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Heinz Loquai: Ein vermeidbarer Krieg

Interview mit dem Brigadegeneral a.D.

Der deutsche Brigadegeneral Heinz Loquai, seit einigen Monaten als Kritiker der Kriegführung der NATO gegen Jugoslawien bekannt und jüngst als Buchautor zum selben Thema hervorgetreten, gab der französischen kommunistischen Zeitung "Humanité" ein Interview, das diese am 9. Juni veröffentlichte. Das Interview bestätigt aus "berufenem Mund" und mit den Kenntnissen eines Experten im Grunde, was die Friedensbewegung schon seit dem Beginn des NATO-Angriffs auf Jugoslawien gesagt hat: Die NATO hat unter Führung der USA eine kurz bevorstehende politische Verhandlungslösung zwischen Serben und Kosovo-Albanern hintertrieben, weil sie auf eine militärische Intervention gegen das widerspenstige Serbien unter Milosevic abzielte.
Im Folgenden dokumentieren wir das Interview, das die Wochenzeitung der DKP, "unsere zeit" aus dem Französischen rückübersetzte und am 30. Juni veröffentlichte, im vollen Wortlaut:


Frage: Sie sagen in Ihrem Buch, dass der Krieg im Kosovo hätte vermieden werden können. Worauf gründen Sie diese These?

Heinz Loquai: Die Chancen für eine friedliche Lösung des Konflikts waren besonders bedeutend im Herbst 1998. Die jugoslawische Führung hatte konkrete Verpflichtungen für politische Verhandlungen mit den Albanern des Kosovo übernommen und einen Rückzug ihrer militärischen und Polizei-Truppen eingeleitet. Sie hatte außerdem akzeptiert, die internationale Kontrolle der Einhaltung des durch die Vereinbarung ausgelösten Prozesses zuzulassen, indem sie die Stationierung von rund 2000 Kontrolleuren der OSZE ("Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa") genehmigte. So existierten solide Grundlagen für eine Feuereinstellung, deren Einhaltung durch eine internationale Organisation überwacht worden wäre. Unter der Hypothese, dass dieser Waffenstillstand gehalten hätte, gab es eine sehr konkrete Chance für eine politische Lösung.

Frage: Aber hat sich die jugoslawische Seite an diese Vereinbarungen gehalten?

Heinz Loquai: Ja, die Jugoslawen haben sich zuerst daran gehalten. Und dies wurde bestätigt, auch durch die OSZE und die NATO. So konnte zum Beispiel der deutsche Außenminister Joschka Fischer vor dem Bundestag auf der Sitzung vom 13. November 1998 erklären, dass der Rückzug der jugoslawischen Truppen und der paramilitärischen Einheiten in weitem Ausmaß verwirklicht wird. Frage: Warum hat dieser politische Weg dann kein erfolgreiches Ende gefunden? Heinz Loquai: Hauptsächlich aus zwei Gründen: Einerseits hat man es nicht erreicht, die bewaffneten Albaner (d. h. die UCK - die Red.) zu einem friedlichen Kurs zu bewegen. Andererseits war die OSZE nicht imstande, genügend Experten für die Überwachung des Prozesses im Kosovo zu entsenden.

Frage: Das war also ein Fehlschlag der OSZE?

Heinz Loquai: Das kann man nicht sagen. Die Mitgliedstaaten hatten der OSZE eine außerordentlich schwierige Mission übertragen. Und sie haben dann die Organisation fallen lassen. Es wurden keine Anstrengungen unternommen - von seltenen Ausnahmen abgesehen - um die OSZE zu unterstützen, indem ihr rasch Personal und Material überlassen wurden.

Frage: Wollen Sie sagen, dass man die OSZE absichtlich scheitern ließ, um dann die NATO in der Rolle eines "Retters" ins Spiel zu bringen?

Heinz Loquai: Ich schließe eine solche Absicht nicht aus, selbst wenn ich deren Existenz nicht beweisen kann. Es ist jedoch besonders frappierend festzustellen, dass Stimmen aus den USA sehr schnell von einem Scheitern der OSZE gesprochen und die Idee einer militärischen Lösung propagiert haben. So haben die Amerikaner am 1. Februar 1999 innerhalb des Ständigen Rats der OSZE Maßnahmen für einen raschen Rückzug der internationalen Beobachter in Verbindung mit den Androhungen von militärischen Schlägen gefordert. Frankreich zeigte sich damals noch reserviert gegen solche Maßnahmen, indem es das Argument vorbrachte, dass man sich noch in einem anderen Stadium, in einer Verhandlungslogik befinde.

Frage: Wann hat die Allianz (NATO, d. Red.) begonnen, eine aktive Rolle in dem Konflikt zu spielen?

Heinz Loquai: Im Frühjahr 1998, wo die ersten Pläne für eine militärische Intervention entworfen worden sind. Die Initiative dazu kam von einigen europäischen Staaten. Die USA haben sich zuerst reserviert gezeigt.

Frage: Es blieb jedoch nicht lange bei dieser Konfiguration.

Heinz Loquai: Nein, im Lauf der Zeit sind die USA zu einer Rolle übergegangen, die nicht nur dirigierend, sondern auch dominierend war. Sie bestimmten die Orientierung und die Geschwindigkeit des Entscheidungsprozesses in den Organen der NATO. Eine erhöhte Frequenz der Sitzungen dieser Organe hat es ihnen erlaubt, den Gang der Beschlussfassung zu beschleunigen. Frage: Wollen Sie damit sagen, dass die Europäer keinen Einfluss mehr auf die Entscheidungen ausübten?

Heinz Loquai: Der Einfluss der Europäer war sehr beschränkt. Die Vereinigten Staaten spielten absolut die erste Rolle. Die amerikanische Außenministerin beherrschte souverän das Terrain. Sie setzte sich in allen wesentlichen Fragen durch. Das gilt sowohl für die Entscheidungen, die innerhalb der NATO getroffen worden sind, wie für die Verhandlungen von Rambouillet.

Frage: Die Mitgliedstaaten der Atlantischen Allianz haben den Krieg gegen Jugoslawien gerechtfertigt mit der Notwendigkeit, eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Wie war die Situation im Kosovo am Vorabend der Luftschläge?

Heinz Loquai: Es herrschte eine grausame Bürgerkriegssituation. Von beiden Seiten wurden die humanitären Regeln verletzt und danach getrachtet, eine Lösung mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Jedoch zeigen alle Berichte der OSZE und der Militärexperten aus dieser Zeit auch, dass keinerlei umfassende Aktion für eine massenhafte und systematische Vertreibung der albanischen Zivilbevölkerung ausgelöst worden war. Die Zivilbevölkerung, die serbische wie albanische, litt unter den Auswirkungen der Kämpfe und isolierten Gewaltakten. Nach allen Berichten, von denen ich Kenntnis erhalten habe, haben die Ausweisungen und die Grausamkeiten großen Ausmaßes gegen die albanische Bevölkerung erst nach den Luftschlägen der NATO begonnen. Frage: Der deutsche Verteidigungsminister Rudolf Scharping hat sich während des Konflikts berühmt gemacht, indem er mit einem sogenannten "Hufeisenplan" herumwedelte. Dieses Dokument - das auch von zahlreichen westlichen Medien und anderen europäischen NATO-Partnern reichlich benutzt worden ist, um die Luftangriffe zu rechtfertigen - sollte angeblich die Existenz eines lange im Voraus von Belgrad erstellten Planes beweisen, die albanische Bevölkerung zu vertreiben. Sie äußern ernsthafte Zweifel sogar hinsichtlich der Existenz eines solchen Planes. Warum?

Heinz Loquai: Die sogenannten Beweise des Ministers sind so schwach und so widersprüchlich, dass man nur Zweifel haben kann, dass er einen solchen Plan in den Händen gehabt hat. Alle Elemente, die er seitdem tröpfchenweise nachgeliefert hat, gezwungen durch den starken Druck der öffentlichen Meinung, können diese Zweifel nur verstärken. Und auch das später vorgebrachte Argument, wonach es sehr wohl einen Plan gegeben haben muss, um mehr als eine Million Kosovo-Albaner zu vertreiben, dürfte nicht überzeugen. Ist der größte Teil der albanischen Flüchtlinge und Vertriebenen nicht im Zeitraum von wenigen Wochen auf sehr spontane Weise wieder in das Kosovo zurückgekommen, ohne jeden Plan?

Frage: Was war unter diesen Bedingungen Ihrer Ansicht nach das reale Ziel der militärischen Intervention der NATO?

Heinz Loquai: Die NATO hat sich immer mehr in dem Konflikt engagiert. Ihre künftige Rolle schien auf dem Spiel zu stehen. Sie fühlte sich offensichtlich mit einer Art von Versetzungsprüfung konfrontiert. Außerdem ging es darum, ihre Fähigkeit zur militärischen Entfaltung, eine offensive Interventionsstrategie in die Praxis umzusetzen.

Frage: Wollen Sie damit sagen, dass die NATO absichtlich beschlossen hat zu einem Krieg zu kommen?

Heinz Loquai: Ich sehe die Dinge nicht so. Das Ziel der NATO war zunächst durch eine einfache militärische Drohung die Oberhand zu bekommen. Doch die Mitgliedstaaten waren auch nicht bereit, die für die jugoslawische Führung am wenigsten annehmbaren Punkte ihres Forderungskatalogs zu verhandeln, um einen Krieg zu vermeiden. Die vorherrschende Meinung war auch, dass eine kurze Periode von Luftschlägen ausreichen würde, um Belgrad zu bezwingen.

Frage: Insgesamt veranlasst Sie Ihre sehr kritische Analyse gegenüber der NATO jedoch nicht, die Verantwortlichkeiten der jugoslawischen Staatsmacht zu minimieren?

Heinz Loquai: In der Tat. Die jugoslawische Seite hat jahrelang auf eine Unterdrückung der Kosovo-Albaner und nicht auf eine politische Lösung des Konflikts gesetzt. Die jugoslawischen Aktionen gegen die UCK waren von unverhältnismäßiger Gewalttätigkeit. Belgrad trägt einen sehr hohen Teil von Verantwortung. Was ich nur einfach bekräftigen will, ist, dass die politischen Führungen der NATO-Staaten für diesen Krieg ebenfalls eine tragen.

Frage: Gibt es Ihrer Ansicht nach Chancen dafür, dass die westlichen Politiker Lehren aus dieser sehr unglücklichen Affäre ziehen?

Heinz Loquai: Ja, ich fürchte jedoch, dass es in vielem schlechte Lehren sein werden. Die westlichen Regierungen sind anscheinend davon überzeugt, dass sie gehandelt haben, wie es notwendig war. So kann man also alle Gründe für die Befürchtung haben, dass sie in Zukunft auf neue bewaffnete Interventionen setzen werden, um politische Konflikte zu lösen, was eine irrige und bedauerliche Methode darstellt.

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