NATO blockiert atomare Abrüstung
Tagung in Tallinn zeigte Uneinigkeit beim Abbau von Nuklearwaffen
Die NATO-Staaten sind in der Frage der Abrüstung von Atomwaffen in Europa uneins. Bei einem Treffen in Tallinn (Estland) versprachen die Außenminister der 28 Paktmitglieder einander aber angesichts starker Meinungsunterschiede, jede Entscheidung auch über die in einzelnen Ländern stationierten taktischen US-Atomwaffen werde nur von allen NATO-Staaten gemeinsam getroffen.
»Die Verbündeten haben den politischen Willen bekundet, Entscheidungen nur im Konsens zu ergreifen und dabei Besorgnisse anderer zu berücksichtigen«, sagte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen am Freitag nach Ende des Treffens. US-Außenministerin Hillary Clinton erklärte, Präsident Barack Obama sei zwar für eine atomwaffenfreie Welt. »Er hat jedoch klargemacht, dass die USA, solange es Atomwaffen gibt, ein sicheres und wirksames Arsenal aufrechterhalten werden, um einen Gegner abzuschrecken. Und wir werden auch die Sicherheit unserer Verbündeten in der NATO garantieren.« Dies sei »ein Grundpfeiler der US-Politik« und eine Verpflichtung aus dem NATO-Vertrag, betonte Clinton.
Die Außenministerin hatte bei dem Treffen in Tallinn betont, dass ihr Land keinem einseitigen Abzug von Nuklearsprengköpfen zustimmen werde. Sie knüpfte eine Reduzierung dieser Waffen an entsprechende Zusagen der russischen Regierung.
Bundesaußenminister Guido Westerwelle zeigte sich derweil überzeugt, dass in der NATO eine neue und gute Diskussion über die atomare Abrüstung begonnen habe. »Hier ist ein Prozess in Richtung Abrüstung in Gang gekommen, der nach und nach mehr Fahrt aufnimmt«, sagte er in Tallinn. Die Grünen warfen Westerwelle »mangelnde Durchsetzungskraft« vor. Für den Abzug der Atomwaffen aus Deutschland sei keine Erlaubnis der NATO notwendig, erklärte die abrüstungspolitische Sprecherin Agnieszka Malczak in Berlin. Im Fliegerhorst Büchel in Rheinland-Pfalz lagern noch 15 bis 20 US-Atombomben, deren Abzug Westerwelle fordert.
»Wir sind einig, dass wir die Sicherheit der NATO-Mitglieder auf dem geringstmöglichen Niveau von nuklearen Waffen garantieren wollen«, sagte Rasmussen in Tallinn. Zudem bestehe Konsens darüber, dass »eine breite Verteilung der Lasten der Nuklearpolitik der NATO unerlässlich ist«.
Die Ärzteorganisation IPPNW kritisierte die Äußerungen von Rasmussen als erhebliches Hindernis für die weltweite Abrüstung der Atomwaffen. »Wenn diese Haltung NATO-Politik bleibt, befürchten wir, dass die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages im Mai in New York keinen Abrüstungsfortschrift erzielen wird«, erklärte die Abrüstungsexpertin der IPPNW, Xanthe Hall.
Auf ihrem Treffen legten die NATO-Außenminister auch Grundlinien für einen späteren Abzug aus Afghanistan fest. »Ab heute haben wir einen Fahrplan für den Übergang«, sagte Generalsekretär Rasmussen. Der Prozess der Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte soll in diesem Jahr beginnen. Im Juli soll sich die Afghanistan-Konferenz in Kabul mit den NATO-Vorgaben befassen. Beim NATO-Gipfel im Herbst in der portugiesischen Hauptstadt Lissabon hofft Rasmussen auf einen entsprechenden Beschluss zur Übergabe der Verantwortung. Es werde aber kein »Rennen zum Ausgang« geben, unterstrich der Generalsekretär.
Bis Ende 2011 soll die afghanische Armee durch verstärkte internationale Ausbildungsanstrengungen einen Bestand von 171 000 Mann und die Polizei von 134 000 Mann erreicht haben. Rasmussen drängte die NATO-Staaten erneut, die noch fehlenden 450 Ausbilder zu stellen. Die NATO-geführte internationale Afghanistan-Truppe ISAF ist derzeit mit rund 90 000 Soldaten aus 47 Ländern im Einsatz. Die Bundeswehr stellt mit rund 4400 Soldaten das drittgrößte Kontingent.
Die NATO räumte Bosnien-Herzegowina 15 Jahre nach Ende des dortigen Krieges eine Beitrittsperspektive ein.
* Aus: Neues Deutschland, 24. April 2010
Ein schroffes Nein
Von Roland Etzel **
Sie bedaure das aufrichtig, betonte die Außenministerin. Aber, so Hillary Clinton, leider gehe es nicht anders: Solange es Atomwaffen gebe, müssten auch die USA ein sicheres und wirksames Arsenal davon aufrechterhalten ... Hillary Clintons Logik ist eine Beleidigung jeder gesunden Wahrnehmung. Es waren damals die USA, die Kernwaffen als erste entwickelt und dann als einzige eingesetzt haben. Und es sind heute die USA, die in Polen, Rumänien und anderswo die Aufstellung neuer Raketen planen. Ausgerechnet die Vereinigten Staaten, die mit ihren Stützpunkten und Flotten rund um die Erde ziemlich omnipräsent sind und mit ihrem interventionistischen Selbstverständnis jeden auf Unabhängigkeit von ihnen bedachten Staat geradezu nötigen, ebenfalls hochzurüsten, bedauern das Ausbleiben von Abrüstungsschritten.
Im konkreten Fall war Clintons Antwort auch ein unmissverständliches Nein auf das zarte »Werben« Westerwelles - so nannte er es selbst - um Abzug der US-Atomwaffen von deutschem Boden. Überrascht hat daran allenfalls ihre Deutlichkeit. Anstatt sie aber schönzureden (»langer Prozess« und »nicht in wenigen Jahren erreichbar«), wie es Westerwelle schon wieder tut, sollte sie von den Abrüstungsbewegten hier und anderswo in ihrer ganzen Härte zur Kenntnis genommen werden, um geeignete Gegenstrategien zu entwickeln. Nach der Obama-Rede in Prag 2009 gibt es eine Illusion weniger, aber damit auch ein bisschen mehr Klarheit.
** Aus: Neues Deutschland, 24. April 2010 (Kommentar)
Außenministertreffen in Tallinn: Politiker reden, Aktivisten steigen aufs Rad
Pressemitteilung des Kampagnenrats
Während die Außenminister der NATO-Mitgliedsstaaten über die
verbliebenen Atomwaffen in Europa streiten, steigen in Deutschland
bundesweit FriedensaktivistInnen auf ihre Fahrräder und treffen sich
mit den BürgermeisterInnen für den Frieden. "Außenminister Hillary
Clinton und NATO-Generalsekretär Rasmussen treten zwar in Tallinn beim
Thema Abzug der US-Atomwaffen auf die Bremse, aber wir geben Vollgas.
Wir wollen Deutschland endlich atomwaffenfrei machen!", so Xanthe
Hall, Sprecherin der Kampagne "unsere zukunft - atomwaffenfrei".
Mit der Aktion "next stop. New York 2010" machen die AktivistInnen auf
das Thema Atomwaffen und die Nichtverbreitungs-Konferenz aufmerksam.
Vom 20. März bis 24. April haben sich unter diesem Motto überall in
Deutschland kleine Gruppen von friedensbewegten Menschen an
Fahrradtouren beteiligt und Unterschriften von BürgermeisterInnen "Für
eine Zukunft ohne Atomwaffen" gesammelt. Zu den 50 UnterzeichnerInnen
gehören u.a. der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude und der
Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit.
In jedem Ort ließen die Gruppen sich mit Ortsausgangsschildern
fotografieren. Im Ostalbkreis traten 50 FahrradfahrerInnen in die
Pedale und präsentierten Schilder aus 18 Orten. In der Großstadt
Berlin waren am Mittwoch ebenfalls VertreterInnen der Friedensbewegung
mit dem Rad unterwegs. In Bochum, Essen, Köln, Bonn, Osnabrück,
Münster, Solingen, Ludwigsburg, Heidelberg, Villingen-Schwenningen,
Schwäbisch-Gmünd, Heidenheim, Schorndorf und viele kleine Orten wurden
Unterschriften von BürgermeisterInnen gesammelt.
Die Ortsschilder mit dem Namen der jeweiligen passierten Städten und
Gemeinden und dem Aufdruck "next stop. New York 2010" werden in New
York an Außenminister Westerwelle übergeben. Die unterzeichneten
Appelle und die weltweit gesammelten Unterschriften nimmt am 4. Mai in
New York der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon entgegen. Der
Appell "Für eine Zukunft ohne Atomwaffen" ruft u.a. zu einem Abzug der letzten Atomwaffen aus Deutschland auf.
Bilder von der Aktion sind hier zu sehen: http://bit.ly/next_stop
Mehr Infos über die Aktion:
www.atomwaffenfrei.de/next-stop-new-york-2010/radtouren.html
Liste der unterzeichnenden BürgermeisterInnen:
www.mayorsforpeace.de/inhalt/npt2010_appell.html
Mehr Infos zum Appell "Für eine Zukunft ohne Atomwaffen": www.npt2010.de
Pressekontakt: Xanthe Hall, Mobil: 0171-435 8404, Festnetz: 030-698074-12
Obamas Blendwerk
Wieder eine Abfuhr für Westerwelle
Von Werner Pirker ***
Es muß nicht immer erfreulich, sein, wenn der FDP-Vorsitzende und Außenminister Guido Westerwelle eins auf die Mütze bekommt. Wenn er zum Beispiel den Abzug von taktischen US-Atomwaffen aus Europa fordert und seine Initiative auf der NATO-Außenministerkonferenz in Tallinn brüsk zurückgewiesen wird. Nach dem Abschluß des Abrüstungsvertrages zwischen den USA und Rußland über strategische Atomwaffen hatte Westerwelle ein »Fenster der Möglichkeit« gesehen, um die atomare Abrüstung voranzubringen. Doch weder NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen noch US-Außenministerin Hillary Clinton ließen auch nur den Ansatz eines »neuen Denkens« in der Nuklearfrage erkennen.
Solange es Atomwaffen gebe, müsse die NATO ein nukleares Bündnis bleiben, sagte Clinton. Ein Standpunkt, der vom NATO-Generalsekretär pflichtbewußt bekräftigt wurde. Als wäre der Kalte Krieg noch immer nicht beendet, begründet der Westen die Lagerung von US-Atombomben in Europa mit der Existenz russischer Nuklearwaffen. 160 bis 200 amerikanische Atombomben gegen 2000 bis 4000 russische, wird eine falsche Rechnung aufgemacht. Die Russen haben ihr Nuklearpotential auf íhrem eigenen Territorium gelagert und nicht wie die USA auf fremden Stützpunkten vor Rußlands Nase. Frankreich und Großbritannien sind Nuklearmächte und auch ohne US-Atomraketen auf deutschem Boden fähig, einen Nuklearschlag abzuwehren. Und was sollte das sich mit dem Westen in einer Wertegemeinschaft wähnende Rußland dazu bewegen, Europa der totalen Vernichtung auszusetzen? Der Abrüstungsvorstoß des deutschen Außenministers geht offensichtlich von der Annahme aus, daß ein atomwaffenfreies Deutschland vor einem Kernwaffenangriff besser geschützt wäre als ein mit US-Nuklearwaffen »verteidigtes«.
Die von defätistischen Absichten der sowjetische Führung unter Michail Gorbatschow bestimmte militärische, politische und ideologische Abrüstung der östlichen Supermacht hat auf westlicher Seite keineswegs zu einer Entmilitarisierung der Außenpolitik geführt. Die NATO rückte bis an die Grenzen Rußlands heran. Ehemalige Sowjetrepubliken wurden zu antirussischen Stützpunkten ausgebaut. Daß US-Präsident Barack Obama auf die Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Osteuropa verzichtet hat, kann immerhin als vertrauensbildende Maßnahme bezeichnet werden. Daß aber so getan wird, als wäre die Vision einer »atomwaffenfreie Welt« von ihm erfunden worden, ist pure Heuchelei. Denn das haben sowjetische Führer schon getan, als in Washington noch atomare Vernichtungsphantasien die Sicherheitspolitik dominierten. Wie so vieles bei diesem US-Präsidenten ist auch die Welt ohne Atomwaffen nur rhetorisches Blendwerk. Rasmussen und Clinton wollten keineswegs Obamas Politik konterkarieren, als sie Westerwelle ins Leere laufen ließen. Sie haben lediglich den Unterschied zwischen frommen Sprüchen und US-Hegemonialpolitik deutlich gemacht.
*** Aus: junge Welt, 24. April 2010
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