nato war unvermeidlich gewesen. Mit dem Ende
des Kalten Krieges war der Feind kalt gestellt, und das Bündnis
suchte nach einer neuen Berechtigung. Es machte sich auf den
Weg von der Verteidigung zur Friedenssicherung, und dieser
Weg führte quer durch den Balkan. ... Der Kanonendonner auf dem Balkan
war die Begleitmusik zu den Debatten über eine neue
Nato-Strategie, die Anfang der Neunzigerjahre eingesetzt
hatten. Das Ergebnis sollte feierlich besiegelt werden auf dem
Gipfeltreffen zum 50-jährigen Bestehen der Allianz am 24. und
25. April 1999 in Washington. Doch die Geschichte war schneller
als die Planer des historischen Festaktes. Der Beginn des
Kosovo-Krieges am 24. März nahm das Strategie-Dokument
vorweg. Mit den Angriffen gegen Jugoslawien präsentierte sich
die neue Nato auf dem Schlachtfeld.
Das einen Monat später nachgelieferte "Neue Strategische
Konzept" stellt zwar immer noch den gegenseitigen Schutz der
mit Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien nunmehr 19
Nato-Mitglieder vor Angriffen von außen in den Mittelpunkt.
Dieser "fortdauernde und wesentliche Zweck der Nato" wird im
ersten Teil des Dokumentes hervorgehoben. Darüber hinaus
machte sich die Allianz jedoch zum Hüter der "Sicherheit und
Stabilität im euro-atlantischen Raum".
Die Nato erhob den Anspruch, von nun an auch Werte wie
Demokratie, Freiheit und Menschenrechte zu verteidigen. Und sie
nahm sich das Recht, künftig unter Umständen auch außerhalb
des Bündnisgebietes von sich aus in Krisen und Konflikte
einzugreifen. Der Ernstfall Kosovo passte exakt in diesen
Entwurf. Monatelang hatte sich der Westen um ein Mandat des
UN- Sicherheitsrates zur Intervention bemüht. Dies war jedoch
an der russischen und chinesischen Veto-Macht gescheitert. Mit
Erlass der Activation Order im Oktober 1998 - damit autorisierte
die Nato das Militär zu Luftangriffen, was der Bundestag am 16.
Oktober mit der Bereitstellung deutscher Tornados absegnete -
setzte sich die Allianz qua eigenen Anspruchs über die Blockade
durch den Sicherheitsrat hinweg. Das Fehlen eines Mandats war
nach dem Buchstaben des Gesetzes ein Bruch des Völkerrechts.
Gerechtfertigt wurde er jedoch mit einer Verpflichtung zur
"humanitären Intervention" angesichts eines drohenden
Völkermordes.
...
Auch innerhalb der im Kosovo geschlossen auftretenden Allianz
war das "Neue Strategische Konzept" freilich nicht unumstritten.
Neben der problematischen Selbstmandatierung war namentlich
den Franzosen unwohl bei einer geografisch allzu weit gefassten
Definition des Nato-Einsatzgebietes. Die Allianz sollte nicht in die
Position des Weltpolizisten geraten und die Europäer nicht in die
Rolle des Hilfssheriffs der USA. Der Streit wurde mit
Kompromissformulierungen überdeckt. Die Erfahrungen im
Kosovo, wo der Frieden weit schwieriger zu gewinnen ist als der
Krieg, lassen jedoch ohnehin erwarten, dass sich die Nato nicht
mehr so rasch auf neue Einsätze einlassen wird. (SZ, 20.06.2001)
Die letzten Zeilen sollen wohl das Publikum beruhigen: Alles nur halb so schlimm! - In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kommt das Thema erst auf Seite 16 mit einem Kommentar zum Zuge (berichtet wurde schon weiter vorn), der erwartungsgemäß regierungskonforme Überlegungen enthält:
... das Gericht hält es offenbar nicht für aus der Luft gegriffen, daß
Rechte des Parlaments verletzt wurden, als die Regierung vor
gut zwei Jahren einem neuen Aufgabenspektrum der Nato
zustimmte. Der enge zeitliche Zusammenhang mit dem
Kosovo-Krieg läßt in der Tat den Eindruck entstehen, hier
werde am Bundestag vorbei das Verteidigungs- zu einem
Interventionsbündnis umgestaltet. Doch um einen Vertrag, den
das Parlament zu ratifizieren hätte, handelt es sich nur, wenn
die einzelnen Staaten sich rechtlich binden wollen. In keinem
betroffenen Land sah man das neue Konzept jedoch als
Änderung des Nato-Vertrages an. Weder der Bundestag noch
irgendein anderes Parlament haben förmlich zugestimmt. Das
heißt nicht, daß die deutsche Volksvertretung eine Änderung
der Nato-Strategie nicht kontrollieren könnte. Die Rechte des
Bundestages bleiben unberührt. Das wichtigste hat ihm das
Verfassungsgericht 1994 gegeben, als es Kampfeinsätze an die
Zustimmung des Parlaments band. (FAZ, 20.06.2001)
Auch für den Berliner "Tagesspiegel" existiert kein eigentliches Problem, denn: "Das letzte Wort hat der Bundestag" - so ist der Kommentar (Autor: cvm) überschrieben:
... Kein Buchstabe des Nato-Vertrags wurde in Washington
verändert, warum also sollte das deutsche Parlament - juristisch gesehen - ein
Ratifizierungsrecht haben? Politisch jedoch bringt die PDS gute Argumente vor. Das
neue Konzept veränderte das Selbstverständnis der Allianz radikal: Zur Verteidigung des
Bündnisgebietes kamen Auslandseinsätze zur Verteidigung der Bündnisinteressen,
darunter auch des Ölnachschubs. Wenn deutsche Soldaten zu diesem Zweck in die
Welt geschickt werden sollen, geht das den Bundestag etwa nichts an? Oh doch. Aber
diese Mitsprache - und Entscheidung - wird auf anderem Weg geregelt. Es gibt keine
Automatik, nach der Deutschland sich an jeder Nato-Aktion beteiligt. Jeden
Auslandseinsatz deutscher Soldaten muss das Parlament einzeln beschließen - und
dieses Mandat periodisch mit Mehrheitsbeschluss verlängern. Selbst eine generelle
Absegnung der Nato-Doktrin könnte niemals als Blankovollmacht ausreichen. Das letzte
Wort hat also der Bundestag. Und das ist gut so. (Tagesspiegel, 20.06.2001)
Dieses "Und das ist gut so" scheint sich zu einem geflügelten Wort politischer Debatten zu mausern. Vielleicht ist es ja wirklich zu etwas gut. Die junge welt findet gewöhnlich nicht gut, was der Tagesspiegel so gut findet. So auch in diesem Fall. Der Artikel war überschrieben mit "Die Stunde der Demagogen". Ein Auszug daraus:
...
Die PDS kritisiert an der neuen Strategie die grundlegende Abkehr der Allianz von
ihrem Selbstverständnis als Verteidigungsbündnis, weil erstmals auch
Krisenreaktionseinsätze außerhalb des Bündnisgebiets zugelassen werden, notfalls auch
ohne Mandat der Vereinten Nationen. PDS-Fraktionschef Roland Claus sagte vor
Gericht, das Konzept sei eben keine unverbindliche Verabredung, sondern habe
Vertragscharakter und die »Macht des Faktischen«. Die Bundeswehr orientiere sich in
ihrer Planung an diesen Vorgaben, etwa bei Standortentscheidungen. Der
PDS-Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi hatte vor Verhandlungsbeginn betont, das
Parlament hätte gefragt werden müssen, weil dies für die Rechtssicherheit der Soldaten
und der Haushälter notwendig gewesen sei.
Die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen- Bundestagsfraktion, Angelika Beer,
stützte die Aussagen der Minister. Es handele sich bei dieser Übereinkunft zwischen den
NATO-Partnern nicht um einen Vertrag. Sie müsse also nicht vom Parlament ratifiziert
werden, sagte sie am Dienstag im WDR. Wie Scharping betonte Beer, daß jeder
Einsatz der Bundeswehr nach wie vor vom Bundestag gebilligt werden müsse. Sie
verwies aber darauf, daß die Grünen Diskussionen solch weitreichender Fragen durch
die Abgeordneten grundsätzlich für richtig halten. ... (jungewelt, 20.06.2001)
Das Hamburger "Abendblatt" ist sich nicht so sicher wie die SZ, FAZ oder der Tagesspiegel. Gestützt auf eine dpa-Meldung über die Verhandlung in Karlsruhe, stellt das Blatt aber wenigstens ein paar Fragen:
War die Zustimmung Deutschlands zur neuen
NATO-Strategie 1999 nun verfassungskonform oder nicht?
Diese Frage beschäftigt das Bundesverfassungsgericht
(BVG). Gestern war mündliche Verhandlung. Die PDS klagt
und forderte, dass für eine Teilnahme an
friedenssichernden NATO-Einsätzen die Zustimmung des
Bundestags erforderlich sei. Grund: Solche Einsätze
gingen über den klassischen Verteidigungszweck der NATO
hinaus.
Genau das hatte die SPD im AWACS-Verfahren
1994 selbst vorgebracht. Damals entschied das Gericht,
dass deutsche Soldaten nur mit Zustimmung des
Bundestags an Auslandseinsätzen unter dem Dach der
Vereinten Nationen (UNO) mitwirken können.
Doch damals war die SPD in der Opposition, heute
muss sie als Regierungspartei auf die Rolle Deutschlands in
der NATO und auf die Befindlichkeiten der Partner
Rücksicht nehmen. ...
Der sozialdemokratische und der grüne Minister
wandten sich vehement gegen einen Parlamentsvorbehalt.
Dass es dabei nicht nur um das NATO-Konzept ging,
sondern auch ums Prinzip, zeigten die bohrenden Fragen
der Verfassungsrichter, die vor allem Joschka Fischer
galten. Die Kernfrage ist: Wie ist in außenpolitischen
Angelegenheiten die Balance zwischen Bundestag und
Bundesregierung austariert?
... Grundsätzlich ist die Außenpolitik das Geschäft der
Bundesregierung. Doch Vereinbarungen zwischen Staaten
sind sehr kompliziert. Die 19 Staats- und Regierungschefs
der NATO-Partner haben 1999 die Washingtoner Erklärung
unterschrieben und darin das - nicht unterzeichnete -
neue Strategische Konzept billigend zur Kenntnis
genommen. Ist das nun ein bindender Vertrag, wie die
PDS meint? ... (Abendblatt, 20.06.2001)
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