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Mehr Knall pro Dollar

NATO-Gipfel in Chicago bringt mehr als 20 multinationale Aufrüstungsprojekte auf den Weg. Erste Stufe des Raketenabwehrschildes aktiviert

Von Rainer Rupp *

Die NATO erfindet sich neu«, der Chicago-Gipfel stellt die Weichen auf »intelligente Verteidigung«, krähten nach dem ersten Tag die beim NATO-Gipfel der Superlative in den USA versammelten Politiker des atlantischen Bündnisses für Angriffskriege. Angesichts der Haushaltsengpässe stehen insbesondere die europäischen NATO-Mitglieder unter dem Druck ihrer Bevölkerung, auch beim Militär zu sparen. Dem entgegen stehen die massiven Forderungen nach größeren Anstrengungen der Europäer, da die USA inzwischen etwa 80 Prozent der NATO-Militärausgaben auf sich vereinen und die europäische Militärmaschine zunehmend von US-Militärs als veraltetes Stückwerk abgetan wird, mit dem keine modernen Kriege mehr zu führen sind. Als Beweis dafür wird der Libyen-Krieg angeführt. Der habe gezeigt, daß die Europäer ohne die massive Hilfe der USA in Schlüsselbereichen wie z. B. Aufklärung, Zielerkennung und -erfassung, Versorgung mit Präzisionswaffen und Lufttankern etc. den Krieg gar nicht hätten führen können.

Um zu verhindern, daß die knappen Kassen und die mangelnde Aufrüstungsbereitschaft der Europäer in Chicago zu einer handfesten Krise führen, hatte das NATO-Generalsekretariat unter Leitung seines Chefs Anders Fogh Rasmussen einen Weg gefunden, das Problem zu übertünchen. Indem er seinen Kompromißvorschlag mit dem jazzigen Namen »Smart Defence« (»Intelligente Verteidigung«) der Öffentlichkeit als bahnbrechende Innovation präsentierte, hat er den 28 Mitgliedsstaaten eine Brücke gebaut, über die sie weitgehend ohne Gesichtsverlust aus dem Dilemma herauskommen.

Das Ziel von »Smart Defence« ist es, die bisherige Doppelentwicklung von Waffen- und Rüstungsprojekten zu verhindern und die knappen Ressourcen statt dessen zusammenzuführen. Derartige Bestrebungen, »more bang for a buck« (mehr Knall pro Dollar) durch gemeinsame Produktion zu bekommen, sind so alt wie die NATO und bisher stets an den nationalen Eifersüchteleien gescheitert, weil jedes Land in möglichst vielen militärtechnischen Spitzenbereichen mit eigener Produktion mitmischen will. So kam es immer wieder zu nationalen Alleingängen und Dopplungen bei der Entwicklung von Waffensystemen und somit verteuerten Rüstungsprojekten. Dennoch ist es der NATO-Führung in Chicago gelungen, trotz allgemeinen Spargebots und Haushaltssperren mit Hilfe der »Nebelwerferdiskussion« um »Smart Defence« mehr als 20 multinationale Aufrüstungsvorhaben zur Verbesserung der zukünftigen Interventionsfähigkeit der NATO auf den Weg zu bringen.

Zugleich hat das Bündnis die Aktivierung der ersten Stufe des sogenannten Raketenabwehrschilds für Europa verkündet, der offiziell gegen Iran gerichtet sein soll. Teheran verfügt jedoch weder über Atomwaffen noch über entsprechende Langstreckenraketen, um Europa zu bedrohen. Deshalb sieht der Kreml in der NATO-Initiative eine feindselige Maßnahme gegen sein Abschreckungspotential im Fall eines US- oder NATO-Angriffs auf Rußland. Auch können die Europäer selbst nicht über »ihr Abwehrsystem« bestimmen, denn die jetzt aktivierten US-Raketen und US-Radarstationen in der Türkei und auf in spanischen Hoheitsgewässern stationierten US-Schiffen kommen unter ein US-besetztes NATO-Kommando in Ramstein (Deutschland). Es handelt sich also um eine rein US-amerikanische Operation.

* Aus: junge Welt, Dienstag, 22. Mai 2012


Angriffswaffe

NATO-Raketenschild beschlossen

Von Werner Pirker **


US-Präsident Barack Obama, Friedensnobelpreisträger und Verkünder einer atomwaffenfreien Welt, will das von seinem Vorgänger George W. Bush gestartete Projekt zur Installierung eines Raketenabwehrsystems zu Ende bringen. Eine drastische Verschlechterung der Beziehungen zu Rußland in Kauf nehmend, haben die NATO-Länder auf ihrem Gipfel in Chicago beschlossen, mit dem Bau des Abwehrschirmes zu beginnen.

Über die Errichtung eines Raketenabwehrsystems erhofft sich das westliche Militärbündnis, das nukleare Gleichgewicht zu seinen Gunsten aufheben zu können. Was als Verteidigungssystem ausgewiesen ist, ist zur Sicherung der atomaren Erstschlagkapazität gedacht. Dem militärischen Gegner soll die Möglichkeit zur adäquaten Antwort auf einen Atomangriff genommen werden, was das Risiko eines solchen entscheidend erhöhen würde. Das wird vor allem von Rußland so wahrgenommen, das in der Errichtung des westlichen Abwehrschirmes vor allem eine gegen die eigene Sicherheit gerichtete Maßnahme sieht. Der russische Generalstabschef drohte angesichts der »destabilisierenden Natur des Raketenschildes« sogar mit »präventiven Gewaltmaßnahmen«. Moskau glaubt den Beteuerungen aus dem NATO-Hauptquartier nicht, daß der Schirm vor allem gegen sogenannte Irrläufer der Weltpolitik, wie den Iran, gerichtet sei. Als eine sich mit den USA auf Augenhöhe befindliche Atommacht, betrachtet sich Rußland als das eigentliche Zielobjekt einer auf die Erlangung der absoluten militärischen Überlegenheit gerichteten NATO-Strategie.

Der Raketenschild ist als westliches Gemeinschaftsprojekt konzipiert, wobei die Führungsrolle der USA natürlich unangefochten ist. Die Amerikaner entsenden Schiffe mit Raketenabwehrsystemen ins Mittelmeer. Deutschland wird seine »Patriot«-Systeme zur Verfügung stellen. Die Kommandozentrale soll im deutschen Ramstein angesiedelt sein.

Das Raketenabwehrsystem erweist sich auch als Angriffswaffe gegen die demokratischen Verfassungen der NATO-Mitgliedsländer. Wie aus der FAZ zu erfahren war, wurde auf dem Gipfel in Chicago angeregt, nationale Einsatzvorbehalte künftig nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen. Damit solle verhindert werden, daß bei Auslandseinsätzen einzelne Verbündete den Zugriff auf gemeinsam genutzte Waffensysteme und Einheiten blockieren können. Auch die Bundesregierung ist der Meinung, daß über das deutsche Parlamentsbeteiligungsgesetz nachgedacht werden müsse. Angeheizt wurde die Diskussion über die Entmündigung der Volksvertretungen in Kriegseinsätze betreffenden Fragen durch die Verkündung der Einsatzbereitschaft der ­NATO-Raketenabwehr für Europa.

Militarisierung und Demokratie vertragen sich bekanntlich nicht. So wie sich Demokratie und EU nicht vertragen. Der Vertrag von Lissabon, die inoffizielle Verfassung der EU, ist die einzige Verfassung der Welt, in der militärische Aufrüstung verpflichtend vorgeschrieben ist.

** Aus: junge Welt, Dienstag, 22. Mai 2012 (Kommentar)


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