Die imperialen Absichten der USA auf dem Balkan
Willy Wimmer (CDU): NATO-Krieg gegen Jugoslawien sollte Fehlentscheidung Eisenhowers korrigieren. Ein interessanter Brief und ein anregender Kommentar
Am 23. Juni 2001 veröffentlichte die junge welt eine Analyse eines Briefes, den Willy Wimmer im Mai 2001 an Bundeskanzler Schröder geschrieben hat und in dem er den Kanzler auf einige brisante Details strategischen Denkens US-amerikanischer Diplomaten hinwies. Wir dokumentieren im Folgenden die Analyse, deren Verfasser Rainer Rupp ist. Von der Existenz des Briefs (zumindest in einer Fotokopie) konnte ich mich anlässlich einer Podiumsdiskussion, bei der ich neben Rainer Rupp saß, selbst überzeugen. (Pst)
Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ist geführt worden, um eine strategische
Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem 2. Weltkrieg zu revidieren.« Das hatte der
ehemalige CDU-Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Willy Wimmer, der zur Zeit des
NATO-Angriffskrieges gegen Jugoslawien Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der
OSZE war, in einer Fernsehdiskussion im WDR im Februar dieses Jahres erklärt. Die
Diskussion hatte im Anschluß an die Ausstrahlung des Films »Es begann mit einer Lüge« in
der ARD am 8. Februar stattgefunden. In dem Film wurde die wissentliche Irreführung von
Parlament und Öffentlichkeit durch Verteidigungsminister Rudolf Scharping und
Außenminister Joseph Fischer dokumentiert. Mit Hilfe antiserbischer Greuelpropaganda
hatten sie versucht, die deutsche Beteiligung am ersten Angriffskrieg der NATO gegen einen
souveränen Staat in Europa zu rechtfertigen.
Klartext gesprochen
Mit seiner Behauptung, daß geostrategische Interessen der USA der wirkliche Grund für den
NATO-Angriff auf Jugoslawien waren, berief sich Willy Wimmer auf die Aussagen hoher
Vertreter der amerikanischen Regierung bei einer Konferenz in Bratislava, die Ende April
2000 vom US-Außenministerium und dem American Enterprise Institute (außenpolitisches
Institut der republikanischen Partei) in der slowakischen Hauptstadt zu den
Schwerpunktthemen Balkan und NATO- Ostexpansion veranstaltet worden war. Bei dieser
Konferenz hatten die Amerikaner über ihre Pläne für die Neuordnung Europas Klartext
gesprochen. Der offensichtlich empörte Bundestagsabgeordnete Wimmer hatte es daraufhin für
notwendig befunden, Gerhard Schröder über die wichtigsten Punkte zu informieren. In seinem
vom 2.5.00 datierten Brief an den Bundeskanzler wies der Abgeordnete Wimmer auf die
politische Brisanz der Konferenz in Bratislava hin, auch weil sie »sehr hochrangig
besetzt« gewesen sei, »was sich schon aus der Anwesenheit zahlreicher Ministerpräsidenten
sowie Außen- und Verteidigungsminister aus der Region« ergeben hätte. Das Schreiben
Wimmers, das dem Autor dieser Zeilen in Kopie vorliegt, sollte einer möglichst breiten
Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden. Das Wissen um die imperialen Absichten der
USA und ihrer NATO darf nicht auf den Kanzler und eine kleine politische Elite beschränkt
bleiben. Deshalb werden die von MdB Wimmer im Kanzlerbrief aufgeführten Punkte nachfolgend
jeweils wortwörtlich wiedergegeben und kommentiert.
»Anerkennung Kosovos«
»1. Von seiten der Veranstalter (US-Außenministerium und American Enterprise Institute)
wurde verlangt, im Kreise der Alliierten eine möglichst baldige völkerrechtliche
Anerkennung eines unabhängigen Staates Kosovo vorzunehmen.«
Das heißt mit anderen Worten, daß die Schlußakte von Helsinki über »Europäische Sicherheit
und Zusammenarbeit« (OSZE) für die Vereinigten Staaten nicht einmal mehr das Papier wert
ist, auf dem sie geschrieben steht, obwohl unter diese Akte neben den USA fast alle
europäischen Staaten ihre Unterschrift gesetzt haben. Die besondere zivilisatorische
Errungenschaft dieser Schlußakte von Helsinki war die Verpflichtung aller
Unterzeichnerstaaten, daß in Zukunft Staatsgrenzen in Europa nie wieder mit Gewalt
verändert werden dürften. Die amerikanische Forderung nach einer »möglichst baldigen
völkerrechtlichen Anerkennung eines unabhängigen Staates Kosovo« bedeutet jedoch nichts
anderes als den Rückfall in jene barbarischen Zeiten, in denen Europas Staatsgrenzen mit
Blut immer wieder neu gezogen wurden. Die völkerrechtliche Anerkennung eines unabhängigen
Staates Kosovo würde de facto die Aufkündigung der Schlußakte von Helsinki bedeuten,
wodurch auch ihre Nachfolgeorganisation, die OSZE, in Frage gestellt würde, mit
weitreichenden und gefährlichen Implikationen für Gesamteuropa. Wegen der vielen
ungelösten Grenz- und Minderheitenfragen auf dem alten Kontinent würde durch einen solchen
Schritt die Büchse der Pandora geöffnet. Nicht zuletzt deshalb stehen die meisten
europäischen NATO-Partner diesen Vorstellungen ihrer amerikanischen Verbündeten äußerst
skeptisch gegenüber. Mit einem formaljuristischen Trick versuchten die Amerikaner jedoch,
diese europäischen Bedenken einfach hinwegzudefinieren, wie Punkt zwei in Willy Wimmers
Brief zeigt:
»2. Von den Veranstaltern wurde erklärt, daß die Bundesrepublik Jugoslawien außerhalb
jeder Rechtsordnung, vor allem der Schlußakte von Helsinki, stehe.«
Mit diesem formaljuristischen Trick wäre für Washington das Problem gelöst, denn so könnte
Kosovo mit dem Segen der NATO seine Unabhängigkeit bekommen, ohne daß diese gegen die
Regeln der OSZE verstoßen hätte. Denn wer wie Jugoslawien angeblich »außerhalb der
Schlußakte von Helsinki steht«, für den kann auch deren Inhalt nicht gelten. Da spielt es
keine Rolle, daß die Bundesrepublik Jugoslawien zu den Erstunterzeichnern der Schlußakte
von Helsinki gehörte. Kraft ihres Status als einzige Supermacht entscheiden die
Vereinigten Staaten willkürlich, wer außerhalb der Schlußakte von Helsinki steht und wer
nicht, d.h. wessen Staatsgrenzen mit Gewalt verändert werden können und wessen nicht. Auch
hier zeigt sich die verstärkte Neigung der US-Amerikaner, überall dort das internationale
Recht auszuhebeln, wo es den Interessen Washingtons im Wege steht.
The New Empire
»3. Die europäische Rechtsordnung sei für die Umsetzung von NATO-Überlegungen hinderlich.
Dafür sei die amerikanische Rechtsordnung auch bei der Anwendung in Europa geeigneter.«
Washington zeigt hier unverhüllt seinen imperialen, weltweiten Macht- und Rechtsanspruch.
Das geschieht in einer Art und Weise, die deutliche Parallelen zum imperialen Gehabe der
römischen Kaiser aufweist. Nicht umsonst wird das neue Washington mit seinem Anspruch auf
globale Vorherrschaft, die auch mit der angeblichen zivilisatorischen Überlegenheit der
amerikanischen Werteordnung begründet wird, selbst von kritischen Amerikanern zunehmend
als »the New Empire«, als das »Neue Reich« bezeichnet.
»4. Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine
Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem 2. Weltkrieg zu revidieren. Eine
Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden
müssen.«
Ein Blick in die Archive läßt den Schluß zu, daß es sich bei der angeblichen
Fehlentscheidung nur um den aus westlicher Sicht folgenschweren Entschluß anläßlich der
alliierten Konferenz von Teheran im Jahre 1944 handeln kann, bei der die Westalliierten
dem bereits legendären, royalistischen, serbischen Guerillaführer General Draza Mihailovic
beim Kampf gegen die Deutschen ihre Unterstützung entzogen und statt dessen auf den bis
dahin kaum bekannten Tito setzten. So entschied nach dem Krieg der Kommunist Tito über die
staatliche Verfaßtheit Jugoslawiens und nicht der royalistische Freund des Westens,
Mihailovic, der nach dem Ende des 2. Weltkriegs seinen Partisanenkrieg weiterführte, jetzt
allerdings gegen die neue kommunistische Ordnung Titos. Mihailovic wurde schließlich
gefangengenommen, zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Es würde hier zu weit führen, auf die Einzelheiten der Desinformationskampagne einzugehen,
mit deren Hilfe es dem für die Sowjetunion arbeitenden britischen Doppelagenten James
Klugmann - in Abstimmung mit Moskau - in jener Zeit gelungen war, General Mihailovic bei
der britischen Regierung so sehr in Mißkredit zu bringen, daß er bei der Konferenz von
Teheran schließlich fallengelassen und statt dessen der von Moskau vorgeschlagene Tito vom
Westen unterstützt wurde. Soviel sei jedoch noch zu General Mihailovic gesagt: Er war
nicht nur ein großer Stratege des Guerillakrieges, sondern auch einer, der mit seinen
serbischen Widerstandskämpfern auf diese Art im von den Nazis besetzten Europa den Krieg
gegen die Nazis fortführte. Dabei war er so erfolgreich, daß er auf dem Balkan erhebliche
deutsche Kräfte band. Als Rommel vor El- Alamein stand, gratulierten und bedankten sich
deshalb die alliierten Oberbefehlshaber General Eisenhower, General Auchinleck, Air-
Marshal Tedder, Admiral Harwood und General de Gaulle bei General Mihailovic für seine
Hilfe. Trotzdem wurde Mihailovic später fallengelassen, woran sicherlich auch die vom
sowjetischen Geheimdienst gestrickte und über den britischen Doppelagenten Klugmann
verbreitete Legende schuld war, daß Mihailovic in Wirklichkeit mit den Deutschen
zusammenarbeitete. Die Folge war, daß zum Kriegsende Jugoslawien und der ganze Balkan
unter den Einfluß Moskaus statt des Westens kam. Selbst nach dem Zusammenbruch des real
existierenden Sozialismus in den Warschauer Vertragsstaaten und dem Zerfall der
Sowjetunion konnten sich wesentliche Formen sozialistischen Wirtschaftens und der
sozialistischen Gesellschaftspolitik erst in Jugoslawien und dann unter Präsident Slobodan
Milosevic in Serbien bis in die jüngste Zeit halten. Wegen der strategischen und
wirtschaftlichen Bedeutung des industriell relativ weit entwickelten und volkreichen
Serbien blockierte das Festhalten der Jugoslawen an Resten sozialistischer Politik die
neoliberale Neuordnung des gesamten Balkans entlang amerikanischer und westeuropäischer
Vorstellungen. Das alles ist auf den »strategischen Fehler Eisenhowers« zurückzuführen,
der General Mihailovic zu einem kritischen Zeitpunkt in der Geschichte des Balkans
fallengelassen hatte. Dies war wohl »der Fehler«, den die amerikanischen
Regierungsvertreter bei der Konferenz in Bratislava meinten und der durch den NATO-Angriff
auf das souveräne Jugoslawien und durch die Stationierung amerikanischer Truppen auf dem
Balkan hätte korrigiert werden müssen.
»5. Die europäischen Verbündeten hätten beim Krieg gegen Jugoslawien deshalb mitgemacht,
um de facto das Dilemma überwinden zu können, das sich aus dem im April 1999
verabschiedeten 'Neuen Strategischen Konzept' der Allianz und der Neigung der Europäer zu
einem vorherigen Mandat der UN oder OSZE ergeben habe.«
Das »Neue Strategische Konzept« der NATO wurde mitten im Bombenkrieg gegen Jugoslawien am
28. April 1999 auf dem NATO-Gipfeltreffen in feierlicher Sitzung zum 50. Jahrestag der
Gründung der NATO von den Staats- und Regierungschefs der NATO-Länder unterzeichnet. Außer
den territorialen Grenzen der Mitgliedsstaaten »verteidigt« nun die »neue« NATO unscharf
definierte Sicherheitsinteressen aller Art, die allerdings auch explizit »den Zugang zu
Rohstoffen« umfassen. Diese »Interessen« werden offensiv außerhalb des traditionellen
Zuständigkeitsbereichs der NATO im euro-atlantischen Raum verteidigt. Dieser Raum
erstreckt sich vom Kaspischen Meer über den Persischen Golf, über Nordafrika und den
Atlantik. Dabei nimmt sich die NATO das Recht heraus, wie im Fall Kosovo, sich selbst das
Mandat zu militärischen Interventionen zu erteilen, um sich unter dem Mantel »humanitärer
Interventionen« den gar nicht so humanitären »Zugang zu Rohstoffen« zu sichern, wie im
Artikel 24 des »Neuen Strategischen Konzeptes« nachzulesen ist. Mit seiner Unterschrift
vom 28. April 1999 unter das »Neue Strategische Konzept« hat Bundeskanzler Schröder nichts
anderes getan, als den alten imperialistischen Raubkrieg auch in Deutschland wieder
gesellschaftsfähig zu machen.
Präzedenzfall
»6. Unbeschadet der anschließenden legalistischen Interpretation der Europäer, nach der es
sich bei dem erweiterten Aufgabenfeld der NATO über das Vertragsgebiet hinaus bei dem
Krieg gegen Jugoslawien um einen Ausnahmefall gehandelt habe, sei es selbstverständlich
ein Präzedenzfall, auf den sich jeder jederzeit berufen könne und auch werde.«
Die Beschwörungen von Bündnis90/Die Grünen und der SPD, es habe sich beim Angriff auf
Jugoslawien um einen »Ausnahmefall« gehandelt, sind Wunschdenken und entsprechen nicht der
politischen Realität der NATO und der EU-Interventionstruppe, die von vielen weiteren
»Ausnahmefällen« in Zukunft ausgehen und dementsprechend aufrüsten.
»7. Es gelte, bei der jetzt anstehenden NATO- Erweiterung die räumliche Situation zwischen
der Ostsee und Anatolien so wiederherzustellen, wie es in der Hochzeit der römischen
Ausdehnung gewesen sei.«
Ohne Kommentar.
Feindbild Rußland
»8. Dazu müsse Polen nach Norden und Süden mit demokratischen Staaten als Nachbarn umgeben
werden, Rumänien und Bulgarien die Landesverbindung zur Türkei sicherstellen, Serbien
(wohl zwecks Sicherstellung einer US- Militärpräsenz) auf Dauer aus der europäischen
Entwicklung ausgeklammert werden.«
Seit es im Herbst letzten Jahres Washington unter Einsatz von viel Geld gelungen ist, eine
dem Westen genehme und unterwürfige Regierung in Belgrad zu etablieren, ist der zweite
Teil von Punkt acht sicherlich überholt.
»9. Nördlich von Polen gelte es, die vollständige Kontrolle über den Zugang aus St.
Petersburg zur Ostsee zu erhalten.«
Es fällt den Amerikanern offensichtlich schwer, sich vom russischen Feindbild zu lösen.
Rußland, das unter Putin die russischen Sicherheitsinteressen wieder energischer vertritt,
soll nach wie vor im Zangengriff gehalten werden.
»10. In jedem Prozeß sei dem Selbstbestimmungsrecht der Vorrang vor allen anderen
Bestimmungen oder Regeln des Völkerrechts zu geben.«
Auf diese Weise läßt sich fast jeder Staat zerstören, denn in fast jedem Staat gibt es
ethnische Minderheiten oder Minderheiten, die sich als solche fühlen. Gibt der Westen dem
»Selbstbestimmungsrecht« dieser Minderheiten völkerrechtliche Priorität, dann verschafft
er sich ein scheinlegales Instrument zur Zerschlagung fremder Staaten nach eigenem
Gutdünken.
Macht vor Recht
»11. Die Feststellung stieß nicht auf Widerspruch, nach der die NATO bei dem Angriff gegen
die Bundesrepublik Jugoslawien gegen jede internationale Regel und vor allem einschlägige
Bestimmungen des Völkerrechts verstoßen habe.«
Dieser Punkt betrifft offensichtlich die Reaktion der Konferenzteilnehmer auf eine
persönliche Stellungnahme Willy Wimmers gegen den NATO-Angriff. Seiner Kritik, daß dabei
gegen jede internationale Regel und vor allem gegen einschlägige Bestimmungen des
Völkerrechts verstoßen wurde, wurde von den Amerikanern zwar nicht widersprochen, sie
blieb aber - Ausdruck des zunehmenden Rechtsnihilismus der Supermacht in den
internationalen Beziehungen - ohne eine US-Reaktion des Bedauerns oder andere Folgen.
Zum Abschluß seines Briefes an Kanzler Schröder nimmt Willy Wimmer eine Bewertung der auf
der Konferenz in Bratislava gemachten Aussagen vor und schreibt: »Die amerikanische Seite
scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewußt und gewollt die als
Ergebnis von zwei Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte internationale Rechtsordnung
aushebeln zu wollen. Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht,
wird es beseitigt. Als eine ähnliche Entwicklung den Völkerbund traf, war der 2.Weltkrieg
nicht mehr fern. Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur
totalitär genannt werden.«
Aus: junge welt, 23. Juni 2001
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