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Nach dem Libyen-Krieg: Noch mehr für's Militär?

Gedanken zum NATO-Gipfel in Chicago

Von Lühr Henken *

Am 20. und 21. Mai fanden sich die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten zwei Jahre nach Lissabon wieder einmal zu einem Gipfeltreffen, diesmal in Chicago, zusammen. Es war ihr bisher größter. Man zählte 60 Staats- und Regierungschefs, weil auch die Koalitionspartner der NATO-Kriege in Afghanistan, Libyen und Kosovo, Mitglieder des Programms „Partnerschaft für den Frieden“, des Mittelmeerdialogs und der Istanbul-Kooperationsinitiative vom Golf erschienen waren. Verabschiedet haben die 28 Regierungschefs der NATO-Staaten eine umfangreiche Chicago-Gipfel-Erklärung mit 65 Einzelpunkten, die „Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs“ (34 Punkte), die „Gipfelerklärung zu Verteidigungsfähigkeiten - Auf dem Weg zu NATO-Streitkräften 2020“ (13 Punkte) und die Afghanistan-Erklärung (22 Punkte). Im Wesentlichen markiert das Treffen Präzisierungen des in Lissabon verabschiedeten „Neuen Strategischen Konzepts“.

Ich beschränke mich im Folgenden auf die Punkte Afghanistan, Libyen, „Smart Defence“, auf deutsch (aber ebenso irreführend) „intelligente Verteidigung“, Raketenabwehr, Atomwaffen in Europa und die deutsche Rolle.

Afghanistan

Der NATO-Gipfel hat die Weichenstellungen des Lissabon-Gipfels bestätigt, dass Ende 2014 die Sicherheitsverantwortung für Afghanistan von der NATO auf die afghanischen Sicherheitskräfte nach Durchlaufen eines schrittweisen Prozesses übergeben sein soll. Das mag formal für die Bodentruppen zutreffen, für die Luftwaffe gilt seit langem, dass das nicht vor 2016 der Fall ist. ISAF wird seinen Truppenbestand von derzeit 130.000 auf ein nicht bekanntes Maß reduzieren, das selbst in den bilateralen Verträgen mit der afghanischen Regierung nicht festgelegt ist. Öffentlich spekuliert wird für die Zeit ab 2015 über eine Größenordnung von 10.000 bis 30.000 Soldaten der NATO (FAZ 22.5.12), wozu die Bundeswehr etwa 1.000 beisteuern würde. (Spiegel online 15.5.12) Ein vollständiger Abzug ist das nicht. Im Gipfeldokument wird der Einsatz von einem vorrangig als Kampfeinsatz definierten hin zu einem Dienst des Trainings, Rats und der Unterstützung sich entwickelnden beschrieben (Ziffer 5). Dabei ist nicht verborgen geblieben, dass zumindest die USA ihre zahlreichen Stützpunkte im Land mit Spezialkräften und Geheimdienstleuten bestücken wird, um den Kampf gegen Aufständische mit Razzien und Drohnenangriffen in Afghanistan und Pakistan fortzusetzen. Die Hauptlast jedoch wird die afghanische Armee tragen. Ein Ende der Kämpfe ist nach dem Teilabzug nicht in Sicht, obwohl sich die Gipfelerklärung in weiten Zügen liest wie eine Erfolgsgeschichte. Man nimmt die neueste Entwicklung einfach nicht zur Kenntnis. Denn die von ISAF selbst veröffentlichten neuesten Daten über die Angriffstätigkeit der Aufständischen weisen für April 2012 den höchsten Aprilwert überhaupt aus. Dies ist insofern von Bedeutung, weil damit erstmalig seit elf Monaten eine Trendumkehr der Anschlaghäufigkeit zu verzeichnen ist. Dies ist Beleg dafür, dass die Aufständischen bei weitem nicht besiegt sind.

Eine Verhandlungslösung mit den „Taliban“ ist gleichfalls nicht in Sicht. Folglich werden wir von einer Fortsetzung des Krieges in Afghanistan ausgehen müssen, der sicherlich nicht an Intensität nachlassen wird, sondern aufgrund der relativen Schwächung durch den Teilabzug die Angriffslust der Aufständischen befeuern wird. Um dies zu unterbinden, werden die USA versuchen, den Druck auf Islamabad zu erhöhen, ihrerseits verstärkt gegen die afghanischen „Taliban“ in Pakistan vorzugehen. Aber auch dies wird nur sehr begrenzten Erfolg zeitigen, hat doch Pakistan überhaupt kein Interesse daran, die afghanischen Aufständischen zu schwächen, sollen sie doch eines Tages für eine pro-pakistanische Regierung in Kabul sorgen, damit Islamabad in seiner Erzrivalität mit Indien über ein sicheres strategisches Hinterland verfügt. Meine These: So lange die USA mit Drohnenangriffen und ihrer erpresserischen Politik auf die pakistanische Regierung einwirken, wird dies den militärischen Widerstand der pakistanischen Taliban gegen Islamabad befeuern und einer Waffenruhe in Pakistan im Wege stehen. Erst der komplette Abzug von USA und NATO aus der Region am Hindukusch schafft die Voraussetzung für Frieden.

Libyen

Die Gipfelerklärung streicht heraus, dass der NATO-Krieg gegen Libyen angeblich erfolgreich war (Ziffer 14). Die NATO schreibt sich die „entscheidende Rolle“ zu, als es darum gegangen sei, „das Leben von Zivilisten zu schützen und damit dabei zu helfen, Tausende Leben zu sichern.“ (Ziffer 13) Dieses ist Legendenbildung, weil sie die Toten unterschlägt. Denn am Tag als die NATO in den Libyen-Krieg offiziell eingriff, es war der 31. März, gab das britische Außenministerium die Zahl der Getöteten noch mit 1.000 an (NZZ 1.4.11). Ende August, die Hauptkriegshandlungen endeten erst zwei Monate später, gab der Rebellenkommandeur, der Tripolis eingenommen hatte, die Zahl der Getöteten mit 50.000 an (Focus 31.8.11). Diese Zahl muss als glaubwürdig bewertet werden. Welches Interesse sollte ein Aufständischer haben, hier zu übertreiben?

Die NATO-Staaten arbeiten daran, die so genannte Schutzverantwortung zur gängigen Begründung ihrer Militärinterventionen zu machen. NATO-Generalsekretär Rasmussen geht noch weiter. Financial Times Deutschland gibt Rasmussen aus einer Diskussion bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin vom Oktober letzten Jahres wieder. „ Rasmussen macht künftige Auslandseinsätze der Militärallianz nach dem Modell der Libyen-Operation nicht von einem Mandat des Uno-Sicherheitsrats abhängig. Ein solches Mandat sei zwar wünschenswert, sagte Rasmussen. Aber auch klare moralische Prinzipien könnten einen Einsatz legitimieren. […] Rasmussen argumentierte dagegen, ein Uno-Mandat zur notwendigen Bedingung für solche Einsätze zu machen. 'Das würde den Mächten in die Hände spielen, die unsere Werte nicht teilen', sagte er. 'Wenn der Zweck gerechtfertigt und die rechtliche Grundlage stark ist, können wir unsere Werte mit Gewalt verteidigen.“ (ftd.de 27.10.11) Wenn die „chutzverantwortung“ so aussehen soll, können wir gern darauf verzichten. Übrigens, der Gipfel lud Libyen ein, anders als zu Gaddafis Zeiten, am Mittelmeerdialog der NATO teilzunehmen. (Ziffer 43)

„Smart Defence“

Hinter diesem freundlich, aber irreführend daherkommenden Begriff verbirgt sich eine neue auf weltweite Kriegsführung ausgerichtete integrierte Zusammenarbeit. Die deutsche Übersetzung lautet offiziell „intelligente Verteidigung“. Die Irritation ist nicht so sehr das Wort „smart“ sondern das Wort „Defence“.

Das, was die NATO bisher auf den beiden Feldern AWACS und Luftverteidigung des Baltischen Raumes vornimmt, soll auf zunächst etwa 20 Aufgabenfelder ausgedehnt werden. Die NATO strebt dabei eine Zusammenarbeit mit der EU an, die auf den Feldern Luftbetankung, Sanitätswesen, Seeraumüberwachung und Ausbildung bereits Anstrengungen des „Pooling“ und „Sharing“ vorgenommen hat.

Künftig bieten spezialisierte Staaten ihre Systeme anderen zur Nutzung an und diese leihen sie aus. Das Schlüsselprojekt der „Smart Defence“ ist das System „Alliance Ground Surveillance“, kurz AGS, das irreführend mit System zur Bodenüberwachung übersetzt wird. Irreführend, weil es viel mehr ist als das. Ich komme gleich noch darauf zurück. Weitere geplante Projekte sind die Luftbetankung, Seefernaufklärung, Entschärfung von Sprengfallen durch ferngesteuerte Roboter, die Vereinheitlichung des Nachschubs von Treibstoff oder von Munition für Kampfflugzeuge. Zu den einzelnen Aufgabenfeldern bilden sich jeweils verschieden zusammengesetzte Ländergruppen, die ihre gemeinsamen Fähigkeiten bündeln. So übernimmt Deutschland die Führung bei der Seefernaufklärung und Frankreich die Führung bei der Luftbetankung.

Dieses neuartige Kooperationsmodell in Zeiten von Sparhaushalten birgt NATO-internes Konfliktpotenzial, denn die einsatzwilligen NATO-Staaten müssen sich auf die Bereitstellung der Ressourcen verlassen können. Dabei gibt es gegenüber der Bundesrepublik Zweifel. Die Bundesregierung hatte ihre AWACS-Besatzungen aus dem Libyen-Krieg zurückbeordert, weil sie dem NATO-Krieg nicht zugestimmt hatte. AWACS sind fliegende Gefechtsführungsplattformen. Andererseits stellte sie jedoch ihre Soldaten für einen eigens für diesen Krieg eingerichteten Gefechtsstand in Italien ab, obwohl auch hierfür – weil ad hoc – eine Zustimmung des Bundestages hätte eingeholt werden müssen, die unterblieb. Die Soldaten waren für die Zielerfassung („Targeting“) zuständig, was klar Kampfhandlungen ermöglichen sollte, sich also ebenso um einen Kampfeinsatz handelte wie der AWACS-Einsatz. Hier steht noch eine rechtliche Klärung aus.

Die NATO fordert ihre Mitglieder auf, ihre Parlamentsvorbehalte anzupassen. Eigentlich sollten im Gipfeldokument die Formulierungen „assured access“ (sicherer Zugang) und „guaranteed availability“ (garantierte Verfügbarkeit) stehen. „Das ist in einem Land mit Parlamentsvorbehalt kaum möglich, heißt es achselzuckend aus Deutschland“, schreibt „Der Spiegel“ (14.5.12) Folglich sucht man diese Begriffe in der Gipfelerklärung vergeblich. Widerspruch wurde denn auch von Gernot Erler und Jürgen Trittin laut. Erler sagte: „Der Bundestag muss auch künftig das letzte Wort darüber haben, wenn deutsche Soldaten im Rahmen von Kampfeinsätzen ins Ausland geschickt werden“ und Trittin: „Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee. Die Pläne sind mit dem Grundgesetz nicht zu vereinbaren.“ (FAZ 22.5.12)

Um der NATO den Zugriff dauerhaft zu gestatten, hat Minister de Maizière folgende Linie vorgegeben. Er erklärte in Chicago: „es gehe nicht um den Einsatz von Kampftruppen. Darüber werde jedes Land weiter selbst entscheiden, in Deutschland gelte der Parlamentsvorbehalt. Auf Kommando-, Logistik-, Aufklärungs- oder Ausbildungseinheiten, die geteilt würden, müsse das Bündnis aber verlässlich zugreifen können.“ (FAZ 22.5.12) Nur, so einfach wird die Trennung zwischen Kampfeinsatz, Aufklärungs- und Kommandoeinheiten nicht zu ziehen sein. Denn beim AWACS-Einsatz im Frühjahr 2003 über der Türkei hätte zuvor das Parlament zustimmen müssen, befand nachträglich das Bundesverfassungsreicht. Denn der Parlamentsvorbehalt greift ein, so das Urteil, „wenn nach dem jeweiligen Einsatzzusammenhang und den einzelnen rechtlichen und tatsächlichen Umständen die Einbeziehung deutscher Soldaten in bewaffnete Auseinandersetzungen konkret zu erwarten ist.“ (FAZ 24.5.12) Und das war zu erwarten, schließlich führte eine von den USA abgeführte Koalition unter Bruch der UN-Charta einen Angriffskrieg gegen den benachbarten Irak.

Und vor diese konkreten Situationen wird die Bundeswehr nicht nur durch AWACS gestellt, sondern in noch höherem Maße durch AGS. An den fünf Großdrohnen des Typs Global Hawk, die den Kern des Systems AGS bilden sollen, will sich die Bundesregierung mit einem Drittel beteiligen. Die Global Hawk sollen für die zukünftige Kampfführung essentiell sein, liefern sie doch auf jedes Display der Einsatz- und Führungsebene dasselbe Lagebild, welches den entscheidenden Kriegsvorteil im Kampf der Infanteristen um Haus, Straße und Ort verschaffen soll. AGS ist das zentrale Element der neuen sogenannten Vernetzten Operationsführung. Ohne sie ist künftig ein Krieg außerhalb des Bündnisgebiets undenkbar. Würde der Bundestag AGS den Blankocheck in Form eines Vorratsbeschlusses geben, gebe er seine Souveränität, wenn es um Krieg oder Frieden geht, aus der Hand.

Raketenabwehr

Der NATO-Gipfel hat ungeachtet russischer Einwände die Anfangsbefähigung einer Raketenabwehr für Südost-Europa verkündet (Ziffern 58-61). Sie stellt den Beginn der ersten von vier Aufbauphasen dieses Systems aus Satelliten, von Radaranlagen und Raketen auf See und an Land sowie ihrer Kontroll- und Kommando-Zentrale in Ramstein dar. Ab 2020 soll es voll einsatzfähig sein. In der ersten Phase bis 2013 soll das bereits arbeitende Radar im Südosten der Türkei (AN/TPY-2, Reichweite 1.000 km) aus dem Iran anfliegende Mittelstreckenraketen mit derzeit verfügbaren Reichweiten von 1.000 bis 2.000 km (Shahab 3-Rakete, einstufig, Flüssigtreibstoff) erfassen, und von US-Amerikanischen Lenkwaffenzerstörern mit dem Aegis-System (SM 3 Block IA-Rakete, Radar AN/SPY-1, Reichweite 585 km) zerstört werden. Stationierungsort der Zerstörer ist der spanische Hafen Rota. Damit sei Südosteuropas Schutz gesichert. In Phase 2 von 2013 bis 2015 sollen bodengestützte Raketen in Rumänien, in Phase 3 von 2015 bis 2018 auch in Polen aufgestellt werden. Ab 2016 sollen deutsche Patriot-Abfangraketen und niederländische Fregatten mit Frühwarnradargeräten hinzukommen. Damit sei dann auch der Schutz Nordeuropas vor iranischen Raketen gewährleistet. Ab 2020 werde dann die Fähigkeit entwickelt, die USA vor anfliegenden iranischen Langstreckenraketen zu schützen. Die Anzahl der derzeitig vom Iran einsatzfähigen Mittelstreckenraketen vom Typ Shahab 3 ist spekulativ. Die Schätzungen reichen von 25 bis 100. Mit Massenvernichtungswaffen sind sie nicht bestückt. Der ehemalige Chef des israelischen Geheimdienstes Mossad, Meir Dagan, geht davon aus, „dass Iran eine Atombombe frühestens Mitte des Jahrzehnts entwickelt haben werde und das auch nur, wenn nichts und niemand in die Quere komme. Bis Iran einen nuklearen Sprengkopf entwickelt habe, würden noch einmal drei Jahre vergehen. Das wäre 2018.“ (Der Spiegel 7.11.11)

Weshalb die USA schon jetzt mit der Befähigung zum Einsatz gegen iranische Mittelstreckenraketen beginnt, hat meines Erachtens mit der Kriegsplanung gegen den Iran zu tun, dessen Gegenwehrmöglichkeiten mit konventionell bestückten Raketen abgefangen werden sollen. Zudem demonstrieren die USA Entschlossenheit.

Russlands Argument gegen das Raketenabwehrsystem von USA und NATO macht sich daran fest, dass der Iran über keine gefährliche Raketentechnik verfügt, schon gar nicht über Atomwaffen. Folglich sei das Raketensystem gar nicht gegen den Iran gerichtet, sondern gegen Russland. Die NATO-Gipfelerklärung beinhaltet die gegenteilige Aussage. (Ziffer 62) Russland sagt, die US-Entwicklung sei erst am Anfang, zunächst seien es Dutzende, später Hunderte oder Tausende Abfangraketen, die zudem auf See überall dorthin verlegt werden könnten, wo man sie brauche. Schon heute seien Japan und Südkorea einbezogen. Außerdem habe man mit den USA im New-Start-Vertrag vereinbart, die Zahl der strategischen Nuklearplattformen bis 2018 auf jeweils 800 zu begrenzen. Russland unterschreitet schon heute diese Marke deutlich: An Land dürfte Russland zurzeit nur noch ca. 400 und auf See zehn strategische Atomwaffenträger zur Verfügung haben. Im „Worst-Case-Szenario“ fürchtet die russische Seite nach einem NATO-Erstschlag durch das Raketenabwehrsystem um seine Zweitschlagkapazität. Ein gemeinsamer Betrieb des Raketenabwehrschilds durch die NATO und Russland scheitert daran, dass die NATO eine Gleichberechtigung nicht zulässt.

Die Raketenabwehr der USA ist ein weltumspannendes Mammutprojekt, welches geeignet ist, die US-dominierte Weltordnung zu verfestigen. Alle Freunde kommen unter den Schirm, alle anderen bleiben außen vor. Dass die Raketenabwehr keine zeitlich oder räumlich begrenzte Sache ist, machte auch die stellvertretende US-Außenministerin, die für internationale Sicherheit und Rüstungskontrolle zuständig ist, Ellen Tauscher, deutlich. Die europäische Raketenabwehr werde auch dann verwirklicht, sagte sie, „wenn es in Iran zu einem Regimewechsel käme. Es gehe darum, neue Technologien zu beherrschen.“ (FAZ 19.5.12) NATO-Generalsekretär Rasmussen warnt davor, dass mehr als 30 Länder im Besitz der Technologie für ballistische Raketen seien oder daran arbeiteten. (welt.de 18.5.12)

Russland reagiert militärisch darauf, indem es Präventivschläge auf NATO-Raketenstellungen androht, Interkontinentalraketen entwickelt, die schwer vom Radar geortet werden können und ihr territoriales Radarsystem erweitert. Wir sehen, dass das Raketenabwehrsystem die Welt nicht sicherer macht, sondern die Aufrüstung anheizt.

Atomwaffen in Europa

In der Gipfelerklärung wird noch einmal betont, dass die NATO ein Mix aus atomaren, konventionellen und Fähigkeiten zur Raketenabwehr beibehält (Ziffer 54), aber mit Russland vertrauensbildende Maßnahmen bezüglich der in Europa stationierten substrategischen Atomwaffen anstrebt. (Ziffer 38) In ihrer Erklärung zur „Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs“ unterstreicht der NATO-Gipfel, dass der Militärpakt Bedingungen für eine Welt ohne Kernwaffen anstrebt und formuliert, dass die NATO bereit ist, „eine weitere Reduzierung ihres Bedarfs an dem Bündnis zugewiesenen nichtstrategischen Kernwaffen im Zusammenhang mit gegenseitigen Schritten Russlands unter Berücksichtigung der größeren russischen, im euro-atlantischen Raum stationierten nichtstrategischen Kernwaffenbestände in Betracht zu ziehen.“ (Ziffer 26). Worum es geht, sind einerseits ca. 200 US-amerikanische Fallbomben, Überbleibsel aus dem Kalten Krieg, die als nukleare Teilhabe in der Eifel, den Niederlanden, Belgien, Italien und in der Türkei lagern, und andererseits, schätzungsweise 2.000 taktische Atomwaffen, die im europäischen Teil Russlands lagern. Das konventionell stark unterlegene Russland sieht diese Kernwaffen als Ausgleich gegenüber der NATO-Hochrüstung. Die USA denken nicht daran, ihre Atomwaffen aus Europa abzuziehen, sondern sie als Faustpfand im Rahmen einer schrittweisen Abrüstung zu behalten, ja zu modernisieren. Das Modell der sogenannten doppelten Nulllösung des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 steht hier Pate. Würde sich das NATO-Vorhaben realisieren lassen, hätten wir zwar ein von Atomwaffen befreites Europa, jedoch eine im Bereich der konventionellen Rüstung Russland haushoch überlegene NATO. Darauf würde sich Russland so nicht einlassen. Die atomare Nulllösung für Europa muss von einer Abrüstung des konventionellen NATO-Potenzials und der Wiederaufnahme der gegenseitigen Rüstungskontrolle wie sie im KSE-Vertrag festgelegt ist – unter veränderten Bedingungen – flankiert werden. Da die taktischen US-Atomwaffen hier nichts zur Sache beitragen, können sie abgezogen werden. Technisch ist das sehr einfach: Da die Stationierung in allen fünf europäischen NATO-Staaten auf bilateralen Verträgen mit den USA beruhen, reicht eine entsprechende diplomatische Erklärung an die US-Regierung.

Breites Spektrum

Über das bisher Gesagte hinaus beansprucht die NATO raumgreifende Aufgabenfelder: die Bekämpfung der Piraterie, die logistische Unterstützung von AMISOM in Somalia und von Active Endeavour im Mittelmeer. Die NATO betont die sicherheitspolitische Relevanz von Ressourcenknappheit, Gesundheit und Klimawandel und will mehr Gewicht auf die Cyber-Security und die Energiesicherheit legen. Sie unterstreicht ihre Verantwortung für das Kosovo und ermutigt Serbien auf seinem Weg in die euro-atlantische Integration. Bezüglich Syrien unterstützt sie den Annan-Plan und bezüglich Iran die 5+1-Gespräche, gegenüber Nord-Korea drückt sie ihre große Sorge wegen des Nuklear- und Raketenprogramms aus. Sie begrüßt die neue Partnerschaft mit der Mongolei. Der Gipfel betont die beitrittsperspektive Mazedoniens, Montenegros und Bosnien-Herzegowinas ebenso wie die Georgiens. Beim größten Beitrittskandidaten Ukraine wird Demokratisierung und die Unabhängigkeit der Justiz angemahnt.

Europa/Deutschland

Bezüglich Europas findet sich in der Gipfelerklärung über die angestrebte strategische Zusammenarbeit mit der EU, der gemeinsamen Bekämpfung der Piraterie und der Ergänzung bei der „Smart Defence“ hinaus der Satz: „Die NATO würdigt die Bedeutung einer stärkeren und fähigeren europäischen Verteidigung.“ (Ziffer 20) Soll heißen: Europa soll mehr Geld für Rüstung ausgeben.

Im Vorfeld des Gipfels fielen eine Reihe von Artikeln in deutschen Leitmedien auf, die sich mit der angeblich mangelnden Bereitschaft der Europäer befassten, einen angemessenen Rüstungsbeitrag in der NATO zu leisten. Beispiel: „Der Anteil der Vereinigten Staaten von nunmehr 71 Prozent ist bereits heute eine Zumutung für unsere amerikanischen Partner.“ So Karl A. Lamers in der FAZ (19.5.12) Oder Ulrich Speck in der NZZ „1980 trug Europa 40 Prozent der Nato-Militärausgaben, heute sind es 20 Prozent.“ (NZZ 16.5.12)

Als Übeltäter hat man insbesondere Deutschland ausgemacht. So lässt DER SPIEGEL eine Woche vor dem NATO-Gipfel Mitarbeiter konservativer Think-Tanks zu Wort kommen. So Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP): „In jüngster Zeit entspricht Deutschland weder den Erwartungen der Bündnispartner noch dem eigenen Selbstbild einer sicherheitspolitischen Mittelmacht mit globaler Verantwortung.“ Christian Mölling, ebenfalls von der SWP, stellt fest: Die Bundeswehr verkomme „zu einer Bonsai-Armee, die zwar das gesamte Fähigkeitsspektrum abdecke, aber kaum noch militärische Durchsetzungskraft besitze. Zur Sorge der alliierten Partner.“ Patrick Keller von der Konrad Adenauer Stiftung meint die Ursache dafür zu kennen: „In der breiten Bevölkerung fehlt es an grundlegendem Verständnis für Sicherheitspolitik.“ (Der Spiegel, 14.5.12) Das schwerste Geschütz bot die Süddeutsche am 18.5 auf. Unter der Überschrift „Ein schwaches Deutschland schwächt auch die Allianz“ gibt das Blatt ein Interview mit dem ehemaligen US-Botschafter bei der UNO unter George W. Bush, Nicholas Burns, wieder. Heute ist er Harvard-Professor. Auf die Frage, ob Europa unwichtig werde, weil Obama eine Wende nach Asien vollziehen will, antwortet Burns, „Nein, die Vereinigten Staaten müssen reinvestieren in diese Beziehung (mit Europa, L.H.) – gerade weil die große strategische Herausforderung der Aufstieg Chinas ist. Aber während die USA sich aus gutem Grund Asien zuwenden, dürfen wir uns nicht von Europa abwenden. […] Europa muss global denken und handeln, trotz all seiner Probleme etwa mit der Euro-Krise. Denn Europa hat weltweite Interessen – im Nahen Osten, in Südostasien, in Ostasien. Also muss Europa den Willen, den Ehrgeiz und auch die militärischen Fähigkeiten haben, um gemeinsam mit den USA zu agieren und Frieden in diese Regionen der Welt zu bringen. Wir brauchen ein starkes Europa – und ein Europa, das mehr für seine Sicherheit investiert. Seit fast vier Jahrzehnten verlangt die Nato, die Alliierten sollen wenigstens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben. Nur drei Verbündete tun das, allen voran die USA mit 4,4 Prozent. Aber Deutschland leistet gerade einmal 1,3 Prozent. [...] Deutschland ist der Schlüsselstaat des Kontinents, es führt Europa. Aber während Berlin Europa wirtschaftlich lenkt, scheut es die politische und auch militärische Führung, die die Nato so dringend braucht. Ein schwaches Deutschland schwächt die Allianz.“ Und: „Das deutsche Problem ist doch systemisch – und parteiübergreifend: Alle Ihre Parteien verweigern der Bundeswehr die Mittel, die nötig wären, damit Deutschland seine Rolle und seine Verantwortung in der Nato und in der Welt wahrnehmen kann.“ Da die USA in den nächsten zehn Jahren 450 Milliarden Dollar im Verteidigungshaushalt einsparen müssten, „brauchen wir jetzt europäische Opfer, um die Stärke der Allianz zu bewahren. Europa muss diese Herausforderung annehmen. Die Zeiten, da die USA alle diese Kosten tragen, sind vorbei.“ So Burns, der fünf Jahre lang unter Bush Senior und Clinton im Nationalen Sicherheitsrat der USA für Eurasien zuständig war. (SZ 18.5.12)

Burns spricht am deutlichsten aus, wohin die Community der Kriegstreiber die deutsche Gesellschaft haben möchte. Sie soll es als normal akzeptieren, dass die Bundeswehr überall in der Welt militärisch intervenieren darf, insbesondere in Nahost und Asien, und entsprechend mehr Geld für die Kriegsführung locker machen.

Übrigens, die Forderung nach zwei Prozent vom Bruttosozialprodukt für’s Militär findet man in den Gipfelerklärungen nicht. Das lässt hoffen.

* Referat beim Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 31.05.12




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