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amnnesty international klagt die NATO an

Völkerrechtswidrige Kampfführung

Avner Gidron und Claudio Cordone, beide für amnesty international in London tätig, veröffentlichten am 14. Juli 2000 in der taz-Beilage Le monde diplomatique einen Artikel, in dem sie belegen, dass nicht nur der Angriff der NATO auf den jugoslawischen Fernsehsender in Belgrad im April 1999 völkerrechtswidrig war. Die beiden Autoren beziehen sich in ihrer Analyse auf einen Bericht von ai vom Juni 2000, in dem schwere Vorwürfe gegen die NATO wegen des Jugoslawienkriegs erhoben wurden. Dabei geht es ai allerdings nicht um die Frage, ob der NATO-Krieg gerechtfertigt war oder nicht - hierzu gibt es keine Stellungnahme von ai -, sondern darum, ob die NATO gegen die Regeln der "humanitären Völkerrechts", also des Kriegsvölkerrechts verstoßen habe. Dabei stützt sich ai "auf dieselben Kriterien .. wie bei ihren früheren Beobachtungen (etwa der jugoslawischen Streitkräfte im Kosovo oder anderer Krieg führender Parteien in aller Welt). Der von der Nato vielfach wiederholte Anspruch, an dem eigenen humanitären Auftrag gemessen zu werden, lässt sich auch als ein Plädoyer verstehen, man möge sie nach laxeren Kriterien beurteilen als die Bundesrepublik Jugoslawien. Keine überparteiische Organisation aber kann mit zweierlei Maß messen."

ai untersucht verschiedene Aspekte der Bombardierungen, unter anderem werden neun Angriffe unter die Lupe genommen, bei denen Zivilpersonen ums Leben kamen. Der Bericht trägt den Titel: "Collateral Damage" or Unlawful Killings? Violations of the Laws of War by NATO during Operation Allied Force (London, Juni 2000). Aus den aufbereiteten Fakten, die u.a. auf den offiziellen NATO-Erklärungen sowie auf Befragungen hochrangiger NATO-Vertreter in Brüssel im Februar 2000 beruhen, geht nach Meinung von ai "eindeutig" hervor, dass bei der Wahl der Angriffsziele und der Kampfmethoden nicht immer die gesetzlichen Verpflichtungen eingehalten worden seien.

Beispielsweise wurde festgestellt, dass die NATO ihre Bombardierung nicht eingestellt habe, obwohl offensichtlich Zivilpersonen getroffen worden seien. Dies sei etwa bei dem Angriff auf die Brücke von Grdelica der Fall gewesen. In einem anderen Fall wurde festgestellt, dass die "getroffenen Vorkehrungen nicht ausreichten, um die Opfer unter Zivilisten auf ein Mindestmaß zu reduzieren", so bei den Angriffen auf die Vertriebenen in Djakovica und Korisa. Hätten sich die NATO-Streitkräfte an das geltende Kriegsrecht gehalten, so schlussfolgert die Untersuchung, hätte es deutlich weniger zivile Opfer gegeben.

Probleme habe es auch deshalb gegeben, weil sich die einzelnen NATO-Staaten teilweise an unterschiedliche Normen des Kriegsvölkerrechts gebunden fühlten. Beispielsweise hätten nicht alle Nato-Mitglieder dieselben Verträge unterzeichnet. "Die USA, deren Flugzeugen 80 Prozent aller Luftangriffe bestritten, haben das I. Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen von 1949 nicht ratifiziert, ebenso wenig wie Frankreich und die Türkei." Wenn deshalb NATO-Sprecher Jamie Shea während der Dauer des Krieges immer wieder betonte, "die Regeln der Kriegführung seien niemals zuvor so strikt eingehalten worden", so bezog sich dabei nie explizit auf das I. Zusatzprotokoll.

Im Weiteren geht der Artikel von Gidron und Cordone auf die Zielauswahl der NATO ein. Die NATO hatte behauptet, ein Ziel nidann nicht bombardieren zu wollen, wenn unter den NATO-Mitgliedern keine Einigung herrschte, d.h. wenn z.B. ein Angriffsziel von einem Land als "illegal" bezeichnet wurde. Mindestens in einem Fall, dem Angriff auf die serbische Radio- und Fernsehanstalt, hielt man allerdings offenbar an der Operation fest, obwohl sich die NATO-Länder über ihre Rechtmäßigkeit uneinig waren, stellte ai fest. So konnte der französische Außenminister Hubert Védrine erklären (BBC, 12. März 2000): "Alle Länder des Atlantischen Bündnisses haben im Rahmen der Nato gehandelt. Es gab eine Koordination und eine Diskussion über die Angriffsziele. Doch die USA haben darüber hinaus eine amerikanische Aktion durchgeführt. Dabei setzten sie nationale Gelder ein; die Entscheidungen kamen, wie die Kommandos, direkt aus den USA. Den europäischen Verbündeten waren diese zusätzlichen Einsätze nicht bekannt."

"Kollateralschäden"

Zweifel sind auch angebracht, ob die NATO wirklich, wie sie stets beteuert hat, "alle nur denkbaren Anstrengungen" unternommen habe, "um Kollateralschäden zu vermeiden" und ob die Piloten tatsächlich unter Einhaltung "strikter Regeln der Kampfführung" operierten. Auf Nachfragen von ai habe die NATO mitgeteilt, dass jeder Mitgliedsstaat selbst zu entscheiden hatte, welche der von der NATO vorgeschlagenen "Einsatzregeln" für die eigenen Truppen Gültigkeit hatten. Die Zweifel konnten auch deshalb nicht ausgeräumt werden, weil die Piloten angewiesen waren, eine Höhe von 5.000 Metern nicht zu unterschreiten. Gidron und Cordone schreiben dazu: "Wie Nato-Vertreter versicherten, kann eine in 5.000 Meter Höhe fliegende Besatzung nur feststellen, ob das anvisierte Objekt dem ausgewählten Angriffsziel entspricht. Dagegen ließen sich etwaige Bewegungen von Zivilpersonen in der Umgebung des Zieles nicht wahrnehmen. Diese Regel machte es den Besatzungen also faktisch unmöglich, gemäß ihrem Auftrag einen Angriff dann auszusetzen, wenn das Ziel durch veränderte Bedingungen am Boden kein legitimes mehr ist."

Immerhin seien die Kampfregeln nach einigen Vorfällen (z.B. nach der Bombardierung eines Konvois von Zivilisten in Djakovica) dahingehend geändert worden, "dass sich die Piloten visuell davon zu überzeugen hatten, dass sich in der Umgebung des Zieles keine Zivilpersonen aufhielten." Später wurde beschlossen, auf Angriffe auf Bestimmte Ziele , z.B. Brücken, dann zu verzichten, wenn sich in ihrer Umgebung viele Zivilisten befänden. Mit anderen Worten: Die NATO selbst hat mit solchen Korrekturen eingestanden, dass ihre Art der Kriegführung in unzulässiger Weise Opfer unter der Zivilbevölkerung heraufbeschworen hat. Um also "sicherzustellen, dass die Regeln der Kampfführung nicht gegen das Kriegsrecht verstießen", so resümiert der ai-Artikel, hätte man solche Korrekturen oder "Vorkehrungen" "schon zu Beginn der Luftangriffe beschließen müssen."

Ein weiterer Vorwurf von ai bezieht sich darauf, dass die Vorschrift des I. Zusatzprotokolls der Genfer Konvention nicht eingehalten wurde, "wonach Angriffen, durch welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden kann, eine wirksame Warnung vorausgehen muss". Dies geschh deshalb nicht, um "die Sicherheit der Piloten nicht aufs Spiel (zu) setzen". So konnten die regelmäßig im nachhinein bedauerten "Irrtümer" gar nicht ausbleiben. Der NATO unterliefen mehrere solcher Irrtümer und Planungsfehler mit tödlichen Folgen. Beispiele sind der Angriff auf die kosovoalbanischen Flüchtlinge in Korisa und der Angriff auf die chinesische Botschaft in Belgrad.

ai hatt die NATO aufgefordert mehrere solcher Vorfälle genauer zu untersuchen. Die Antwort aus dem NATO-Hauptquartier darauf ist entlarvend. Darin hieß es z.B., man habe bereits interne Untersuchungen angestellt, halte es aber nicht für "nützlich", die Ergebnisse oder Details über die beteiligten Streitkräfte zu veröffentlichen. Straf- oder Disziplinarmaßnahmen gegen die an den beanstandeten Angriffen beteiligten Personen seien nicht ergriffen worden. Demgegenüber gab der CIA im April 2000 bekannt, dass er gegen mehrere Mitarbeiter wegen ihrer Rolle bei der Fehlidentifizierung der chinesischen Botschaft disziplinarische Maßnahmen ergriffen habe. Sind die anderen Vorfälle nicht untersuchungswürdig, weil es sich um weniger wichtige Zivilisten gehandelt hat? Oder wird der Angriff auf die chinesische Botschft nur deswegen untersucht, um den diplomatischen Ärger mit Peking einzudämmen?

Infolgedessen kritisiert ai schließlich auch die Entscheidung der Chefanklägerin des Internationalen Tribunals für Verbrechen im früheren Jugoslawien, Carla del Ponte, kein Strafverfahren gegen die Nato einzuleiten. Dies sei deswegen zu kritisieren, weil, wie der Bericht Del Pntes selbst einräumte, die Nato auf "spezifische Fragen im Zusammenhang mit spezifischen Vorfällen" nur eine "sehr allgemeine Antwort ohne Bezugnahme auf die spezifischen Vorfälle" gegeben habe. Außerdem habe das Gericht nicht mit den Personen gesprochen, die an der Leitung oder Durchführung der Bombardierungen beteiligt gewesen waren.
Stru-16-07-00

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