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"Die NATO-Staaten bleiben gebunden an die UN-Charta und das Völkerrecht."

Bundesverwaltungsrichter Dieter Deiseroth (IALANA) zum "Bündnisfall" nach Artikel 5 des NATO-Vertrags

Was der NATO-Rat am 12. September 2001 in Brüssel beschloss (Wortlaut):

Am 12. September ist der Nordatlantikrat erneut zusammengetroffen, um auf die entsetzlichen Angriffe, die gestern auf die Vereinigten Staaten von Amerika verübt wurden, zu reagieren.

Der Rat stimmte überein, dass - falls ermittelt wird, dass dieser Angriff von außerhalb der Vereinigten Staaten gesteuert wurde - er als eine Aktion angesehen wird, die unter Artikel 5 des Washingtoner Vertrages fällt; dieser stellt fest, dass ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere der Bündnispartner in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen alle angesehen wird.

Die im Washingtoner Vertrag enthaltene Verpflichtung zur gemeinsamen Selbstverteidigung wurde eingegangen unter Umständen, die sich sehr von den heutigen unterscheiden; aber sie bleibt heute nicht weniger gültig und nicht weniger wichtig, in einer Welt, die der Geißel des internationalen Terrorismus ausgesetzt ist.

Als sich die Staats- und Regierungschefs der Nato 1999 in Washington trafen, würdigten sie den Erfolg des Bündnisses, das die Freiheit seiner Mitglieder während des Kalten Krieges sichergestellt und ein einiges und freies Europa ermöglicht hat. Aber sie erkannten auch die Existenz einer großen Bandbreite von Gefahren für die Sicherheit, von denen sich einige deutlich unterscheiden von jenen, die zur Gründung der Nato geführt hatten.

Deutlicher gesagt, sie (die Staats- und Regierungschefs) verurteilten Terrorismus als eine ernste Bedrohung für Frieden und Stabilität und bekräftigten ihre Entschlossenheit, ihn gemäß ihrer gegenseitigen und internationalen Verpflichtungen sowie nach ihren nationalen Gesetzen zu bekämpfen. Artikel 5 des Washingtoner Vertrages verlangt, dass im Fall von Angriffen, die in seinen Rahmen fallen, jeder Bündnisstaat dem angegriffenen Land mit den Mitteln hilft, die er für notwendig hält. Entsprechend stehen die Verbündeten der USA in der Nato bereit, die Hilfe zu leisten, die in der Folge dieser Barbarei angefordert werden könnte.


Am 14. September wurde ein Interview der Frankfurter Rundschau (Ursula Knapp) mit dem Bundesverwaltungsrichter und IALANA-Mitglied Dieter Deiseroth veröffentlicht, in dem es um die Interpretation des NATO-Beschlusses und andere völkerrechtliche Fragen ging. (IALANA ist die internationale Juriostenorganisation gegen den Atomkrieg.) Wir dokumentieren wesentliche Passagen daraus:

Kein Recht zur Selbstjustiz

Frankfurter Rundschau: Herr Deiseroth, die Außenminister der Nato-Staaten sind sich einig, dass mit dem schwersten Terroranschlag der Nachkriegsgeschichte für die Nato der Bündnisfall eingetreten ist. Sie bestreiten das, warum?

Dieter Deiseroth: Nach meinen Informationen hat der Nato-Rat bislang den so genannten Bündnisfall nach Artikel 5 Nato-Vertrag (noch) nicht beschlossen. Die öffentliche Berichterstattung und auch die meisten Erklärungen der Verantwortlichen sind insofern im entscheidenden Punkt widersprüchlich oder zumindest ungenau. Bundeskanzler Gerhard Schröder hat am Mittwochabend vor der Presse sinngemäß erklärt, der Nato-Rat habe mit deutscher Zustimmung in Solidarität mit den USA das Vorliegen der Voraussetzungen des Artikels 5 des Nato-Vertrags, also des so genannten Bündnisfalls, beschlossen. Demgegenüber heißt es in der Verlautbarung von Nato-Generalsekretär Robertson, die Nato betrachte die Terroranschläge in den USA als Angriff auf das gesamte Bündnis, "falls" - und dies ist ein bedeutsamer Unterschied - "der Angriff vom Ausland aus gesteuert worden sein sollte". Denn dann liege der Fall des Artikels 5 Nato-Vertrag vor. Offenbar gab es in diesem Punkt auch Meinungsverschiedenheiten im Nato-Rat. So ist bekannt geworden, dass insbesondere die Vertreter der Niederlande, Belgiens und Portugals sich gegen eine Feststellung des Bündnisfalls nach Artikel 5 zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausgesprochen haben.

Unter welchen Voraussetzungen wäre denn im aktuellen Konflikt der Bündnisfall nach Artikel 5 Nato-Vertrag gegeben?

Die Feststellung des so genannten Bündnisfalls nach Artikel 5 Nato-Vertrag hat völkerrechtlich betrachtet mehrere Voraussetzungen. Die wichtigste ist, dass ein "bewaffneter Angriff" auf eine Vertragspartei erfolgt sein muss. Die Feststellung, ob dies der Fall ist, steht nicht zur freien Disposition der Vertragsstaaten. Artikel 5 wie auch der gesamte Nato-Vertrag stehen vielmehr unter dem ausdrücklichen Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der UN-Charta und dem geltenden übrigen Völkerrecht. Artikel 7 Nato-Vertrag stellt dies ausdrücklich klar. Zwar ist anerkannt, dass nicht nur direkte militärische Handlungen durch Streitkräfte eines anderen Staats einen "bewaffneten Angriff" darstellen können. Auch Aktionen militärisch organisierter nichtstaatlicher Verbände können dann als "bewaffneter Angriff" im Sinne des Artikel 51 UN-Charta gewertet werden, wenn diese von einem fremden Staat entsendet werden oder in dessen Auftrag oder unter dessen wesentlicher Beteiligung tätig werden. Das ergibt sich insbesondere auch aus der ständigen Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs. Dieser hat freilich ausdrücklich entschieden, dass eine bloße Unterstützung solcher nichtstaatlicher Angreifer durch Waffenlieferungen oder durch logistische Hilfen eines fremden Staats für die Annahme eines bewaffneten Angriffs im Sinne des Artikel 51 UN-Charta nicht ausreichen.

Was heißt dies für den konkreten Fall des Terrorangriffs auf Ziele in New York und Washington?

Vor der förmlichen Feststellung, ob die Voraussetzungen des Artikels 5 Nato-Vertrag vorliegen, muss sehr genau die Fakten- und Beweislage geprüft werden. Keinesfalls darf auf der Grundlage unüberprüfbarer Behauptungen oder gar von Mutmaßungen angenommen werden, die Terroranschläge seien von militärisch organisierten nichtstaatlichen Verbänden verübt worden, die von einem ausländischen Staat entsandt oder in dessen Auftrag oder mit dessen wesentlicher Beteiligung tätig geworden seien. Bisher fehlt es für die Annahme einer solchen Verantwortlichkeit eines fremden Staats an jedem Anhaltspunkt. Aber auch dann, wenn im konkreten Einzelfall ein "bewaffneter Angriff" im Sinne des Artikels 51 UN-Charta erfolgt wäre, dürfte ein militärischer Gegenschlag völkerrechtlich betrachtet unzulässig sein.
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Eine Gewaltanwendung auf der Grundlage von Artikel 51 UN-Charta ist nur zulässig, wenn dies zur Abwehr eines gegenwärtigen Angriffs erforderlich ist. Artikel 51 UN-Charta rechtfertigt keine Vergeltungs- oder Bestrafungsaktionen. Auch dies hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag mehrfach entschieden.
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Angesichts tausender unschuldiger Opfer müssen die USA selbstverständlich alles tun, um die Täter zu bestrafen. Vor allem müssen Wiederholungen verhindert werden.

Das sollte man auch tun. Die Strafverfolgungsbehörden der Staaten sollten weltweit eng zusammenarbeiten und alles daran setzen, die Täter zu ermitteln und sie den für die Verurteilung allein zuständigen Gerichten zu überantworten. Selbstjustiz, auch staatliche Selbstjustiz, darf in Rechtsstaaten und durch Rechtsstaaten nicht stattfinden.

Welche wirksamen Möglichkeiten sehen Sie denn, um den Terrorismus wirksam zu bekämpfen und solche Attacken zu verhindern?

Verblendete Terroristen kann man schwerlich durch Gegenterror abschrecken. Ihnen gilt der Verlust des eigenen Lebens offenbar wenig. Vielmehr müssen die Ursachen des Terrorismus bekämpft werden. Man muss erkennen, dass insbesondere im Nahen Osten praktisch jeden Tag Menschen zu Terroristen sozialisiert werden. Dazu trägt auch die Art des israelischen Umgangs mit den Palästinensern bei. Friedenspolitik in diesen Konfliktzonen ist der wichtigste Beitrag dazu, dem Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Die Rekrutierungsbasis für immer neue Terroristen muss minimiert werden. Schließlich sollte international jegliche Zusammenarbeit mit terroristischen Gruppierungen, sei es mit islamistischen Gruppen, sei es mit der UCK in Kosovo oder Mazedonien, strikt geächtet werden. Hier herrscht ein großer Nachholbedarf.

Der deutsche Außenminister Joschka Fischer kommt aus einer Partei der Friedensbewegung. Hätte er Ihrer Ansicht nach gegen den Bündnisfall stimmen müssen?

Als deutscher Außenminister ist er an die Vorgaben der Verfassung und des geltenden Völkerrechts strikt gebunden. Da die Voraussetzungen für den Bündnisfall nach Artikel 5 Nato-Vertrag und nach Artikel 51 UN-Charta nicht vorliegen, muss sich dies auch in seinem Abstimmungsverhalten im Nato-Rat niederschlagen.

Aus: Frankfurter Rundschau, 14. September 2001



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