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Festung Europa wird ausgebaut

EU-Staaten wollen angeblich Menschenleben retten – und dazu Fluchtrouten schließen

Von Christian Selz *

Unter dem Deckmantel der Seenotrettung haben die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer am Donnerstag abend ein härteres Vorgehen gegen Flüchtlinge beschlossen. Europa werde »alle seine zur Verfügung stehenden Mittel mobilisieren, um einen weiteren Verlust an Leben auf See zu verhindern«, hieß es in der Erklärung des Sondergipfels in Brüssel. Dazu sollen vor allem die finanziellen Mittel für die Grenzüberwachungseinsätze »Triton« vor Italien und »Poseidon« vor Griechenland »für 2015 und 2016 mindestens verdreifacht« werden. Mehrere Staaten kündigten die Entsendung weiterer Marineschiffe ins Mittelmeer an, Deutschland will eine Fregatte und ein Versorgungsschiff bereitstellen. Das Einsatzgebiet soll jedoch nicht bis vor die libysche Küste ausgedehnt werden.

Ihren Fokus legen die EU-Staatenlenker weiter auf die Abwehr von Flüchtlingen. Dazu sollen »Schleusernetze zerstört«, »Menschenschmuggler« der Justiz überstellt und ihre Vermögen beschlagnahmt werden. Die Mitgliedsländer wollen der Erklärung zufolge »systematische Anstrengungen« unternehmen, Flüchtlingsboote noch vor ihrem Gebrauch »zu identifizieren, aufzubringen und zu zerstören«. Die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini soll »eine mögliche Operation« im Rahmen der »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« vorbereiten. Frankreich will für die Militärmission ein Mandat des UN-Sicherheitsrats beantragen. Die EU-Staaten wollen zudem die Fluchtrouten auf dem afrikanischen Kontinent unterbrechen und dazu mit Tunesien, Ägypten, Mali, Niger und Sudan kooperieren. Auch die Zusammenarbeit mit der Türkei soll »mit Blick auf die Lage in Syrien und im Irak« verstärkt werden.

Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl sprach in einer Pressemitteilung am Freitag von einem »EU-Gipfel der Schande«. Statt auf Seenotrettung setze die EU weiter auf Abwehr und Abschottung und ziehe einen »weiteren Wall um die Festung Europa«. Die Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« kritisierte, dass zwar »in großem Umfang Finanzmittel« für den »Krieg« gegen »Schlepper« bereitgestellt würden, nicht aber zur »Rettung von Menschenleben«.

* Aus: junge Welt, Samstag, 25. April 2015


Mord statt Hilfe

Krieg gegen Flüchtlinge

Von Christian Selz **


Angela Merkel ist eine zynische Lügnerin. »An allererster Stelle geht es darum, Menschenleben zu retten«, sagte sie vor dem EU-Sondergipfel am Donnerstag in Brüssel. Das sollte menschlich klingen, nach Anteilnahme, nach sozialen und christlichen Werten. Doch die Direktiven, Beschlüsse und Forderungen, die Merkel als deutsche Regierungschefin in Berlin und Brüssel mitgetragen hat und weiterhin mitträgt, verraten sie.

Von Merkel ist keine Initiative gegen die Direktive 2001/51/EC des Europäischen Rates bekannt, mit der die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten – Deutschland wurde damals noch von Gerhard Schröder vertreten – bereits im Jahr 2001 den Fluggesellschaften aufzwangen, mit ihnen »illegale Migration zu bekämpfen«. Der sichere – und kostengünstigere – Luftweg ist für Flüchtlinge seitdem versperrt. Auch als die Landgrenzen der Europäischen Union verbarrikadiert wurden, zuletzt im Februar mit tatkräftiger Unterstützung der deutschen Bundespolizei zwischen Ungarn und Serbien, dachte Merkel nicht ans Retten. Asylsuchende direkt in den deutschen Botschaften in ihren Herkunftsländern mit den nötigen Papieren auszustatten, ist ihr bis heute offensichtlich ebenfalls nicht in den Sinn gekommen. Statt dessen steht nun ein Militäreinsatz gegen »brutale Schlepper« bevor.

Doch nicht »Menschenhändler« und »Schleuser« treiben Flüchtlinge in maroden Fischerbooten aufs Meer, sondern die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten. Und sie tun das nicht aus Hilflosigkeit, sondern aus kaltem Kalkül: Sie folgen der kapitalistischen Verwertungslogik, die nur ein »nützlich« kennt, aber kein »menschlich«. Die Flüchtlinge, die sich ein sicheres Leben erarbeiten wollen – ganz egal, ob sie nun vor der kriegerischen oder marktwirtschaftlichen Zerstörung ihrer Heimat fliehen –, sind kein Problem. Der Fehler liegt im System, in der Weigerung, Arbeitserlaubnisse auszustellen, und im gehegten Mythos, Arbeitsplätze seien ein begrenztes Gut. Doch wenn eine Zuwanderung von möglichen Arbeitskräften einen Staat belastet, dann läuft etwas grundlegend verkehrt. Die Flüchtlinge sind nur das Symptom einer absurden Weltordnung, die Diagnose lautet Kapitalismus. Dessen Schutz jedoch steht für Merkel und Co in Wahrheit »an allererster Stelle«.

Wer als Reaktion auf tausendfaches Ertrinken zur vorgeblichen »Seenotrettung« eine Grenzschutzbehörde wie Frontex ausbaut, will Grenzen schützen und nicht Menschen. Frontex beschäftigt keine Helfer, sondern Flüchtlingsjäger. Und wer, wie die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten, Kriegsschiffe entsenden will, um diesen Flüchtlingen mit militärischer Gewalt auch noch den letzten Weg zu versperren, wer Boote versenken will, der will Menschen nicht retten, sondern nimmt ihren Tod in Kauf. Die deutsche Regierungschefin und ihre Kollegen in Brüssel sind keine Retter. In diesem Sinne sind sie Mörder.

** Aus: junge Welt, Samstag, 25. April 2015 (Kommentar)


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