Aufruf zur Fahnenflucht: Verurteil und gepriesen
Pazifisten wegen ihrer Haltung gegen den NATO-Krieg vor Gericht und ausgezeichnet
Die Humanistische Union verlieh am 10. Juni 2001 in Berlin den "Fritz-Bauer-Preis" für herausragendes Engagement um Demokratie und Bürgerrechte an die 28 Erstunterzeichner des Aufrufs zur "Fahnenflucht" im NATO-Krieg gegen Jugoslawien. Der Aufruf war am 21. April 1999 als Anzeige in der Berliner taz erschienen und löste eine Flut von Anklagen und Strafverfahren gegen die Unterzeichner/innen aus. In erster Instanz wurden 33 Personen freigesprochen, sieben wurden zu Geldstrafen verurteilt. Vor dem Landgericht (also in 2. Instanz) gab es bisher 13 Freisprüche und zwei Verurteilungen. Unter den zweitinstanzlich Verurteilten befindet sich auch Wolf-Dieter Narr. Sprecher des Komitees für Grundrechte und Demokratie.
Die Frankfurter Rundschau dokumentierte am 9. Juni 2001 einen großen Teil der Verteidigungsrede von Wolf-Dieter Narr. Wir beschränken uns im Folgenden auf Teil 2 und 3 des Manuskripts: In Teil 2 erläutert Narr noch einmal seine grundsätzliche Kritik am NATO-Krieg (Völkerrechtswidrigkeit, Verstoß gegen das Kriegsvölkerrecht usw.), Teil 3 enthält eine "Richterschelte" insofern, als er den in den meisten Freisprüchen herangezogenen Artikel 5 GG ("Meinungsfreiheit") für nicht angemessen, sondern für "drückebergerisch" hält.
Fahnenflucht vor Gericht
Auszüge aus der Verteidigungsrede von Wolf-Dieter Narr vor dem Landgericht Berlin
Zum völker- und menschenrechtlichen Fundament des Nato-Krieges
Die Lage in Kosovo war seit langem ohne Frage prekär, Besorgnis erregend,
mordvoll. Sie heischte nach Handeln. Das Milosevic-Regime hatte eine gewalttätige
Vergangenheit und hegte ethnozentristisch imperiale Pläne. Seinerzeit schon
erkenntlich galt indes und gilt heute, über eineinhalb Jahre danach: Erst der
Nato-Krieg hat die beiderseits geübte Gewalt vollends enthemmt. Die Nato-Staaten
haben, von keinem "humanitären" Kriegsziel zu rechtfertigen, für sie selbst
risikolose Bombengewalt unter anderem auf die zivile Bevölkerung und zivile
Objekte geübt.
Angesichts der menschenrechtlichen Übermoralisierung des Nato-Krieges, die den
Krieg fast wie einen "Kollateralschaden" seriöser Menschenrechtspolitik
erscheinen und als eine Art Nicht-Krieg sprachlich retouchieren ließ, wirkt der
Missbrauch von Gefahren, Ereignissen und Symbolen noch schlimmer. Solcher
populistischer Missbrauch ist geradezu kriegshetzerisch, kriegshysterisch, selbst-
und fremdtäuscherisch von höchsten Regierungspositionen aus betrieben worden.
Die bundesdeutschen Außen- und Verteidigungsminister taten sich, dazu nicht
bestellt und berufen, mit Gräuelgeschichten, Gräuelgedichten, Kriegsschaum vor
dem Mund, hervor. Schon um den 24. März 1999 konnte die substanzlose
Erfindungskraft unverantwortlicher Politiker durchschaut werden. Alle von soliden
Untersuchungen zu Tage geförderten Informationen seither häufen Evidenz auf
Evidenz, dass die von den Fischers, den Scharpings u. a. m. angelegten
prachtvollen Menschenrechtskleider ihre klägliche Gestalt als verantwortliche
Politiker nicht zu verhüllen vermögen. Sie haben sich nur menschenrechtlich
prätentiös geriert; und sie haben dazu, mit einer geradezu perversen Lust,
Massaker, Vertreibungspläne, genozidartige Handlungen medienbetört und
medienbetörend als Lückenfüller ihrer Verantwortungslosigkeit funktionalisiert. Man
betrachte nur die differenziert ausgebreiteten Belege des ehemaligen Generals und
OSZE-Beauftragten der Bundesrepublik, Heinz Loquai (s.: Der Kosovo-Konflikt -
Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März
1999, Baden-Baden 2000).
Alle Notwehr- und humanitären Nothilfe-Behauptungen zerfallen wie schimmlige
Pilze. Die menschenrechtsmoralisch triefende, tatsächlich kriegerisch
antimenschenrechtliche Rechtfertigungsstrategie betrieb vor allem die
bundesdeutsche Seite. Alle grundgesetzlichen, aus der deutschen Erfahrung des
20. Jahrhunderts erwachsenden und nicht zuletzt alle grundgesetzlich höherrangig
geltenden Forderungen des Völkerrechts sollten erstickt werden. Noch das Leid
der Menschen in Kosovo wurde für die eigenen Zwecke funktionalisiert. Nur so
lässt sich die größte Augenmaß- und schamloseste Geschmacklosigkeit
bundesdeutscher regierungsamtlicher Begründungen verstehen: der deplatzierte
Gebrauch der längst metaphorisch leicht zu handhabenden Erinnerung an
Auschwitz.
Die Menschenrechte stehen in der Tat und in der Norm in modernem Völkerrecht
und über allem zwischenstaatlichen Recht. Den Ausschlag gibt jedoch, wie sie zu
schützen und wie sie am ehesten angemessen wahrzunehmen seien. Hierfür gilt
als erste strikte Regel: Die Substanz der Menschenrechte kann nur mit
menschenrechtsgemäßen Mitteln zu verwirklichen versucht, erstritten und gewahrt
werden. Das jedoch war genau im Nato-Krieg von Anfang bis Ende und darüber
hinaus nicht der Fall; selbst noch in der Art der eingesetzten Waffen, selbst noch
in der unverzeihlichen Lücke jeglicher Konzeption für die Nach-Kriegs-Zeit (vgl.
auch W.-D. Narr / Roland Roth / Klaus Vack: Wider kriegerische Menschenrechte.
Eine pazifistisch-menschenrechtliche Streitschrift. Beispiel: Kosovo 1999 -
Nato-Krieg gegen Jugoslawien, hrsg. vom Komitee für Grundrechte und
Demokratie, Köln 1999).
Zuallererst klagen an die Toten; es klagen an die Überlebenden, die auf lange Zeit
geschädigt sind: bis zur gewaltheckenden Verfestigung wechselseitigen Hasses.
Die Gesamtheit der Nato-verursachten Zerstörungen sind unter dem
euphemistischen Rubrum "Kollateralschäden" nicht mehr zu verbuchen. Auf Dauer
fast noch schlimmer sind die mittelbaren Drittfolgen, die Drittwirkungen dieses
unseligen, für alle möglichen, menschenrechtlich heterogenen Zwecke gewollten
Krieges. Und sie wussten, was sie tun.
-
Der 45er UN-Konsens und seine Institutionen sind ohne Not Nato-willkürlich
verletzt worden. Wer immer machtvoll genug ist, wird ihn beliebig verletzen. Nicht
der Kalte Krieg und seine schreckliche Lähmung der Welt, die angeblich
demokratisch organisierten, menschenrechtlich süßmündigen Nato-Staaten
lähmen nun je nach Gusto selbst die völkerrechtlichen Minima kollektiver
Kriegsvermeidung.
- Die Aufrüstungsspirale wurde kräftig angeschuckt. Wer sollte von anderen
Staaten erwarten können, sich nicht dem Vorbild der Nato gemäß zu verhalten,
das eine zusätzliche Botschaft enthält: nur der militärisch Starke kann mithalten;
nur der militärisch Starke wird "humanitär" verpackte Interventionen der
Nato-Staaten vermeiden können.
- Ein Motiv der Hetze hin zum Krieg in Rambouillet war die im April 1999 in
Washington D. C. anstehende Reform der Nato anlässlich ihres 50-jährigen
Geburtstages. Diese Reform, die in der Zwischenzeit von der Bundeswehr in ihrer
eigenen Reform verlängert wird, bedeutet ein Doppeltes: zum einen und am
wichtigsten den Umbau der Nato und der Truppen aller Mitgliedsländer in Richtung
ihres globalen Einsatzes. Der Kosovo-Krieg bildet insofern den Prototyp der "neuen
Nato". Zum anderen wird versucht, unter dem Modeunnamen einer "Europäischen
Sicherheits- und Verteidigungsidentität" eine zusätzliche europäische
"Aktionsfront" zu eröffnen. Krieg, menschenrechtlich kostümiert, soll erneut als
Gehmasche der Staaten normalisiert werden.
(Freispruch wegen "Meinungsfreiheit" ist zu wenig)
Exekutive, Legislative, Judikative - warum alle des Paragrafen 111 StGB in
Verbindung mit den einschlägigen Paragrafen des Wehrstrafgesetzes halber
Angeklagten freigesprochen werden müssten; warum es jedoch nicht angeht, dass
freisprechende Gerichte sich "nur" auf Art. 5 Abs. 1 GG (Meinungsfreiheit)
berufen.
Die Richterinnen und Richter, die unter Berufung auf Art. 5 Abs. 1 GG freisprechen,
begründen ihre Urteile unzureichend. Indem sie dem Anscheine nach das
Grundrecht auf Meinungsfreiheit stärken, schwächen sie dasselbe. Drei Gründe
führe ich für diese partielle Urteilsschelte an.
Zum Ersten der institutionelle Grund. Liberale Demokratie, ihre Grund- und
Menschenrechte leben von der Gewaltenteilung, der wechselseitigen
Gewaltenkontrolle, den Checks and Balances zwischen den Gewalten: Legislative,
Exekutive, Judikative. Die gewählte Exekutive hat im Kosovo-Krieg
verantwortungsethisch versagt. Sie hat sich nicht an Recht und Gesetz gehalten.
Dieser Sach-, Moral- und Rechtsverhalt besteht, wie immer das Handeln der
Bundesregierung ansonsten begründet werden mag (etwa aus
Nato-Nibelungentreue, aus US-amerikanischer Abhängigkeit, aus Angst vor
zusätzlichen Flüchtlingen u. Ä. m.). Die Legislative hat in der Vorkriegs- und
Kriegszeit ihre systematische Mitwirkungs- und Kontrollschwäche bestätigt. Diese
gilt in Sachen Außen- und Militärpolitik verschärft. Der Bundestag ließ sich
geradezu in corpore politisch misshandeln, in jedem Fall exekutivehörig
missachten. Nur wenige Abgeordnete wie Burkhard Hirsch von der FDP, Christian
Ströbele von den Grünen, Gregor Gysi von der PDS hielten die Fahne der
Legislative hoch, ohne flüchtig zu werden.
Umso mehr war und ist die Judikative gefordert, ohne dieselbe in ihrer begrenzten
Autonomie zu überschätzen und zu überfordern. Um der Zukunft des
demokratischen Rechtsstaats willen, der nur funktionieren kann, wenn die oben
genannte Balance wenigstens teilweise besteht und immer erneut hergestellt wird.
Die Judikative hat ihren eigenen Grund in der Verfassung als ihrem primären
Bezug. Das ist ihre Funktion. Die Judikative widerstreitet ihrem eigenen
funktionalen und damit zugleich verfassungsnormativen Imperativ, wenn sie - erneut
exekutivehörig - statt die Verfassung und das ihr entsprechende Recht, im
verhandelten Falle zuallererst das Völkerrecht, zum Ausgangs- und Endpunkt ihrer
Urteilsbildung zu machen, der normativen Kraft des exekutivisch gemachten
Faktischen folgt. In Sachen Kosovo-Krieg geht es deshalb schlechterdings nicht
an, dass die Judikative in ihren einzelnen Organen, insbesondere dass die Gerichte
Grundgesetz und Völkerrecht als urteilsunerheblich irgendwo liegen lassen.
Zum Zweiten: Das Ermessen eines Gerichts ist groß. Dennoch geht es nicht an,
die Staatsanwaltschaft und ihre Anklage nicht ernst zu nehmen. Zwar versäumt es
die Staatsanwaltschaft ihrerseits, Völkerrecht und Grundgesetz anklagend zur
Kenntnis zu nehmen. Dieses staatsanwaltliche Fehlverhalten zeitigt sogar so
etwas wie einen normativen horror vacui. Denselben dürfen die zuständigen
Gerichte jedoch nicht verdoppeln und durch ihre normative leere Entscheidung
gerichtsnotorisch bestätigen. Ein solches Verhalten schädigte den demokratischen
Rechtsstaat.
Zum dritten Grund: Wie die staatsanwaltschaftliche Klage nicht zureichend ernst
genommen wird, mit der Folge, dass sich das erkennende Gericht gegen die innere
Gewaltenteilung im Rahmen der Judikative mit der Staatsanwaltschaft
komplizengleich verhalten könnte, so werden auch die Beklagten und ihre Rechte
nicht ernst genommen. Diese Missachtung der Angeklagten geschieht, wenn sie
unter Hinweis auf Art. 5 Abs. 1 GG freigesprochen werden. Ich habe selbst
mehrfach beobachtet, wie Angeklagte sich alle Mühe geben, zu begründen, warum
und wie sie dazu gekommen sind, den Desertionsaufruf zu unterschreiben. Sie
haben von ihren persönlichen Motiven gesprochen, von ihrem Verständnis des
Grundgesetzes, der Menschenrechte und des Völkerrechts. Und das erkennende
Gericht hat sie mit ihrer Einlassung zur Sache, ohne mit einem Wort darauf
einzugehen, schlicht ins Leere reden lassen. Die persönliche Kränkung, die aus
solcher Missachtung der Angeklagten und ihrer Einlassungen erwächst, mag
dahingestellt bleiben. Die Sache, um die es geht und weswegen allein die
Verfahren stattfinden, lautet nun einmal: Recht oder Unrecht des Nato-Krieges
gegen die BR Jugoslawien. Hier muss sich ein Gericht stellen. Hic Rhodos,
grundgesetzlich begründeter Rechtsstaat, hic salta. Da gibt es keine die
Meinungsfreiheit zur Ausflucht nehmende Drückebergerei. Wie anders soll eine
rechtliche Kontrolle der Exekutive, eine grundrechtsbezogene auch der Legislative
durch die Judikative zu Stande kommen?
PS: Das Gericht hat meiner Berufung nicht stattgegeben und das erstinstanzliche
Urteil im Wesentlichen dupliziert. Auch alle von meiner Anwältin, Maria Wilken,
kundig gestellten Beweisanträge einschließlich ihres Plädoyers wurden vom
Gericht in souveräner Borniertheit übergangen. Nun steht die von mir sogleich via
Anwältin eingelegte Revision an.
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