Chefanklägerin Carla del Ponte erweitert Kreis der Angeklagten
Auch die NATO-Regierungen sollen vor Tribunal gestellt werden
Wenige Stunden nach der Verhaftung des ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Milosevic in Belgrad erließ die Chefanklägerin des Kriegsverbrecher-Tribunals in Den Haag, die Schweizer Richterin Carla del Ponte, einen internationalen Haftbefehl gegen die am Kosovo-Krieg beteiligten Staats- und Regierungschefs. Trotz des "enormen Drucks aus Washington, London und Berlin" habe sie nie "einseitig" gegen Milosevic und andere serbische mutmaßliche Kriegsverbrecher ermittelt, sondern sie sei allen Hinweisen auf etwaige Verstöße gegen das Völkerrecht sowie gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht nachgegangen. Um unnötige "Unruhe" in der internationalen Staatengemeinschaft zu vermeiden, habe sie das aber nicht "an die große Glocke gehängt". In einer Pressemitteilung, die am Sonntagnachmittag, dem 1. April 2001 ausgesendet wurde, heißt es weiter, "äußerst hilfreich" seien beispielsweise die inoffiziellen Tribunale der Friedensbewegung im vergangenen Juni in Berlin und New York sowie eine detaillierte Klageschrift von amnesty international, ebenfalls vom Juni letzten Jahres, gewesen. Ihre Behörde könne "nicht länger die Augen davor verschließen, dass der NATO-Krieg gegen den souveränen Staat Jugoslawien ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg" gewesen sei.
Die Ankündigung aus Den Haag muss als politische Sensation gewertet werden. Lange Zeit wurde dem Haager Tribunal und insbesondere seiner derzeitigen Chefanklägerin vorgeworfen, sich vor den Karren der NATO spannen zu lassen und die Ermittlungen einseitig in Richtung serbische Kriegsverbrecher voran zu treiben. Noch im vergangenen Jahr lehnte Carla del Ponte, offenbar auf Geheiß von US-Präsident Clinton, jede Strafverfolgung von NATO-Politikern strikt ab. Damals habe sie keinerlei Anhaltspunkte dafür gesehen, dass bei den einschlägig bekannten NATO-Luftangriffen auf zivile Einrichtungen Jugoslawiens (es ging z.B. um den Fernsehsender in Belgrad, um den Angriff auf einen Flüchtlingstreck und um den Angriff auf einen Personenzug) gegen die Genfer Konvention von 1949 einschließlich der Zusatzprotokolle verstoßen worden sei.
Die Bundesregierung in Berlin war bislang nicht bereit eine offizielle Stellungnahme abzugeben. Gerüchte aus der Hauptstadt, wonach Verteidigungsminister Scharping und Außenminister Fischer mit zunächst unbekanntem Ziel verreist seien, haben sich weder verdichtet, noch konnten sie widerlegt werden. Aus Washington verlautete indessen, Präsident Bush sehe einer Anklage gelassen entgegen, da sie ja nur seinen Amtsvorgänger betreffe. Der solle nun selber sehen, "wie er damit fertig" werde.
Quelle: Verschiedene Nachrichtenagenturen, pax-fax, alle vom 1. April 2001