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"... müssen unsere europäischen Bündnispartner mehr Geld für die Verteidigung aufwenden"

US-Botschafter R. Nicholas Burns erläutert die Ziele der USA für den NATO-Gipfel in Istanbul

Im Folgenden dokumentieren wir einen Artikel des amerikanischen Botschafters bei der NATO, R. Nicholas Burns, aus dem Electronic Journal, Vol. 9 des US-Außenministeriums vom 2. Juni 2004. Übersetzung: Amerika Dienst.

Für den NATO-Gipfel in Istanbul und darüber hinaus haben die Vereinigten Staaten fünf ehrgeizige Ziele: Anforderung von Truppen und Ressourcen für eine stärkere NATO-Präsenz in Afghanistan, eine festgelegte Rolle für die NATO im Irak, umfassenderes Engagement im Nahen und Mittleren Osten, verbesserte Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen Union, Ausbau und Stärkung der Beziehungen zwischen der NATO und Russland. Die Vereinigten Staaten stehen zu ihren Verpflichtungen gegenüber dem unerlässlichen Bündnis NATO und zu effektivem Multilateralismus, um eine gemeinsame europäisch-amerikanische Vision für eine Zukunft mit Sicherheit, Frieden, Demokratie und Wohlstand zu schaffen.

Ursprünglich dazu bestimmt, Westeuropa vor sowjet-kommunistischer Aggression zu schützen, hat sich die moderne NATO für die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts gerüstet - sich politisch gewandelt, neue militärische Fähigkeiten erworben und neue wichtige Einsätze zur Bekämpfung der globalen terroristischen Bedrohung an vorderster Front durchgeführt. Für den NATO-Gipfel in Istanbul und darüber hinaus haben die Vereinigten Staaten fünf ehrgeizige Ziele für das seit 55 Jahren bestehende Bündnis. Diese ehrwürdige multilaterale Institution bleibt eine wichtige Brücke, die die Vereinigten Staaten und Kanada über Kontinente hinweg mit den Demokratien in Europa verbindet und damit zur Sicherheit auf zwei Kontinenten beiträgt.

Seit dem 11. September 2001 haben die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten die NATO von oben nach unten umgestaltet. Auf dem Prager Gipfel im November 2002 einigten sich die Bündispartner auf einen Plan zur Schaffung einer neuen NATO - mit anderen Aufgaben, Mitgliedern und Fähigkeiten als zur Zeit des Kalten Kriegs. Die Ergebnisse unserer Umstrukturierungsbestrebungen werden auf dem NATO-Gipfel in Istanbul im Juni 2004 sichtbar werden.

Diese epochale Umwandlung fand zeitgleich mit der größten Erweiterung des Bündnisses seit seiner Gründung 1949 statt. Beim Istanbuler Gipfel werden erstmals die Staatschefs der jetzt 26 NATO-Mitgliedsstaaten zusammenkommen. Mit dem NATO-Beitritt von Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, der Slowakei und Slowenien wurde die größte Erweiterung in der 55-jährigen Geschichte der NATO abgeschlossen.

Diese sieben Nationen traten der NATO im März dieses Jahres bei und unterstützten auf diese Weise die Konsolidierung der demokratischen Revolution in den ehemaligen Ländern des Warschauer Pakts. Ihr Beitritt gibt dem Bündnis neue Kraft und bekräftigt die Bedeutung der Sicherheit als Grundlage für Fortschritt und Wohlstand. Der lettische Präsident Vaira Vike-Freiberga sprach für die neuen Mitglieder der NATO, die nach seinen Worten "die Bedeutung und den Wert der Freiheit kennen. Sie wissen, dass es lohnt, sie zu unterstützen, sie zu bewahren, für sie einzustehen und für sie zu kämpfen."

Ebenso wichtig wie der politische Wandel der NATO ist ihre Weiterentwicklung von einem defensiven und statischen Militärbündnis mit einer riesigen, schweren Armee, deren massive Präsenz der Abschreckung der sowjetischen Bedrohung Westeuropas diente. In der Vergangenheit war die Strategie der NATO nach innen gerichtet, auf die Bedrohung des Zentrums Europas durch den Kalten Krieg. Die Zukunftsstrategie der NATO ist nach außen gerichtet - auf die Herausforderung durch globale terroristische Netzwerke, und insbesondere auf die Bedrohung der Sicherheit ihrer Mitglieder durch eine Zone der Instabilität, die Süd- und Zentralasien, den Nahen Osten und Nordafrika umfasst.

Zur Bewältigung dieser neuen Bedrohungen hat die NATO begonnen, moderne militärische Fähigkeiten für eine schneller einsetzbare Truppe zu erwerben - Fähigkeiten wie strategischer Lufttransport und Wiederauftanken, Präzisionswaffen, Bodenüberwachung aus der Luft und logistische Unterstützung der Einsätze. Letzten Sommer hat die NATO eine neue schlankere militärische Befehlsstruktur und ein neues Alliance Transformation Command in Norfolk geschaffen, um die europäischen Verbündeten per Computer an den revolutionären neuen Konzepten der Ausbildung, Doktrin und Technologie teilhaben zu lassen, die vom U.S. Joint Forces Command entwickelt werden. Außerdem hat das Bündnis eine flexible, schnelle, hochmoderne NATO Response Force (NRF) entwickelt, zu der vor allem Frankreich wesentlich beigetragen hat. Die NRF ist für alle Arten von Einsatz gerüstet - Rettung von Geiseln, humanitäre Hilfsaktionen, Reaktion auf Terroranschläge oder Konflikte hoher Intensität - sie ist innerhalb weniger Tage an jedem Ort der Welt einsetzbar und kann dort auch über einen längeren Zeitraum bleiben.

Heutzutage sind die NATO-Streitkräfte in größerer Zahl und in weiter entlegenen Gebieten eingesetzt als je zuvor. Neben den andauernden Einsätzen im Kosovo, in Bosnien und der Unterstützung der von Polen geführten multinationalen Brigade im Irak ist die NATO an einem historischen Einsatz in Afghanistan beteiligt, wo sie das Kommando über die unter UN-Mandat stehende Internationale Schutztruppe für Afghanistan (ISAF) hat.

Während wir uns auf den NATO-Gipfel in Istanbul vorbereiten und in die Zukunft blicken, machen die Vereinigten Staaten fünf Ziele für die NATO aus. Sie bilden eine ehrgeizige Agenda für unser Bündnis.

Unsere oberste Priorität ist die Unterstützung der Menschen in Afghanistan beim Wiederaufbau ihres zerstörten Landes. Die NATO, die das Kommando über die unter UN-Mandat stehende ISAF hat, muss ihre langfristige Rolle bei der Friedenssicherung in Afghanistan stärken. Die Bündnispartner sind sich einig, dass wir über Kabul hinaus landesweit Präsenz zeigen und der afghanischen Regierung helfen werden, ihren Einfluss zu erweitern und bei den landesweiten Wahlen Sicherheit zu gewährleisten. Wir sind dabei, fünf neue Wiederaufbauteams in den Provinzen ins Leben zu rufen. Der Erfolg der NATO wird allerdings vom Umfang der zur Verfügung stehenden Truppen und militärischen Mittel abhängen. Daher fordern die Vereinigten Staaten die Europäer auf, mehr Truppen und Mittel zur Verfügung zu stellen, um eine stärkere NATO-Präsenz in Afghanistan aufzubauen.

Unser zweites wichtiges Ziel besteht darin herauszufinden, wie wir gemäß Präsident Bushs Vorschlag den Boden für eine größere Rolle der NATO im Irak bereiten können. Diese Aufgabe wird durch die jüngsten Ereignisse eindeutig erschwert, der Vorschlag wird jedoch von einer großen Gruppe von Bündnispartnern unterstützt. Nach der Übernahme der Amtsgewalt durch die irakische Interimsregierung am 30. Juni werden die NATO-Bündnispartner weiterhin wertvolle Mitglieder der Koalitionsstreitkräfte sein. Die NATO kann einen äußerst wertvollen Beitrag dabei leisten, den Irakern bei dem großartigen Übergang von einer Diktatur zu einer demokratischen Zukunft behilflich zu sein. Die Definition dieser Aufgabe wird eines der Hauptthemen sein, die von den Staats- und Regierungschefs der NATO beim Gipfeltreffen in Istanbul im Juni und in den kommenden Monaten erörtert werden.

Drittens sollte die NATO ihr Engagement in der arabischen Welt und in Israel verstärken, um den Ländern dabei behilflich zu sein, ihren Weg zu einer friedlicheren Zukunft im Nahen und Mittleren Osten zu finden. Die Vereinigten Staaten möchten, dass die NATO zu einem Baustein für ihr langfristiges Engagement in dieser riesigen Region wird. Bei jüngsten Konsultationen des Bündnisses in der Region zeigte sich eine gewisse Unterstützung für erweiterte Beziehungen zur NATO.

Langfristige Veränderungen im Nahen Osten werden dazu beitragen, das Übel des Terrorismus an der Wurzel zu packen und der Demokratie und der Zivilgesellschaft eine Chance einzuräumen, Fuß zu fassen. Dieser Herausforderung müssen sich Europäer und Amerikaner gleichermaßen stellen. Wir können den Mittelmeerdialog der NATO zu einer echten Partnerschaft umgestalten, militärische Ausbildung und Übungen sowie engere politische Beziehungen anbieten und mittels der Istanbuler Kooperationsinitiative auch andere Länder in der Region einbeziehen. Wir sollten uns auf die praktische Zusammenarbeit mit den Ländern konzentrieren, die enge Beziehungen zur NATO anstreben.

Unser viertes Ziel sind verbesserte Beziehungen zwischen der NATO und der Europäischen Union (EU) - den beiden großartigen, insbesondere auf dem Balkan für die Zukunft Europas verantwortlichen Institutionen. Die Erweiterung der beiden Organisationen im Frühjahr 2004 hat unser gemeinsames Ziel eines ungeteilten, freien und friedlichen Europas vorangebracht. Zu diesem Zweck werden die beiden Organisationen weiterhin aktiv den hart erkämpften Frieden und die Stabilität auf dem Balkan bewahren.

Die NATO wird ihre erfolgreiche Friedensmission in Bosnien voraussichtlich im Dezember 2004 beenden und eine neue EU-Mission im Rahmen von "Berlin Plus" unterstützen, wie von den beiden Organisationen im März vereinbart. Die NATO sollte jedoch in Sarajewo weiterhin eine deutliche Präsenz und ein Hauptquartier unterhalten, um den bosnischen Behörden zu helfen, angeklagte Kriegsverbrecher vor Gericht zu stellen.

Im Kosovo wird die NATO ihre KFOR-Mission fortsetzen und die Sicherheit und Stabilität bewahren, die das Kosovo für seine international unterstützte Arbeit an dem Plan benötigt, demokratische Institutionen zu erweitern, die Rechte von Minderheiten zu schützen, Vertriebene zurückzuführen und wieder einzugliedern und einen Dialog mit Belgrad einzuleiten. Wenn das Kosovo bis Mitte 2005 genügend Fortschritte erzielt, wird die internationale Gemeinschaft erwägen, seinen zukünftigen Status anzusprechen. Die NATO und die EU müssen weiterhin gemeinsam den Übergang zu stabilen, marktorientierten Demokratien im Kosovo, in Bosnien und Mazedonien unterstützen.

Unser fünftes Ziel ist die Verbesserung der Beziehungen der NATO zu Russland. Unser konstruktives Engagement im Rahmen des NATO-Russland-Rats hat dazu beigetragen, mehr Sicherheit für unsere Bürger als je zuvor in den letzten 50 Jahren zu gewährleisten. Die NATO und Russland werden im Juni in Kaliningrad an einer größeren Übung zur Bewältigung ziviler Notfälle teilnehmen. Die NATO kann jedoch noch sehr viel mehr gemeinsam mit Russland tun - von Such- und Rettungsübungen auf See über regionale Raketenabwehrsysteme und engerer Zusammenarbeit im Schwarzen Meer bis zu gemeinsamer Friedenssicherung. Die NATO muss ihr Augenmerk auf engere Beziehungen richten, die unsere früheren Rivalitäten für immer Vergangenheit werden lassen.

Ein weiteres Hindernis muss überwunden werden, wenn das Bündnis seine Ziele erreichen soll: die anhaltende und wachsende Kluft zwischen den militärischen Fähigkeiten der Vereinigten Staaten und denen ihrer übrigen Verbündeten. Wenn die Umgestaltung der NATO und ihre langfristigen Aufgaben erfolgreich sein sollen, müssen unsere europäischen Bündnispartner mehr Geld für die Verteidigung aufwenden und es klüger ausgeben. Die Verteidigungsausgaben der Vereinigten Staaten belaufen sich in diesem Jahr auf 400 Milliarden Dollar; die 25 anderen Bündnispartner werden zusammengenommen weniger als die Hälfte dieser Summe aufwenden.

Darüber hinaus gibt es ein Gefälle beim Einsatz der Soldaten - von den 2,4 Millionen europäischen Männern und Frauen in Uniform sind zurzeit nur drei Prozent in den Hauptkrisengebieten auf dem Balkan, in Afghanistan und im Irak stationiert. Streitkräfte, die statisch, nicht ausgebildet, schlecht ausgerüstet und nicht verlegbar sind, leisten keinen Beitrag zur NATO oder der noch umfassenderen Sache von Frieden und Stabilität in Europa und darüber hinaus.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September in den Vereinigten Staaten und später in Istanbul und Madrid besteht unter den NATO-Bündnispartnern kein Zweifel, dass unsere Sicherheit unteilbar ist. Die gefährlichsten Sicherheitsbedrohungen unseres globalisierten 21. Jahrhunderts sind selbst global: hochmoderne Terrornetzwerke streben den Besitz von Massenvernichtungswaffen an. Präsident Harry Truman, der den Beitritt der Vereinigten Staaten zur NATO bewirkte, hätte für unsere heutige Zeit sprechen können, als er 1951 erklärte: "Keine Nation kann Sicherheit hinter ihren eigenen Grenzen finden ... die einzige Sicherheit liegt in kollektiver Sicherheit".

Das ist ein guter Rat für die Rolle der Vereinigten Staaten in der NATO von heute. Die Vereinigten Staaten werden sich weiterhin zur NATO und zu effektivem Multilateralismus bei ihrem Versuch verpflichten, transatlantische Teilungen zu überwinden und eine NATO für die Zukunft aufzubauen. Die Zusammenarbeit der Bündnispartner bei Fragen des internationalen Friedens und der Sicherheit haben der NATO geholfen, den Kalten Krieg zu gewinnen, und sie wird unabdingbar sein, um den globalen Krieg gegen den Terror zu gewinnen. Die neue NATO ist unser unerlässliches Bündnis für die Verwirklichung der gemeinsamen europäischen und amerikanischen Vision einer Zukunft mit Sicherheit, Frieden, Demokratie und Wohlstand.

Originaltext: NATO Remains Our Essential Alliance
(siehe http://usinfo.state.gov)



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