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Es ging nicht um die "humanitäre Katastrophe", sondern um die NATO

Interview mit Dr. Heinz Loquai, Brigadegeneral a.D.

Heinz Loquai war bis Juni 2000 Mitglied der Deutschen OSZE-Delegation in Wien. In dieser Eigenschaft hatte er an den Verhandlungen über Rüstungskontrolle im Rahmen des Dayton-Abkommens teilgenommen und war unmittelbar mit dem Kosovo-Konflikt befaßt. In seiner Studie ("Der Kosovo-Konflikt - Wege in einen vermeidbaren Krieg", erschienen in der NOMOS-Verlagsgesellschaft) hat er die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999 untersucht und weist zahlreiche Lücken und Einseitigkeiten in den westlichen Darstellungen nach. Dabei wirft er unter anderem der Bundesregierung Manipulation vor, durch welche der NATO-Krieg vom März 1999 gerechtfertigt wurde. Am Rande einer Veranstaltung in Frankfurt am Main sprach Bernd Guß vom Bundesausschuss Friedensratschlag mit Heinz Loquai. Das Interview erscheint in der "Friedenspolitischen Korrespondenz" Nr. 3/2000 (November).

Friedenspolitische Korrespondenz: In Ihrer Studie zeigen Sie auf, dass der Jugoslawien-Krieg die Folge einer Eskalation war, bei der die NATO und insbesondere die USA bewußt auf eine militärische Konfliktlösung zugesteuert sind. Eine alternative, zivile Konfliktlösung wäre durchaus möglich gewesen, wenn man sie gewollt und rechtzeitig entsprechende Maßnahmen eingeleitet hätte.

Heinz Loquai: Der Kosovo-Konflikt hat sich lange Zeit im Schatten der anderen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien entwickelt. Trotz unterschiedlicher Appelle hat er nur gelegentlich die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Geäußert hat sich der Konflikt durch eine seit 1989 ausgeübte Repressionspolitik der Bundesrepublik Jugoslawien und Serbiens gegen die Kosovo-Albaner und deren Versuch, diese Unterdrückung durch eine zunächst gewaltlose Strategie zu unterlaufen und faktisch immer mehr staatliche Selbständigkeit zu etablieren. Der politische Konflikt bestand darin, dass das Ziel der Albaner, die staatliche Unabhängigkeit durchzusetzen, mit dem Ziel der Bundesrepublik Jugoslawien, das Kosovo als serbische Provinz im jugoslawischen Staatsgebiet zu halten, unvereinbar war. Die gewaltsame Austragung des Konflikts, der von ethnischen, sozialen, religiösen und wirtschaftlichen Konflikten umlagert wurde, war ein Bürgerkrieg. Allerdings wurde er nicht von allen als Bürgerkrieg begriffen und beurteilt. So sah z. B. die Belgrader Führung das Problem im Kosovo nur in der Bekämpfung einer kleinen Gruppe von Terroristen und reagierte dementsprechend. Dabei versäumte es die serbische Staatsautorität, eine Perspektive und praktische, konkrete Ziele für eine friedliche Lösung des Konflikts zu entwickeln.

Auf der anderen Seite die UCK, die die Unabhängigkeit durch einen bewaffneten Kampf erreichen wollte.

Bei der UCK lassen Strategie und Taktik deutlich erkennen, dass sich deren Führung konsequent an die Prinzipien eines Bürgerkriegs gehalten hat. Nachdem sich die NATO in den Konflikt eingeschaltet, deutlich Partei gegen die Serben ergriffen und ein militärisches Drohpotential, das nur gegen die Serben gerichtet war, aufgebaut hatte, eröffnete sich für die UCK zum ersten Mal eine ganz konkrete Perspektive für einen raschen Sieg im Bürgerkrieg. Die UCK hatte damit die stärkste Militärallianz der Welt als Verbündeten; als Luftwaffe der UCK gewann schließlich die NATO den Bürgerkrieg für die UCK.

Welche weitergehenden Optionen hat die NATO dabei verfolgt?

Für die NATO selbst wurde das Kosovo immer mehr zu einer Arena, in der die Politik der NATO exemplarisch angewandt und auch getestet wurde, in der Konflikte zwischen der NATO und Russland sich offen zeigten, in der aber auch die unterschiedliche Politik einzelner NATO-Länder ihren Ausdruck fand und schließlich harmonisiert wurde. Die NATO war ja dabei, eine neue Strategie einzuführen, Einsätze außerhalb des Artikel 5 des NATO-Vertrages sollten in Zukunft ohne UN-Mandat möglich sein. Im Krieg gegen Jugoslawien setzte die NATO vorab ihre Strategie um. Bezeichnend hierzu ist, dass der amerikanische Präsident am 24. März 1999 in seiner Rede an das amerikanische Volk nicht die humanitäre Katastrophe, sondern die Glaubwürdigkeit des NATO-Bündnisses an die erste Stelle gestellt hat. Um jeden Preis sollte verhindert werden, dass die NATO - wie vorher die UN - als Papiertiger erschien.

Die NATO hat Stellung zugunsten einer Partei bezogen. Hat sie sich damit nicht als Vermittler bei Konflikten eindeutig disqualifiziert ?

Die NATO hat in diesem Konflikt einseitig Partei ergriffen und damit eine politische Lösung verhindert. Wer jedoch in einem Konflikt vermitteln will, muss das Vertrauen der Konfliktparteien haben und hier ist Voraussetzung, dass der Vermittler das Verhalten der Parteien mit gleichen Maßstäben bewertet und eventuelle Drohungen und Sanktionen gegen alle Vertragsbrüche und Gewalttäter auferlegt. Dies war im Kosovo nicht der Fall, hierzu ein Beispiel: In der Resolution 1203 des UN-Sicherheitsrats vom 24.10.1998 wird von beiden Parteien das Ende der Gewalttaten und die Befolgung früherer Resolutionen verlangt. Die Jugoslawen kamen dieser Aufforderung nach, dennoch erhielt die NATO ihre Kriegsdrohung gegen sie aufrecht. Die UCK hielt sich nicht daran. Die internationale Gemeinschaft tat kaum etwas, um sie dazu zu zwingen. Durch die Art der internationalen Reaktion konnte sich die UCK sogar in ihrer Position und ihren Handlungen bestärkt fühlen. Sie hatte es praktisch in ihrer Hand, den Krieg auszulösen.

Zur Begründung für ein militärisches Eingreifen verweist die Bundesregierung immer wieder auf die Ereignisse von Racak.

Das sogenannte Massaker von Racak hat den Fortgang des Kosovo-Konflikts erheblich beeinflusst und den Weg zum Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien geebnet. Unstrittig ist wohl - dies gibt auch die serbische Führung zu -, dass die Toten in Racak auf das Konto der serbischen Sicherheitskräfte gingen. Unklar ist nach wie vor der Ablauf des Geschehens. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der amerikanische Leiter der Kosovo-Verifikationsmission, Botschafter William Walker. Bei einer objektiven Betrachtung kommt man nicht umhin sein Verhalten als unangemessen und außerhalb aller normalen Regeln für eine Person mit diplomatischem Status zu bewerten. In Racak, am Ort des Geschehens, schien es ihm vor allem darum zu gehen, den von ihm mitgebrachten Journalisten freies Schalten und Walten zu ermöglichen. Walker machte keine Anstalten notwendigen Maßnahmen für eine kriminaltechnische Untersuchung einzuleiten, so z. B. das Gebiet abzusperren und den unerlaubten Zugang zu verhindern. Er beschuldigte aufgrund des Augenscheins und der Aussagen der Dorfbewohner die jugoslawischen Sicherheitskräfte und machte darüber hinaus falsche Angaben zu den Toten. Mit seinen vorschnellen Aussagen und Urteilen prägte er das Urteil anderer Organisationen und Regierungen, die ihrerseits seine "Feststellungen" mit fahrlässiger Leichtgläubigkeit ungeprüft übernahmen und zu einer Grundlage ihrer Politik machten. Mit seiner unbewiesenen Version von Racak zündete Walker die Lunte zum Krieg gegen Jugoslawien.

Eine andere Inszenierung war wohl der sogenannte Hufeisenplan, den der Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping präsentierte.

Scharping behauptete zweierlei. Er sagte, er habe Beweise für einen militärischen Operationsplan der serbisch-jugoslawischen Führung, der die Vertreibung aller Albaner aus dem Kosovo zum Ziel habe. Hierzu ist zu sagen: Das, was der Minister als Beweise bisher vorgelegt hat, ist in sich äußerst widersprüchlich und fragwürdig und daher auch nicht beweiskräftig. Die Offenlegung der Dokumente verweigert der Minister mit fadenscheinigen Argumenten. Außerdem behauptet Scharping, dass dieser Plan bereits seit Ende 1998 ausgeführt wurde. Hierzu ist festzustellen: Sogar die Analysen der Nachrichtenexperten des Verteidigungsministeriums widersprechen praktisch dieser Behauptung des Ministers. Nach allem, was bisher in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist, kann man schließen, dass der Hufeisenplan ein geschickt inszenierter Propagandacoup war, mit dem die aufkommende Kritik am Krieg gegen Jugoslawien erstickt wurde.

Nach der Sprachregelung der Regierung wurde mit den Verhandlungen von Rambouillet ein letzter Verusch unternommen zu einer friedlichen Lösung zu gelangen.

Mit dem Beginn der Verhandlungen über ein Interimsabkommen im Februar 1999 auf Schloss Rambouillet waren die Kosovo-Albaner endlich dort, wohin sie politisch schon immer strebten, der Kosovo-Konflikt war nun wirklich internationalisiert. Damit war für sie ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit erreicht. Die Belgrader Führung hingegen musste eine wichtige Position aufgeben, der Kosovo-Konflikt war spätestens ab diesem Zeitpunkt keine innere Angelegenheit Serbiens mehr. Bei einer genaueren Analyse der Verhandlungen und vor allem bei der Betrachtung der Verhandlungsoptionen der einzelnen Parteien wird deutlich, dass die Verhandlungen im Prinzip als eine Fortsetzung des Bürgerkrieges mit anderen Mitteln und auf einem anderen Terrain verstanden werden können.

Von Seiten der Kontaktgruppe wurden hohe Hürden für die Verhandlungen gesetzt. Hürden, die letztendlich ein Scheitern zur Folge haben mussten.

Durch die Kontaktgruppe wurden bereits vor den Verhandlungen Prinzipien aufgestellt, die als nicht verhandelbar galten. Mit der Teilnahme an den Verhandlungen galten diese Prinzipien als anerkannt. So waren z. B. wesentliche Teile des Implementierungsteils, der eine NATO-Truppe vorsah, bereits vor dem Beginn der Verhandlungen formuliert. Allerdings hatten nicht alle Verhandlungsteilnehmer einen Entwurf des Implementierungspapiers in den Händen und waren über den Inhalt nicht ausreichend informiert. Das Implementierungspapier sollte so wie es war, von den Parteien akzeptiert werden. Dies entsprach genau dem Verhandlungskonzept der Kontaktgruppe, wonach es eigentlich nur wenig zu verhandeln gab, verhandelbar war lediglich die technische Ausgestaltung der Prinzipien.

Wer waren die Gewinner und wer die Verlierer dieser Verhandlungen?

Die großen Gewinner waren die Kosovo-Albaner, insbesondere die UCK. Sie wurde zur bestimmenden Kraft im Kosovo und auch am Verhandlungstisch. Durch eine ungemein geschickte Verhand-lungsstrategie, durch flexible Taktiken und den Beistand und die Unterstützung vor allem der USA, war die UCK erfolgreich. Die UCK hat durch die Verhandlungen einen mächtigen Bündnispartner gewonnen, der durch seine Kriegsbeteiligung die militärischen Kräfteverhältnisse radikal zu ihren Gunsten verändert hat. Die Bundesrepublik Jugoslawien war objektiv gesehen der eigentliche Verlierer von Rambouillet. Letztendlich musste die serbische Führung zwischen Krieg und freiwilliger Kapitulation entscheiden.

Ein Blick nach Deutschland. Sie haben unter anderem die Debatten des Deutschen Bundestages zum Thema Kosovo analysiert. Dabei fällt auf, dass in fast allen Reden das Wort "Krieg" vermieden wurde.

Vom Verteidigungsministerium wurde die argumentative Marschroute ausgegeben, dass es sich bei den Luftschlägen der NATO nicht um Kriegshandlungen handeln würde, schließlich habe es ja keine Kriegserklärung gegeben. Wenn man dieses Argument gelten lässt, dann waren Hitlers Überfälle auf Polen und auf die Sowjetunion auch keine Kriege. Daran zeigt sich die ganze Fragwürdigkeit dieses Arguments. Wenn jedoch allgemeine und militärwissenschaftliche Literatur herangezogen wird und die dortigen Definitionen betrachtet werden, so kann überhaupt nicht bestritten werden, dass die NATO als internationale Organisation und einzelne NATO-Staaten gegen die Bundesrepublik Jugoslawien einen Krieg geplant, begonnen und geführt haben.

Wurde nicht gerade in der BRD einseitig Partei gegen die Serben ergriffen?

Auffällig ist, dass die meisten Redner die alleinige oder hauptsächliche Schuld für die Krise auf jugoslawischer Seite sahen. Neben dieser einseitigen Schuldzuweisung ist eine extreme Personalisierung in Gestalt des jugoslawischen Präsidenten Milosevic zu beobachten. Nach offizieller Sprachregelung sollte mit dem Militäreinsatz eine humanitäre Katastrophe abgewendet werden. Dies stellte zwar eine Legitimierungsgrundlage für den Einsatz deutscher Streitkräfte dar, doch im Kern ging es um ein anderes Kriegsziel, u. a. auch um die Herbeiführung eines Machtwechsels in Jugoslawien und die Bestrafung eines Übeltäters, des jugoslawischen Präsidenten Milosevic. Dahingehend äußerte sich auch der damalige Außenministers in spe, Joseph Fischer, am 16. Oktober 1998, als in der denkwürdigen Sondersitzung des Deutschen Bundestages über den Zweck der geplanten Luftangriffe debattiert wurde.

In ihren Äußerungen weisen Sie immer wieder auf Defizite in der Informationspolitik hin und wie im Bundestag damit umgegangen wurde.

Insgesamt muss festgehalten werden, dass die Information des Bundestages durch die Bundesregierung unzureichend gewesen ist. Information ist jedoch die Grundlage für alle Funktionen des Bundestages. Die Information der Parlamentarier war unpräzise, lückenhaft, ja sogar objektiv falsch. Insbesondere Scharping hat das Parlament über die tatsächliche Lage im Kosovo falsch informiert. Im Grunde genommen konnte das Parlament gar nicht wirklich beurteilen, ob sich eine humanitäre Katastrophe anbahnte, die es abzuwenden galt. Für eine sachgerechte Entscheidung über Krieg und Frieden fehlten ebenso zutreffende Informationen wie für die Ausübung einer Kontrollfunktion. Genauso wie der Großteil der Medien hat das Parlament regierungsamtliche Positionen völlig unkritisch übernommen. Wenn man sich darüber hinaus den Umgang mit Kritikern anschaut, dann muss der Regierung undemokratisches Verhalten attestiert werden. Demokratie zeigt sich im Umgang mit Andersdenkenden, mit den Kritikern, mit der Opposition. Und hier haben Regierungsvertreter versagt.

Sie selbst sind schließlich durch Ihre Kritik zu einem "Opfer" geworden. Ihre Karriere bei der OSZE wurde durch das Bundesverteidigungsministerium beendet.

Als "Opfer" möchte ich mich nicht bezeichnen lassen. Man hat gegen mich einen kleinkarierten Racheakt verübt. Doch zu den Fakten. Scharping hatte ja diejenigen, die seine Version des Hufeisenplans anzweifelten, als naiv, ahnungslos, dumm und böswillig bezeichnet. Auch ich fühlte mich von diesen Anwürfen betroffen. Deshalb legte ich in einem Fernseh-Interview dar, was mir in einem offiziellen Gespräch die Experten des Ministers über den angeblichen Hufeisenplan gesagt hatten. Dies stand in krassem Gegensatz zu dem, was Scharping vor der Öffentlichkeit und im Parlament behauptet hatte. Die Reaktion hierauf war bezeichnend. In Berlin, Bonn und Wien wurde eine üble Posse gegen mich inszeniert, und ich musste meine Tätigkeit bei der OSZE auf Betreiben des Verteidigungsministeriums aufgeben, obwohl das Auswärtige Amt und die OSZE mich dortbehalten wollten. Es war schon ein absurdes Theater: Weil ich die Wahrheit gesagt hatte, wurde ich abgestraft.

Herr Loquai, wir danken vielmals für das Gespräch.

Heinz Loquai gehört zu den Referenten des 7. Friedenspolitischen Ratschlags am 2. und 3. Dezember 2000. Er spricht am Sonntagvormittag (9 Uhr) im Plenum über das Thema "Kriege vermeiden - Friedenschancen nutzen - Friedensbedingungen verbessern".

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